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Je nachdem nun die immer weiter sich ausbreitenden Nomaden in Gegenden von milderem oder schrofferem Klima kamen, erhielt diese einfache Naturreligion eine freundlichere oder düsterere Färbung. Da, wo die segenspendende Sonne vorherrschte, trat das böse Princip sehr in den Hintergrund, während dem guten mit Ehrfurcht und vertrauensvoll genaht wurde. Hingegen da, wo die Menschen im beständigen Kampfe mit der Natur lagen, wo Raubthiere in großer Anzahl die Heerden lichteten und Waldbrände, glühende Wüstenwinde Menschen und Thiere in die Vernichtung trieben, verlor der geängstigte Mensch das gute Princip ganz aus den Augen: all sein Dichten und Trachten war nur darauf gerichtet, die mit der Phantasie lebhaft erfaßte grausame, zornige Gottheit durch Opferung des Liebsten, was er hatte, zu besänftigen und gnädig zu stimmen.

Die Form, in der sich die Nomaden bewegten, war die patri|archalische

i234 Genossenschaft. Das Oberhaupt des Stammes war Fürst, Richter und Priester, und ein Abglanz dieser dreifachen Gewalt fiel auf jeden Familienvater, wodurch der Charakter der Familie ein viel ernsterer und festerer wurde, als bei den Jägervölkern.

 

7.

In diesen einfachen Formen und Lebensweisen mag sich die gesammte Menschheit Jahrtausende lang bewegt haben. Das Gesetz der Gewohnheit beherrschte Alle, und sein Produkt, die Sitte, legte sich immer fester um den Willen. Die Keime zu Willensqualitäten mögen sich schon in Einzelnen gebildet haben, aber sie konnten sich nicht entwickeln, da alle Bedingungen dazu noch fehlten. Das Leben verfloß zu einförmig. Alle waren frei; Jeder konnte Familienvater werden, d.h. zur Gewalt gelangen, und die höchste Gewalt war wesentlich beschränkt, kurz, es fehlte an großen Contrasten, welche in den Geist schneiden und den Willen aufwühlen.

Dagegen arbeitete der Geist ruhig auf der gewonnenen höheren Stufe weiter; er wurde besonders in den Gegenden von mildem, gleichmäßigem Klima beschaulicher, objektiver, und konnte sich dadurch leichter in das Wesen der Dinge versenken. Auf dieser Bahn mußte er zu vielen kleinen, aber wichtigen Erfindungen und Entdeckungen gelangen, bis er endlich den Nutzen der Halmfrüchte erkannte und allmählich zum Anbau der betreffenden Grasarten schritt.

Jetzt war ein fester Boden gewonnen, auf dem sich die Civilisation niederlassen und ihren Siegeszug beginnen konnte; jetzt erst konnte sich ihr oberstes Gesetz, das Gesetz des Leidens, in der immer größer werdenden Reibung offenbaren, den Willen veredeln und den Geist erleuchten.

 

8.

Die nächste Folge des Ackerbaues war eine große Auswicklung der Individuen. Die Volkszahl mußte sehr zunehmen, weil einerseits dasselbe Stück Land jetzt zehnmal mehr Menschen ernähren konnte als vorher und andererseits weniger Menschen im Kriege vernichtet wurden.

Im Laufe der Zeit stellte sich aber Uebervölkerung ein, ein großes Uebel, dem nur durch massenhafte Auswanderung abgeholfen werden konnte. Man darf annehmen, daß in den asiatischen Gebieten, |

