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Schopenhauer. 10 страница

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i283 ihrer Wirksamkeit ausgelöscht; aber das Feuer war nicht mehr zu dämpfen, es glimmte, anscheinend zertreten, fort und schlug endlich als helle Lohe empor, als Luther seine Thesen gegen Rom in Wittenberg veröffentlichte (31. October 1517).

Begünstigt durch die politische Stellung der Fürsten Deutschlands zu einander, zerhieb er die Form des Papstthums, befreite einen großen Theil Derjenigen, welchen schon längst die starren Wände das quellende Leben zur Qual gemacht hatten, und setzte neben die zerbrochene Form eine andere, welche den Geistern einen großen Spielraum gewährte.

Die Reformation bewirkte zwei große Umgestaltungen. Einmal gab sie dem geistigen Leben einen gesunden Boden und löste die Wissenschaft von der Religion ab; dann verinnerlichte sie das Gemüth, indem sie den Glauben zu neuer Gluth anfachte und den Blick wieder auf ein höheres besseres Leben als das irdische richtete.

Ein Frühlingswehen ging durch die Culturwelt. Kurz vorher hatten die Türken das byzantinische Reich zerstört und viele gelehrten Griechen waren nach dem Abendland geflohen, wo sie die Begeisterung für antike Bildung erweckten. Es fand eine neue Befruchtung der Geister statt; man vertiefte sich in die Werke der Alten und pfropfte das edle griechische Reis auf den kräftigen germanischen Stamm: das classische Alterthum vermählte sich mit dem gemüthstiefen Mittelalter. So schloß sich an die neue Religion eine neue Kunst und eine neue selbständige Wissenschaft, welche auf den vielen gegründeten Universitäten einen geschützten, günstigen Boden fand.

Die geistige Bewegung wuchs mit jedem Tage, beschleunigt durch die erfundene Buchdruckerkunst. Die Philosophie nahm eine ganz andere Richtung. Hatte man sich seither nur in metaphysischen Grübeleien nutzlos gemartert, so fing man jetzt an zu untersuchen, wie der Geist zu allen diesen wunderbaren Begriffen gekommen sei. Es war der einzig richtige Weg. Man zweifelte an Allem, verließ den»uferlosen Ocean«und stellte sich auf den sichern Boden der Erfahrung und Natur. Besonders waren die Engländer in dieser Richtung thätig und sind hier Baco, Locke, Berkeley, Hume, Hobbes zu nennen.

Auf dem Felde der reinen Naturwissenschaft brachten die großen Männer: Copernicus, Kepler, Galilei und Newton die bekannten großen Revolutionen hervor.

i284 Es entstand ferner eine neue Kunst. Der Renaissancestil führte in die Baukunst frisches wogendes Leben ein, und überall, namentlich in Italien, entstanden die prachtvollsten Kirchen und Paläste. – Die Skulptur trieb eine herrliche Nachblüthe unter dem Einflusse der an das Licht des Tages wieder getretenen antiken Meisterwerke, und die Malerei erreichte zum ersten Male die lichte Höhe der Vollendung (Lionardo da Vinci, Michel Angelo, Raphael, Tizian, Correggio).

Wie die Malerei, schwang sich auch die realistische Poesie auf die höchste Stufe (Shakespeare), und machtvoll, wie nie zuvor, trat die Musik in die Erscheinung: fortan eine wahre Großmacht für das Gemüth (Bach, Händel, Haydn, Gluck, Mozart, Beethoven).

Unter der Einwirkung der großen Summe dieser neuen Motive gestaltete sich das Geistesleben im Bürgerthum immer freier und tiefer und das Leben des Dämons immer edler. Die Entwicklung des Geistes schwächt den Willen direkt, weil der Geist nur auf Kosten des Willens sich stärken kann (Veränderung der Bewegungsfaktoren). Sie schwächt ihn aber noch mehr indirekt durch vermehrtes Leiden (Erhöhung der Sensibilität und Irritabilität: Leidenschaftlichkeit) und durch die in dem häufiger wiederkehrenden Zustand reiner Contemplation geborene Sehnsucht nach Ruhe.