i235 nördlich vom Hinduku- und Himalaya-Gebirge, der erste Uebergang aus dem Nomadenleben in den Ackerbau stattgefunden hat und die Verwicklung zuerst aufgetreten ist. Es lösten sich früh von dem starken, zähen und tapferen Volk der Arier große Theile ab, welche, mit Hausthieren, Pflug und Getreide ausgerüstet, den Weg nach Westen einschlugen und sich an verschiedenen Punkten Europa’s eine neue Heimath gründeten. Schließlich entschloß sich der ganze Stamm, wahrscheinlich in der Erkenntniß, daß das von ihm bewohnte Land für den Ackerbau nicht geeignet und doch nur durch eine fleißige Bearbeitung des Bodens eine dauerhafte gesicherte Existenz zu erreichen sei – vielleicht auch schwer bedrängt von mongolischen Nomadenhorden – die uralten Wohnsitze zu verlassen. Sie zogen nach Süden, und während sich ein Theil nach dem heutigen Persien wandte, bemächtigte sich ein anderer der Thäler des Indus. Hier verblieben die Inder so lange, bis neuerdings Uebervölkerung eintrat; dann unternahmen sie einen großen Kriegszug gegen halbwilde Jäger- und Nomadenvölker, welche die nördliche Hälfte der Halbinsel bewohnten, und führten ihn glücklich zu Ende. Sie verschmolzen sich jedoch nicht mit den Besiegten, sondern errichteten einen Kastenstaat, eine der wichtigsten und nothwendigsten Formen für den Anfang der Civilisation, an dem wir verschiedene neuen Gesetze abmerken werden.

Es ist klar, daß die alten Inder schon in den Thälern des Indus, als sie sich hauptsächlich dem Landbau ergeben hatten und ein seßhaftes Volk geworden waren, die patriarchalische Organisation verlassen und sich eine andere geben mußten. Vor Allem war die Arbeit eine andere geworden. Sie war schwieriger und mühsamer und beschränkte das Individuum mehr als die Wartung und Hütung des Viehs. Außerdem hat das Nomadenleben einen ganz besonderen Reiz. Es ist bekannt, daß der vom Russen gezähmte Tatar sich unablässig nach der Beschäftigung seiner Väter zurücksehnt, und daß selbst der deutsche Steppencolonist mit Leib und Seele Nomade wird und vom Pflügen und Gartenbau sich gern abwendet. Kein Wunder! Wem nur einmal vergönnt war, einen Blick in die Steppe zu werfen, der begreift ihre unwiderstehliche Zauberkraft. Wie sie daliegt im Schmuck des Frühlings: sanft gewellt, wogend, einsam, still, endlos! Wie wohl sich der Mann fühlt, der auf feurigem Pferde über sie hinfliegt! Wie frei, wie frei! – Man wird deshalb |

i236 nicht fehlgreifen, wenn man Unzufriedenheit und Widerwillen bei einem großen Theil des Volkes annimmt, welchen mit Entschiedenheit und Energie entgegengearbeitet werden mußte.

Der Ackerbau verlangte ferner eine Theilung der Arbeit. Wälder mußten ausgerodet, wilde Thiere bekämpft, Geräthschaften angefertigt, Häuser gebaut, Wege und Canäle angelegt und dabei das Feld regelmäßig bestellt und Vieh gezüchtet werden. Auch mußten die angrenzenden Halbwilden vom eroberten Gebiete abgehalten werden. Unterdessen nahm die Bevölkerung stetig zu. Die Dörfer wurden größer, und es entstanden neue Ansiedelungen, die bald zu Dörfern sich gestalteten und mit dem Mutterdorfe in enger Verbindung blieben. Schließlich hatten sich auch die Besitzverhältnisse wesentlich geändert, da zu den beweglichen Heerden Grundeigenthum gekommen war, welches die Quelle häufiger Streitigkeiten wurde. Diese mußten nach festen Normen entschieden werden, welche erst festzustellen waren und dann Männer verlangten, die eine genaue Kenntniß des Rechts hatten.

Alles Dieses gebot die Einsetzung einer strafferen Gewalt, als die der Familienältesten, Stammeshäupter und Anführer war, und leitete in das despotische Königthum mit Heer, Beamten, Gewerbtreibenden u.s.w. In der weiteren Entwicklung vollzog sich die Scheidung des Priesterthums vom Königthum, da die Fürsten jetzt Obliegenheiten hatten, welche ihre ganze Zeit in Anspruch nahmen, und die einfache Naturreligion sich zu einer Religion mit regelmäßigem Cultus gestaltet hatte.

Man muß also annehmen, daß die Inder, ehe sie bis zu den Mündungen des Ganges vordrangen, bereits ein nach Ständen gegliedertes Volk waren, aber keine Kasten hatten, weil es noch keine Sklaven gab. Der strenge Kastenstaat entstand erst, als ein halbwildes, unbändiges, zahlreiches Volk von Besiegten in den Rahmen der Gesellschaft aufgenommen und die Sklaverei begründet worden war, und auch dann nur allmählich.

Daß eine Verschmelzung nicht stattfand, ist leicht zu erklären. Dem Halbwilden von rohen Sitten, häßlicher Gestalt und dunkler Farbe gegenüber, mußte sich der stolze, schöne Arier als ein Wesen höherer Art fühlen und vor einer geschlechtlichen Vermischung mit ihm einen wahren Abscheu haben. Dann mußte es geradezu für ehrlos gelten, mit Denjenigen Umgang zu pflegen, welchen die här|testen

i237 und niedrigsten Arbeiten aufgebürdet waren, und welche, in Folge ihrer Widerspänstigkeit und Störrigkeit, mit eiserner Faust in den Staub gedrückt werden mußten. So trat neben den natürlichen Abscheu die Verachtung, und beide machten eine Verschmelzung unmöglich.

Blicken wir dem Kastenstaat auf den Grund, so zeigt sich uns zunächst das Gesetz der Ausbildung des Theils, eines der wichtigsten Gesetze der Civilisation. Wir hätten es schon darin erkennen können, daß Theile von Stämmen auswanderten und durch bessere Bodenbeschaffenheit, günstigeres Klima und edlere Beschäftigung sich veränderten und eine höhere Stufe erklommen. Im Culturstaat aber tritt es viel deutlicher hervor und zeigt seine ganze Macht.

Nur dadurch, daß von einem Theil des Volks jede Sorge um das tägliche Brod am Anfange der Cultur abgenommen wurde, konnten dem Geiste allmählich Schwingen zum freien genialen Fluge wachsen; denn nur»müßige Hände geben thätige Köpfe.«Im Kampf um’s Dasein kann die Noth erfinderisch machen, aber Kunst und Wissenschaft können nur in der Luft der Sorglosigkeit gedeihen und reife, saftvolle Früchte hervorbringen.

Dann tritt uns das Gesetz der Entfaltung des einfachen Willens entgegen. Auch dieses Gesetz bringe ich erst jetzt zur Erörterung, weil die Contraste im Kastenstaat ihren Höhepunkt erreichten; denn es ist klar, daß schon in der ersten Periode eines seßhaften, nach Ständen gegliederten Volks Motive in Fülle vorhanden waren, welche den Willen aus seiner Einfachheit herausziehen mußten.

In den Individuen entstanden Hoffart, Ehrgeiz, Ruhmsucht, Eitelkeit, Habsucht, Genußsucht, Neid, Trotzigkeit, Hinterlistigkeit, Bosheit, Tücke, Grausamkeit u.s.w. Aber auch die Keime edler Willensqualitäten, wie Barmherzigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Wohlwollen, Gutmüthigkeit, Treue, Anhänglichkeit u.s.w. sprangen auf.

Zugleich mußten sich die Zustände des Willens mannigfaltiger gestalten. Angst, Trauer, Freude, Hoffnung, Verzweiflung, Mitleid, Schadenfreude, Reue, Gewissensangst, aesthetische Freude u.s.w. bemächtigten sich abwechselnd des Herzens und machten es bildsamer und geschmeidiger.