Auch offenbarte sich jetzt immer deutlicher der Entwicklungsgang der Menschheit. Hervorragende Köpfe sahen, alle Bewegungen verfolgend, ein ideales Ziel: den Rechtsstaat und ein vollkommeneres Völkerrecht, und stellten sich, aufglühend in moralischer Begeisterung, in die Bewegung, diese beschleunigend.

 

33.

Dem Protestantismus gegenüber sammelte sich die katholische Kirche und machte ungeheuere Anstrengungen, um das Schisma zu überwinden (Entstehung des Jesuitenordens; Religionskriege). Aber es gelang ihr nicht, obgleich die Gegner in sich zerfallen waren (Reformirte, Lutheraner etc.). Die blutigsten, verheerendsten Kämpfe hatten nur die Folge, daß in einigen Ländern, wie Frankreich, Oesterreich, Ungarn, die neue Lehre ausgerottet wurde.

Die Reibung auf geistigem Gebiete war eine große und die Bewegung in den Staaten wurde immer frischer und lebendiger. Alle Früchte der neuen Zeit fielen dem Bürgerthum in den Schooß, |

i285 dem Alle angehörten, welche durch Reichthum, Herzens- und Geistesbildung hervorragten. Und dieser dritte Stand war so gut wie politisch rechtlos im Staate, da Adel und Geistlichkeit fest zusammenhielten, um sich ihre Privilegien zu sichern. Diese Lage der Dinge war unhaltbar. Zuerst errang sich das Bürgerthum in den Niederlanden und England größere Freiheit und einen bestimmenden Einfluß auf die Leitung des Staates. Dann ergriff die Bewegung die Bürger Frankreichs. Die tüchtigsten und geistreichsten Männer, wie Voltaire, Montesquieu, Rousseau, Helvetius, griffen das Bestehende auf allen Gebieten schonungslos an. Der dritte Stand machte seine Sache zur Sache der ganzen Menschheit; der Same des Christenthums:»Alle Menschen sind Brüder«hatte sich machtvoll entwickelt, und alles Leben im Staate drängte mit zwingender Gewalt nach dem einen Punkte: volle rechtliche Anerkennung des dritten Standes.

 

34.

Nun war die Zeit gekommen, wo das Gesetz der Verschmelzung im Innern, durch Einreißung der politischen Standesunterschiede, wieder in Thätigkeit treten konnte, und der Sturm, verstärkt durch die freie Luft, welche von dem glorreich errichteten amerikanischen Bundesstaat über das Meer herüberwehte, brach mit einem Male los. Er fegte alle Lasten des Feudalstaates: Leibeigenschaft, Naturaldienst, Naturalleistung, Kirchenzehnt, Zunftzwang, Niederlassungsbeschränkung u.s.w. fort. An dem unvergeßlichen 4. August 1789 wurden alle diese Fesseln vom Volke abgestreift und die Menschenrechte erklärt. Später wurden die Kirchengüter und die Güter aller derjenigen Adeligen, welche sich der neuen Ordnung der Dinge nicht fügen wollten, eingezogen und ein freier Bauernstand begründet. Ihm zur Seite stand der freie Arbeiterstand.

 

35.

Die Errungenschaften der großen Revolution konnten in Frankreich nicht eingeschlossen bleiben; denn die Civilisation hat die ganze Menschheit im Auge, und reiner als jemals hatte sich dies gerade in der französischen Revolution offenbart. Die Gelegenheitsursache der Verbreitung war der Kriegszug vieler Fürsten, welche die Folgen der Revolution fürchteten und sie zu ersticken versuchten. Der wirkliche Verbreiter der neuen Einrichtungen war Napoleon. Er trug |

i286 das heilige Feuer auf der Spitze seines Degens durch ein Meer von Blut in die meisten Länder Europa’s. Und wieder wälzten sich die Völker durcheinander, aber diesmal schwebte in hellerer Gestalt der Genius der Menschheit über dem ungeheuren Wirrwarr.

Die allgemeine Umrüttelung bezweckte indessen vorerst nur die Auflockerung der Erde und die Einsaat. Der Same ging im Frieden auf, und allmählich wurden dem Volke aller Culturstaaten die Fesseln des Feudalstaates abgenommen.

 

36.

Während diese Umgestaltungen auf politischem und ökonomischem Gebiete sich verbreiteten, vollzog ein deutscher Mann, Kant, die größte Revolution auf geistigem Gebiete. Seine unsterbliche That, die Abfassung der Kritik der reinen Vernunft (vollendet am 29. März 1781), war größer und folgenreicher als die That Luther’s. Er verwies den forschenden Geist ein- für allemal auf den Boden der Erfahrung; er beendigte in der That für alle Einsichtigen den Kampf der Menschen mit Spukgestalten in, über oder hinter der Welt, und zertrümmerte die Reste aller Naturreligionen, die die Furcht erzeugt hat.

Erst durch Kant wurde die Revolution eine vollständige. Auf ökonomischem Gebiet war die Freiheit der Arbeit, auf politischem die persönliche, bürgerliche und politische Freiheit Aller, auf geistigem die Unabhängigkeit von allem Aberglauben und Glauben entstanden. Für die Einsichtigen war auch die letzte Form einer Kirche zerschlagen und die Grundlage des Tempels der echten reinen Wissenschaft errichtet worden, in den einst die ganze Menschheit eintreten wird.

 

37.

Die französische Revolution und die Napoleon’schen Kriege, mit ihrem Jammer auf der einen, ihren Errungenschaften auf der anderen Seite, gehören zu den geschichtlichen Ereignissen, wo vorübergehend die Grundbewegung der menschlichen Gattung, aus dem Leben in den absoluten Tod, sich offenbart, wo der Genius der Menschheit gleichsam sein Antlitz, mit den ernsten geheimnißvollen Augen, entschleiert und die Verheißung tröstend ausspricht:

i287 Durch ein rothes Meer des Blutes und des Krieges waten wir dem gelobten Land entgegen und unsere Wüste ist lang.

(Jean Paul.)

Nach der gewaltigen Action trat nothwendigerweise eine Reaction ein, die den Zustand der Abspannung, in dem sich Alle befanden, benutzte, um die gewonnenen Freiheiten zu beschneiden. Ganz vernichtet konnten sie nicht werden; denn die Bourgeoisie war zu mächtig. Sie bot außerdem selbst die Hand zur Zurückführung der Zugeständnisse auf ein Maß, das in ihrem Interesse lag. Sie hatte nur vorübergehend ihre Sache zu der der Menschheit gemacht; nun, im Frieden, führte sie die Scheidung aus und schloß das niedere Volk vollständig von der Regierung ab.

In den meisten Ländern wurde, nach dem Vorbilde Englands, die constitutionelle Monarchie eingeführt, wonach die Macht im Staate unter Bürgerthum, Adel und Geistlichkeit und den Fürsten vertheilt wurde. Die zweite Kammer, welche das Volk repräsentiren sollte, vertrat nur einen kleinen Theil desselben, nämlich das reiche Bürgerthum, denn ein strenger Census wurde eingeführt, der den armen Mann wieder politisch rechtlos machte.