Selbstverständlich vollzog sich (und vollzieht sich noch immer), |

i238 unter dem Einflusse der durch den Geist erfaßten Motive, die Umbildung des Charakters nur allmählich. Eine leichte Veränderung wurde, wie Alles, was den Willen ergreift, in das Blut gleichsam übergeht, in die Zeugungskraft aufgenommen, ging nach dem Gesetz der Erblichkeit der Eigenschaften als Keim in das neue Individuum über und bildete sich nach dem Gesetze der Gewohnheit weiter aus.

Wir haben ferner das Gesetz der Bindung der neuen Individualität zu merken. Die einfache Naturreligion konnte dem forschenden, objektiv gewordenen Geiste der Priester nicht mehr genügen. Sie vertieften sich in den Zusammenhang der Natur, und es wurde ihnen das kurze, mühselige Leben, zwischen Geburt und Tod, zum Hauptproblem. Nasci, laborare, mori. Konnten sie es anpreisen? Sie mußten es verurtheilen und als eine Verirrung, einen Fehltritt brandmarken. Die Erkenntniß, daß das Leben werthlos sei, ist die Blüthe aller Weisheit. Die Werthlosigkeit des Lebens ist die einfachste Wahrheit, aber zugleich die, welche am schwersten zu erkennen ist, weil sie in unzählige Schleier gehüllt auftritt. Wir liegen gleichsam auf ihr; wie sollten wir sie finden können?

Die Brahmanen aber mußten sie finden, weil sie dem Kampf um’s Dasein vollständig enthoben waren, ein reines beschauliches Leben führen und alle Kraft ihres Geistes für die Lösung des Welträthsels verwenden konnten. Sie nahmen ferner die erste Stellung im Staate ein: glücklicher als sie (glücklich im populären Sinne des Worts angewendet) konnte Niemand sein, und deshalb warf sich nicht zwischen sie und die Wahrheit der Schatten, der das Urtheil der Niederen trübt, nämlich der Gedanke, daß das Glück die Höhen vergoldet und nur nicht in die Thäler dringen kann, daß es also in der Welt wirklich anzutreffen ist, nur nicht überall. Indem sie in ihr Inneres tauchten, ergründeten sie die Welt und ihre leeren Hände richteten die Welt.

Die vom Willen erfaßte Erkenntniß aber, daß das Leben werthlos, ja wesentlich unglücklich sei, mußte die Sehnsucht nach Befreiung vom Dasein erzeugen, und die Richtung in der diese zu erlangen sei, gab die durchaus nothwendige Beschränkung des natürlichen Egoismus durch die Fundamentalgesetze des Staates an.»Beschränke auch die vom Staate frei gelassenen Triebe, beschränke den natürlichen Egoismus ganz und du wirst befreit werden,«so mußte die Vernunft schließen, und sie schloß richtig.

i239 Der Pantheismus der Brahmanen, in den sich die Naturreligion der Inder umgebildet hatte, diente lediglich dazu, den Pessimismus zu stützen: er war nur die Fassung für den kostbaren Edelstein. Der Zerfall der Einheit in die Vielheit wurde als Fehltritt aufgefaßt, und, wie aus einem Vedahymnus klar hervorgeht, wurde gelehrt, daß sich bereits drei Theile des gefallenen Urwesens wieder aus der Welt emporgehoben hätten und nur noch ein Theil in der Welt verkörpert wäre. Auf diese erlösten Theile übertrug die Weisheit der Brahmanen das, was jede Menschenbrust so tief ersehnte und in der Welt doch nicht zu finden war: Ruhe, Frieden und Seligkeit, und lehrte, daß nur durch Ertödtung des Einzelwillens der Mensch mit dem Urwesen vereinigt werden könne, anderenfalls der in jedem Menschen verunreinigt lebende unsterbliche Strahl aus dem Urwesen so lange, vermittelst der Seelenwanderung, in der Qual des Daseins verbleiben müsse, bis er gereinigt und reif für die Seligkeit sei.