Auf ökonomischem Felde war allerdings der Arbeiter und seine Kraft frei, aber der Ertrag der Arbeit war ein beschränkter, und dadurch wurde der Arbeiter wieder faktisch unfrei. An die Stelle des Herrn in irgend einer Form, für welchen man, gegen Deckung der Lebensbedürfnisse, arbeitete, war das Capital getreten, der kälteste und schrecklichste aller Tyrannen. Die rechtlich frei erklärten Leibeigenen, Hörigen und Gesellen waren thatsächlich mittellos und mußten, trotz ihrer Freiheit, wieder in das Verhältniß des Sklaven zum Herrn treten, um nicht zu verhungern. Mehr erhielten sie nicht. Jeder Ueberschuß, den die Arbeit des Arbeiters über diesen Lohn hinaus abwirft, fließt in der Regel in die Tasche weniger Einzelnen, die ungeheuere Reichthümer, wie die antiken Sklavenhalter, aufhäufen. Nur besteht im neuen Verhältniß der Mißstand, daß der moderne Sklave, in Handelskrisen, vom Unternehmer ohne Erbarmen seinem Schicksal überlassen und in die Qualen des Hungers und Elends gestoßen wird, während der antike Sklavenhalter seinen Sklaven, in Zeiten der Theuerung und Noth durch Mißernte, nach wie vor zu erhalten hatte. Die Züchtigung, welche den Arbeitgebern eben in |

i288 solchen Krisen für ihre Herzlosigkeit und, im Ganzen genommen, auch Bornirtheit zu Theil wird, sowie der Umstand, daß die Arbeiter in guten Zeiten sich vorübergehend einen höheren Lohn erringen, ändert das schreckliche Grundverhältniß nicht ab.

In diesem Zustande zeigt sich das große Civilisationsgesetz des socialen Elends.»Durch Trübsal wird das Herz gebessert.«Das sociale Elend zermürbt den Willen immer mehr, glüht ihn aus, schmelzt ihn, macht ihn weicher und bildsamer und bereitet ihn vor, empfänglich für diejenigen Motive zu werden, welche eine aufgeklärte Wissenschaft ihm bieten wird.

Ferner wirkt das sociale Elend weckend und verschärfend auf die Geisteskräfte: es erhöht die geistige Kraft. Man blicke nur auf die Landleute und auf die Bewohner großer Städte. Der Unterschied im Körperbau ist, da der Körper nichts Anderes ist, als das durch die subjektiven Formen gegangene Ding an sich, in der Idee begründet. Der Proletarier zeigt sich als ein schwächliches Individuum mit einem verhältnißmäßig großen Gehirn, welche Erscheinung die verkörperte Wirkung des Hauptgesetzes der Politik ist. Der Proletarier ist ein Produkt der immer wachsenden Reibung im Staate, die erst für die Erlösung vorbereitet, dann erlöst. Während die Genußsucht die höheren Classen schwächt, schwächt die niederen das Elend, und alle Individuen werden dadurch befähigt, ihr Glück ganz wo anders zu suchen, als in diesem Leben und seinen leeren, aufgeblasenen, armseligen Reizen.

Daß die größere Intelligenz viele Proletarier zu Verbrechern macht, indem in ihrem lebhafteren Geiste der Wille, durch vernachlässigte Erziehung und mangelhafte Bildung, für Motive erglüht, die er sonst nicht sehen, oder verabscheuen würde, belegt nur das Gesetz der Reibung. Die nothwendige Verirrung erweckt auf der anderen Seite die Menschenliebe und das Bestreben, die Niederen auf eine höhere Stufe der Erkenntniß zu heben. Klagen über die zunehmende Verworfenheit kann nur ein Phantast; der Edle wird helfen. Denn man muß den Grund des Uebels nicht erst suchen; er liegt offen zu Tage und verlangt bloß kräftige Hände, um ihn unschädlich zu machen.

Das Gesetz des socialen Elends und das Gesetz des Luxus (unter welches man eine Hauptbewegung der höheren Classen stellen kann), sind der Ausdruck für die Schäden der ganzen |

i289 Gesellschaft, ihrer unvernünftigen Productions- und Lebensweise. Man kann auch beide, von einem besonderen Standpunkte aus, das Gesetz der Nervosität nennen. Die nach anderen großen Civilisationsgesetzen constant zunehmende Sensibilität wird nach diesem Gesetze künstlich gereizt, oder mit anderen Worten: einer der Bewegungsfactoren wird in eine intensivere Thätigkeit versetzt, und die ganze Bewegung des Individuums wird dadurch eine andere, eine wesentlich intensivere und raschere. Hierher gehören die, nach den Gesetzen der Ansteckung und Gewohnheit, zum Bedürfniß für Alle gewordenen giftigen Reizmittel, wie Alkohol, Tabak, Opium, Gewürze, Thee, Kaffee u.s.w. Sie schwächen die Lebenskraft im Allgemeinen, indem sie unmittelbar die Sensibilität und mittelbar die Irritabilität erhöhen. Die in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika im Jahre 1870 consumirten spirituösen Getränke z.B. repräsentiren einen Werth von 1,487,000,000 Dollars. Es wurde berechnet, daß die flüssige Masse einen Kanal von 80 engl. Meilen Länge, 4 Fuß Tiefe und 14 Fuß Breite ausfüllen würde!

Auf geistigem Gebiete entfalteten sich, nach der Revolution, vor Allem die Naturwissenschaften. Man ging endlich voraussetzungslos und unbefangen an die Natur, befragte sie aufrichtig und vermied ängstlich, die Physik an eine Metaphysik zu binden. Kant’s Moraltheologie, in welcher eine außerweltliche Macht die denkbar höchste Läuterung erfuhr, wurde bald auf die Seite gelegt und der Materialismus trat an ihre Stelle, welcher ein durchaus unhaltbares philosophisches System ist. Sein Hauptgebrechen habe ich bereits in der Physik beleuchtet; hier habe ich das andere anzuführen, daß er zwar Veränderungen in der Welt, aber keinen Verlauf der Welt kennt. Er kann es deshalb zu keiner Ethik bringen.

Dagegen ist der Materialismus eine sehr wichtige und segensreiche historische Form auf geistigem Felde. Er ist einer Säure zu vergleichen, die allen Schutt der Jahrtausende, alle Ueberreste zersprungener Formen, allen Aberglauben zerstört, das Herz des Menschen zwar unglücklich macht, aber den Geist dafür reinigt. Er ist, was Johannes der Täufer für Christus war, der Vorläufer der echten Philosophie, zu der der geniale Nachfolger Kant’s, Schopenhauer, den Grund gelegt hat. Denn es kann gar keine andere Aufgabe für die Philosophie aufgestellt werden, als die, den |

i290 Kern des Christenthums auf der Vernunft zu errichten, oder, wie es Fichte ausdrückt:

Was ist denn die höchste und letzte Aufgabe der Philosophie als die, die christliche Lehre recht zu ergründen, oder auch sie zu berichtigen?

Dies hat aber Schopenhauer zuerst mit Erfolg versucht.

Die Naturwissenschaft griff dann immer tiefer in das praktische Leben ein und gestaltete es um. Welche Veränderungen haben die beiden wichtigen Erfindungen: die Dampfmaschine und der electrische Telegraph, in der Welt hervorgebracht! Die Bewegung der Menschheit ist durch dieselben in ein zehnfach schnelleres Tempo übergegangen, der Kampf um’s Dasein zehnfach intensiver, das Leben des Einzelnen zehnfach ruheloser geworden als seither.

 

38.

Die Zustände auf ökonomischem Gebiete vergrößerten die Kluft zwischen den drei oberen Ständen und dem neuen vierten Stande täglich mehr, bis in letzterem das Classenbewußtsein erwachte. Die Arbeiter forderten in Frankreich Wahlreform, weil die Kammer nicht der entsprechende Ausdruck des Volkswillens sei. Die Weigerung des Königs erregte den Sturm, und am 24. Februar 1848 brach die Revolution aus. Man berief einen Arbeiter in die provisorische Regierung, machte dem Staate die Verbesserung der Lage der niederen arbeitenden Classe zur Pflicht und proclamirte das direkte und allgemeine Wahlrecht, wodurch jeder unbescholtene Bürger, der älter als 21 Jahre war, einen Einfluß auf den Staatswillen erhielt.