Hierdurch erhielt auch der Kastenstaat eine heilige Weihe. Er war nicht Menschenwerk, sondern eine göttliche Einrichtung mit dem Gepräge der denkbar größten Gerechtigkeit, die Alle mit ihrem Schicksal versöhnen mußte; denn durch die höheren Kasten floß stets ein Strom von Wesen, welche die höhere Stellung verdient hatten, und es war in die Macht eines jeden Niedriggeborenen gegeben, nach dem Tode in diesen Strom aufgenommen zu werden.

Der ganzen Lehre gemäß zwängten sich nun die Brahmanen in das strengste Ceremoniell, das jede Regung ihres Willens erstickte. Sie begaben sich vollständig unter das Gesetz, dem eigenen Ermessen Nichts überlassend, damit sie vor Ausschreitungen ganz gesichert wären. Für jede Stunde des Tages waren besondere Handlungen, wie Waschungen, Gebete, Meditationen, Opferungen, vorgeschrieben, und es war dem Belieben Keines anheim gegeben, auch nur eine Minute selbständig auszufüllen. Sie gingen dann noch weiter und fügten zu sehr schwerem Fasten die größtmöglichen Selbstpeinigungen hinzu, welche darauf hinzielten, den Menschen ganz von der Welt loszubinden und Willen und Geist vollständig gegen Alles gleichgültig zu machen.

In ähnlicher Weise regelten sie das Leben in den anderen Kasten und schlangen unzerreißbare Bande um jeden Einzelnen. Zu der Furcht vor den härtesten Strafen in diesem Leben gesellte sich die |

i240 andere vor entsetzlichen Qualen nach dem Tode, und unter der Einwirkung dieser mächtigen Motive mußte zuletzt auch der zäheste und wildeste Wille zum Leben erliegen.

Was sich mithin im despotischen Kastenstaate der alten Inder vollzog, war die Heraushebung des Menschen aus der Thierheit und die Bindung des in Willensqualitäten auseinander getretenen einfachen Charakters durch politischen und religiösen Zwang. Aehnliches fand in allen anderen despotischen Staaten des Orients mit Nothwendigkeit statt. Es handelte sich darum, Menschen, in denen der Dämon allein herrschte, die noch ganz versenkt waren in ein traumhaftes Naturleben, die noch strotzten von Wildheit und Faulheit, aufzurütteln, zu bändigen und mit Peitsche und Schwert auf den Weg der Civilisation zu treiben, auf dem allein Erlösung zu finden ist.

 

9.

Die Geschichte Babylon’s, Assyrien’s und Persien’s zeigt zwei neue Gesetze der Civilisation: Das Gesetz der Fäulniß und das Gesetz der Verschmelzung durch Eroberung.

Es ist der Civilisation wesentlich, daß sie, nach dem Gesetze der Ausbildung des Theils, in kleinen Kreisen beginnt und diese alsdann erweitert. Die Civilisation ist nicht der Gegensatz zur Bewegung der Naturvölker; denn beide Bewegungsarten haben eine Richtung. Erstere ist nur eine beschleunigte Bewegung. Die Bewegung eines Naturvolks ist der einer Kugel auf einer fast horizontalen Fläche, die Bewegung eines Culturvolks dagegen dem Sturze dieser Kugel in den Abgrund zu vergleichen. Bildlich geredet, hat nun die Civilisation das Bestreben, alle Völker in ihren Kreis zu ziehen; sie hat die ganze Menschheit im Auge und übersteht auch nicht die kleinste Genossenschaft im verborgensten Winkel der Erde.

Zu den Gesetzen, wonach sie hierbei verfährt, gehören die beiden erwähnten. Jeder Culturstaat sucht sich in seiner Individualität zu erhalten und dieselbe so viel als möglich zu stärken. So mußten sich auch die gedachten Staaten zunächst gegen die sie von anderen Staaten trennenden Nomadenhorden und Jagdvölker, welche ihre Grenzen beunruhigten, Einfälle in ihr Gebiet machten, raubten und mordeten, wenden und sie unschädlich zu machen suchen. Sie bekriegten dieselben und fügten sie, als Sklaven, in ihr Gemeinwesen ein. Nachdem auf diese Weise die Staaten aneinander gerückt waren, |

i241 suchte jeder den anderen zu schwächen, oder, sobald es seine Macht gestattete und sein Interesse es erheischte, sich denselben ganz einzuverleiben.