Die Republik ging jedoch zu Grunde, sowohl an der Spaltung der socialistischen Parteien, als an den Intriguen der Bourgeoisie, welche erkannt hatte, daß die Reformen ihre Macht bedrohten. Aber das Volk hatte in einen hellen Osten gesehen, und seitdem lebt in ihm die Gewißheit, daß die Sonne hervorbrechen und leuchten wird über eine nivellirte Gesellschaft, welche die ganze Menschheit ist.

Goethe sagt sehr richtig:

Die Welt soll nicht so rasch zum Ziele, als wir denken und wünschen. Immer sind die retardirenden Dämonen da, die |

i291 überall dazwischen und überall entgegentreten, so daß es zwar im Ganzen vorwärts geht, aber sehr langsam.

Wie Sterne still zu stehen, ja, rückläufig zu sein scheinen, so scheint auch dem in das Einzelne versunkenen Geist die Menschheit bald stille zu stehen, bald rückläufig. Der Philosoph aber sieht überall nur resultirende Bewegung, und zwar eine stetige Vorwärtsbewegung der Menschheit.

 

39.

Wir haben jetzt, mit Vorsicht und Umsicht, einen Blick in die Zukunft der Menschheit zu werfen, indem wir die Richtung der auf dem rein politischen, ökonomischen (social- politischen) und rein geistigen Gebiete der Gegenwart herrschenden Strömungen verfolgen.

In Europa stehen die rein politischen Erscheinungen zur Zeit unter drei großen Gesetzen: unter dem Nationalitätsgesetze, dem Gesetze des Humanismus und dem Gesetze der Ablösung des Staates von der Kirche, d.h. der Vernichtung der Kirche.

Dem ersteren Gesetze gemäß werden alle kleinen Staaten, welche entweder aus dem Mittelalter stammen und in künstlicher Absonderung sich erhalten haben, oder nach den Napoleon’schen Kriegen nach Laune geschaffen wurden, in den allgemeinen Strom des Werdens gerissen, halb gezogen, halb aus sich selbst in ihn getrieben. Die Völker mit gemeinsamer Sprache, Sitte und Cultur suchen, mit unwiderstehlicher Gewalt, die staatliche Einheit, damit sie in dem furchtbaren Kampfe der Nationen um die politische Existenz nicht unterliegen und vergewaltigt werden. Dieses Streben drängt auch gegen die Wände großer Staaten, welche Völker verschiedener Nationalität in sich schließen.

Das zweite Gesetz offenbart sich in sehr verschiedenartigen Erscheinungen. Zunächst im Innern der Culturstaaten: jeder Mensch, was immer auch seine Stellung sei, wird als das kostbarste, wichtigste und unantastbarste Wesen in der Welt angesehen.

Mais qu’est-ce donc que l’association humaine, si l’un de ses membres peut disparaître, comme une feuille emportée par le vent?

(Souvestre.)

Wird irgendwo ein Mensch in einer Weise bedrängt, welche dem sehr unvollständigen und außerordentlich unklar abgefaßten un|geschriebenen

i292 Codex der Humanität widerspricht, so erzittert die ganze gebildete Menschheit und schreit laut auf. So muß es sein, wenn die Erlösung sich vollziehen soll. Je mehr in den Augen des Einzelnen sein Leben an Werth verliert, desto höher muß seine Bedeutung in den Augen der Gesammtheit steigen. Im Alterthum war es gerade umgekehrt: da kannte der Einzelne nichts Kostbareres, als sein Leben, welches die Gesammtheit nicht höher schätzte als das eines Baumblattes oder einer Ratte. Auf dieses Gesetz ist auch die Emancipation der Juden hauptsächlich zurückzuführen, welche ein weltgeschichtliches Ereigniß von der größten Bedeutung war. Die Juden treten mit ihrem, durch den langen Druck außerordentlich entwickelten Geiste überall auf und machen die Bewegung, wohin sie kommen, intensiver.