Im ersteren Falle fand, durch Eroberung, in den unteren Classen des Staats eine Verschmelzung wilder Völker mit solchen, die unter Gesetzen bereits verschlossen waren, statt, wobei auch zuweilen Völker verschiedener Race (Arier, Semiten etc.) vermischt wurden; im letzteren Falle wurden Glieder der höheren Classen in das niedere Volk hinabgestoßen. Durch diese Vermengungen und Verschmelzungen erfuhr der Charakter Vieler eine Umbildung.

Die Bewegung, welche sich nach dem Gesetze der Eroberung vollzieht, ist eine kräftige vom Inneren des Staates nach außen, diejenige dagegen, welcher das Gesetz der Fäulniß zu Grunde liegt, ist eine kräftige von außen in das Innere des Staates. Das Resultat beider aber ist dasselbe, nämlich Verschmelzung von Völkern, Umbildung der Individuen, oder auch, ganz allgemein ausgedrückt, Erweiterung des Civilisations-Kreises.

In den gedachten Reichen ergriff mit der Zeit Zuchtlosigkeit die Individuen der höheren Classen. Die sehr ausgebildete Individualität streifte nach und nach alle Ringe ab, welche Sitte, Gesetz und religiöses Gebot um sie gelegt hatten, und ihr, nur auf Sinnengenuß gerichteter Glückseligkeitstrieb stieß sie in einen Zustand völliger Erschlaffung und Verweichlichung. Jetzt fanden kräftige Gebirgsvölker, oder Nomaden, welche entweder außerhalb des Staates standen, oder nur mit einem dünnen Faden an ihn gefesselt waren, keinen Widerstand mehr. Sie brachen, angezogen von den aufgehäuften Schätzen der Cultur, in das schlaff regierte Gemeinwesen ein und stürzten entweder die Versumpften in das niedere Volk hinab, oder verschmolzen sich mit ihnen durch geschlechtliche Vermischung.

 

10.

Der Kreis der Civilisation erweiterte sich ferner, und erweitert sich noch immer, nach den Gesetzen der Colonisation und der geistigen Befruchtung. Unter den alten orientalischen Völkern waren es besonders die Phönizier, welche durch den Handel Cultur verbreiteten. Uebervölkerung, Streit in den vornehmen Geschlechtern und andere Ursachen bewirkten die Anlage von Colonien in entfernten |

i242 Gegenden, welche sich zu selbständigen Staaten fortbildeten und mit dem Mutterlande eng verknüpft blieben.

Dann zogen die Phönizier von Volk zu Volk Fäden und vermittelten dadurch nicht nur den Austausch überschüssiger Produkte, wodurch der Reichthum der Staaten bedeutend stieg, sondern brachten auch überall in das geistige Leben frische Bewegung, indem sie zündende Funken aus den von bevorzugten Völkern gefundenen Wahrheiten in diejenigen Völker warfen, welche nicht die Kraft besaßen, sich selbständig auf eine höhere Stufe der Erkenntniß zu schwingen. In dieser Hinsicht sind die Kaufleute des Alterthums jenen Insekten zu vergleichen, welche im Haushalte der Natur dazu bestimmt sind, mit dem an ihren Flügeln hängen gebliebenen Staube männlicher Blüthen weibliche zu befruchten.

 

11.

Ich sagte oben, daß das Hauptgesetz der Civilisation das Leiden sei, wodurch der Wille geschwächt und der Geist gestärkt werde. Sie bildet den Menschen continuirlich um und macht ihn immer empfänglicher für das Leiden. Zugleich läßt sie unablässig durch den Geist mächtige Motive auf ihn einfließen, welche ihm keine Ruhe geben und sein Leiden vergrößern. Auf diese, von dem Geiste gebotenen, aus dem Geiste erzeugten Motive, wie sie sich im Orient gestalteten, müssen wir jetzt einen kurzen Blick werfen.