Das Gesetz zeigt sich dann in der Wirksamkeit der Staaten nach außen. Ueberall, wohin die Vertreter großer Nationen kommen, wird die persönliche Freiheit des Individuums gefordert. Es sollen keine persönlich Unfreien mehr in der Welt sein; die Sklaverei soll auf dem ganzen Erdboden aufhören.

Ferner suchen alle civilisirten Staaten allmählich aus dem Naturzustande, in welchem sie zu einander stehen, herauszukommen. Bereits sind mehrere leichten Conflikte zwischen Staaten durch Schiedsrichter geschlichtet worden (Alabama-Frage etc.), und mehrere mächtigen Vereine sorgen dafür, daß in der angedeuteten Richtung immer weiter vorwärts gegangen wird. Auf diesem Wege liegt ein völkerrechtliches Gesetzbuch; und wird die Bewegung nicht durch Strömungen auf social- politischem Gebiete abgelenkt, so wird sie, darüber kann kein Zweifel sein, schließlich die»vereinigten Staaten von Europa«herbeiführen.

Das wirksamste Mittel der Humanität ist die gute Presse. Sie deckt alle Schäden schonungslos auf und fordert, unentwegt, die Abstellung der Uebel.

Der Kampf des Staates mit der Kirche ist jetzt in einer Weise ausgebrochen, welche einen gesunden Friedensschluß unmöglich macht: er ist einem Duell zu vergleichen, in dem Einer bleiben muß. Daß der Staat siegen wird, liegt im Entwicklungsgange der Menschheit. Im siegreichen Staate wird die auf geistigem Gebiete inzwischen erblühte absolute Philosophie schließlich an die Stelle der Religion treten. –

i293 In Asien werden die alten Gesetze der Verschmelzung durch Eroberung und der geistigen Befruchtung die Vorgänge leiten. Es handelt sich darum, allmählich alle Völker des großen Welttheils ganz für die europäische Civilisation zu gewinnen.

Rußland und England sind berufen, das Werk vorzubereiten. Ersteres rückt unablässig in den weiten Steppen vor und bändigt die letzten Reste der unruhigen Kraft, welche im Mittelalter so oft in die Culturreiche verheerend eingebrochen ist.

England beschränkt sich einstweilen auf Indien. Es wirft über das große Reich, geleitet von einer engherzigen, aber trotzdem segensreichen Politik, ein Netz von Eisenbahnen, Landstraßen, Kanälen und Telegraphen und verbreitet überall europäische Cultur.

Wie sich die Verhältnisse gestalten, wann die asiatischen Besitzungen Englands und Rußlands aneinander grenzen werden, ist in keiner Weise zu bestimmen und übrigens gleichgültig. China wird alsdann bereits aus seiner Abgeschlossenheit herausgetreten sein und mächtig in die Entwicklung der Dinge eingreifen, welche auch unter dem Einflusse aller großen Nationen der Welt stehen wird.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß, wie zur Zeit der Völkerwanderung, aber ohne deren schreckliche Greuel, eine Verschmelzung eintritt und neue Reiche von kräftigen Mischvölkern entstehen werden; denn ein vollständiges Absterben der Ueberbleibsel der alten morgenländischen Culturvölker darf man für unmöglich halten. –

In Amerika breitet sich das jugendfrische Mischvolk, welches die Vereinigten Staaten bewohnt, immer weiter aus. Das Gesetz der Verschmelzung fand und findet noch fortwährend in der Union die größte Anwendung. Wer kann die Kreuzungen verfolgen, die durch die geschlechtlichen Vermischungen von Franzosen, Deutschen, Engländern, Irländern, Italienern etc., ferner durch die von Weißen mit Schwarzen, Chinesen, Indianern u.s.w. entstehen? Wie werden da Willensqualitäten gebunden, erweckt, gestärkt und geschwächt, und jede Generation ist eine wesentlich andere.