Jedes Volk, welches in den Culturstaat eintrat, konnte nicht bei seiner Naturreligion stehen bleiben: es mußte sie speculativ vertiefen; denn die Intelligenz wächst mit Nothwendigkeit im Staate und ihre Früchte müssen deshalb andere sein, als in der losen Genossenschaft.

Wer sein Auge frei von Verwirrung halten kann und nicht geblendet wird von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, der wird in jeder Naturreligion und in jeder geläuterten Religion nichts Anderes finden, als den mehr oder weniger klaren Ausdruck des Abhängigkeitsgefühls, das jeder Mensch dem Weltall gegenüber empfindet. Nicht um die philosophische Erkenntniß des dynamischen Zusammenhangs der Welt handelt es sich in der Religion, sondern um Aussöhnung des Individuums mit dem aus den Naturerscheinungen gefolgerten allmächtigen Willen einer Gottheit.

i243 In den asiatischen Naturreligionen, welche die Allmacht der Welt zersplitterten und die Splitter personificirten, versöhnte das zitternde Individuum die zürnenden Götter durch äußere Opfer. In den geläuterten Religionen dagegen opferte es der Gottheit durch Beschränkung seines inneren Wesens. Das äußere Opfer, welches beibehalten wurde, war nur eine Andeutung der thatsächlich vollzogenen inneren Beschränkung.

Es ist außerordentlich bedeutsam, daß eine solche Beschränkung des inneren Menschen, die, wie erwähnt, bei den Indern bis zur vollständigen Ablösung des Individuums von der Welt ging, überhaupt gefordert werden konnte und fast überall gefordert worden ist. Was konnte man, wie gesagt, von der Gottheit wissen? Nur ihren Willen, wie er sich in der Natur offenbarte. Er zeigte sich deutlich genug, nämlich allmächtig und bald gnädig, bald vernichtend. Aber wie sollte man seine Absicht erfassen? Warum blieb man nicht beim äußeren Opfer stehen und ging so weit darüber hinaus? Ich habe schon oben die Antwort darauf gegeben. Der Geist Einzelner hatte sich so entwickelt, daß das menschliche Leben an sich beurtheilt werden und zwar, weil der Standpunkt der Urtheilenden, durch günstige Verhältnisse, die erforderliche Höhe hatte, auch richtig beurtheilt werden konnte. Jetzt wurde die Absicht der Gottheit dahin gedeutet, daß das Individuum ihr sein ganzes Wesen zum Opfer bringen solle.

Immerhin bleibt es eine stets bewunderungswürdige Thatsache der Geschichte, daß auf dem richtigen Urtheil über das menschliche Leben allein eine so großartige und tiefe Religion, wie der indische Pantheismus, sich aufbauen konnte. Sie ist nicht anders zu erklären, als daß ausnahmsweise der Dämon gewaltiger Menschen in der Erkenntniß die Hauptrolle spielte und auf Anlaß des vom Geiste gegebenen richtigen Motivs (Verachtung des Lebens) aus der Tiefe seines Gefühls Ahnungen aufsteigen ließ, welche der Geist in Begriffe faßte.

O, ich sah’s über der Welt schweben, wie eine Taube, die ein Nest sucht zum Brüten, und die erste Seele, die in der Erstarrung erglühend aufging, mußte den Erlösungsgedanken empfangen.

(Hebbel.)