Die Amerikaner der Union werden mit der Zeit ganz Nord-Amerika überschwemmen und vielleicht sich auch über den Süden verbreiten.

Inzwischen sterben in Amerika und Australien immer mehr die halbwilden Urbewohner ab. Sie haben nicht die Kraft, die Berührung |

i294 der höheren Cultur zu ertragen, und die Civilisation stürzt sie kalt in den Tod. –

Dasjenige Land, welches am schwierigsten in den Kreis der Cultur zu ziehen ist und zuletzt in denselben eintreten wird, ist Afrika. Einstweilen ist es mit einem Gürtel von Colonieen umgeben, der sich nach und nach immer mehr verbreitern wird, bis das ganze Land erschlossen ist. Vielleicht ist die Republik Liberia berufen, in späterer Zeit der Hauptstützpunkt der Civilisation in Afrika zu werden. Es wäre sonderbar, wenn unter den gebildeten Schwarzen der Union nicht Apostel aufstünden für die Erhebung ihrer armen Brüder in eine menschenwürdigere Lebensform.

Auch scheint Aegypten berufen zu sein, das Innere des Welttheils umzugestalten.

Ferner sind die edlen Afrikareisenden zu nennen, welche die geheimnißvollen Länder des Inneren zu erforschen bestrebt sind. Ihren Bemühungen gelingt es vielleicht mit der Zeit, solche Motive in die alte Welt zu werfen, daß sich Ströme von Auswanderern in das mittlere Afrika ergießen und es colonisiren. Schließlich müssen wir die christlichen Missionäre erwähnen, die in Afrika ganz am Platze sind. So sehr man ihre Wirksamkeit in Indien tadeln muß, wo sie die christliche Religion an die Stelle ebenbürtiger ethischer Systeme setzen wollen, so sehr sind ihre Bestrebungen bei den rohen Negerstämmen anzuerkennen. –

Ist nun auch der Kreis der Civilisation noch nicht geschlossen, so ist doch klar aus den jetzt wirkenden Ursachen zu erkennen, daß er sich dereinst schließen wird. Daß er sich immer mehr ausdehnt, bewirken die täglich sich vermehrenden Schienenwege und Schifffahrtslinien. Die Auswanderung ist im Zuge und wird immer größer. Bald locken schimmernde Gold- und Diamantfelder, bald die freieren Lebensformen. Die Gesetze der Verschmelzung und der Auswicklung der Individualität stehen der Bewegung vor und beschleunigen ihr Tempo.

 

40.

Auf ökonomischem (social- politischem) Gebiete tritt uns die sogenannte sociale Frage allein entgegen. Ihr liegt das Gesetz der Verschmelzung durch innere Umwälzung zu Grunde, welches, sobald die Frage gelöst ist, keine Erscheinung mehr im Leben der |

i295 Menschheit leiten wird: denn dann ist der Anfang des Endes herbeigekommen.

Die sociale Frage ist nichts Anderes, als eine Bildungsfrage, wenn sie auch an der Oberfläche ein ganz anderartiges Ansehen hat; denn in ihr handelt es sich lediglich darum, alle Menschen auf diejenige Erkenntnißhöhe zu bringen, auf welcher allein das Leben richtig beurtheilt werden kann. Da aber der Weg zu dieser Höhe durch rein politische und ökonomische Hindernisse gesperrt ist, so stellt sich die sociale Frage in der Gegenwart nicht als eine reine Bildungsfrage, sondern vorerst als eine politische, dann als eine ökonomische dar.


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