Denn die Hauptwahrheit des indischen Pantheismus ist der zwischen einem Anfangs- und Endpunkte liegende einheitliche Ent|wicklungsgang,

i244 nicht nur der Menschheit, sondern des Universums. Konnte ihn der Geist allein finden? Unmöglich! Was konnte man zur Zeit der Inder von dieser Bewegung wissen? Sie hatten nur den Ueberblick über ihre eigene Geschichte, welche weder einen Anfang, noch ein Ende zeigte. Blickten sie in die Natur, so sahen sie die Sonne und die Sterne regelmäßig auf- und untergehen, regelmäßig auf den Tag die Nacht und auf die Nacht den Tag folgen, endlich organisches Leben sich zu Gräbern neigen und aus Gräbern wieder erstehen. Alles Dieses gab einen Kreis, keine Spirale, und der Kern des indischen Pantheismus ist doch, daß die Welt einem einfachen Urwesen entsprungen ist, das in ihr lebt, in ihr büßt, sich reinigt und schließlich, die Welt vernichtend, in das reine Ursein zurückkehren wird.

Die indischen Weisen hatten nur einen festen Stützpunkt: den Menschen. Sie empfanden den Contrast ihrer Reinheit mit der Gemeinheit der Wilden und den Contrast ihres Herzensfriedens mit der Unruhe und Qual der Lebenshungrigen. Dies gab ihnen eine Entwicklung mit Anfang und Ende, aber die Entwicklung der ganzen Welt konnten sie nur durch einen genialen Flug, auf den Schwingen des Dämons, divinatorisch erreichen.

Indessen, diese Wahrheit der einheitlichen Bewegung der Welt, welche nicht zu beweisen war und deshalb geglaubt werden mußte, war außerdem schwer erkauft mit einer einfachen Einheit in der Welt. Hier liegt die Schwache des indischen Pantheismus. Mit einer einfachen Einheit in der Welt ist die sich immer und immer wieder aufdrängende Thatsache der inneren und äußeren Erfahrung, die reale Individualität, unverträglich. Der religiöse Pantheismus und nach ihm der philosophische (Vedantaphilosophie) lösten den Widerspruch gewaltsam, auf Kosten der Wahrheit. Sie leugneten die Realität des Individuums und damit die Realität der ganzen Welt, oder genauer: der indische Pantheismus ist reiner empirischer Idealismus.

Dies mußte so sein. Von dem einheitlichen Entwicklungsgang durfte nicht gelassen werden: auf ihm beruhte die Erlösung. Er bedingte aber eine einfache Einheit in der Welt, weil sonst eine einheitliche Bewegung des Alls nicht zu erklären gewesen wäre, und die einfache Einheit in der Welt verlangte ihrerseits gebieterisch die Herabsetzung der ganzen realen Welt zu einer Welt des Scheins, einem Trug|bilde

i245 (Schleier der Maja); denn wenn in der Welt eine Einheit wirkt, kann kein Individuum real sein; es ist nur todtes Werkzeug, nicht denkender Meister.

Hiergegen erhob sich die Sankhya-Lehre, welche die Einheit leugnete und für die Realität des Individuums eintrat. Aus ihr entwickelte sich die wichtigste Religion Asiens: der Budhaismus.

Der Kern des Budhaismus liegt in der Karma-Lehre: alles Andere ist phantastischer Ausputz, der auf die Rechnung der Nachfolger des großen Mannes zu setzen ist. Dieser über alles Lob erhabenen, wenn auch einseitigen Lehre werde ich in der Metaphysik und im Anhange näher treten, worauf ich verweise. Hier muß ich mich kurz fassen.

Auch Budha ging von der Werthlosigkeit des Daseins, wie der Pantheismus, aus, aber er blieb beim Individuum stehen, dessen Entwicklungsgang ihm die Hauptsache war. Er legte alle Realität in das Einzelwesen, Karma, und machte dieses allmächtig. Es schafft sich, lediglich unter der Leitung seines bestimmten Charakters (besser: unter der Leitung der Summe von bösen und der Summe von guten, aus dem Charakter in früheren Lebensläufen geflossenen Thaten), sein Schicksal, d.h. seinen Entwicklungsgang. Keine außer dem Individuum liegende Macht hat den geringsten Einfluß auf sein Schicksal.


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