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i169
1.
Die Ethik ist Eudämonik oder Glückseligkeitslehre: eine Erklärung, an der seit Jahrtausenden gerüttelt wird, ohne sie zu erschüttern. Die Aufgabe der Ethik ist: das Glück, d.h. den Zustand der Befriedigung des menschlichen Herzens, in allen seinen Phasen zu untersuchen, es in seiner vollkommensten Form zu erfassen und es auf eine feste Grundlage zu setzen, d.h. das Mittel anzugeben, wie der Mensch zum vollen Herzensfrieden, zum höchsten Glück, gelangen kann.
2.
Es ist nichts Anderes in der Welt, als individueller Wille, der Ein Hauptstreben hat: zu leben und sich im Dasein zu erhalten. Dieses Streben tritt im Menschen als Egoismus auf, der die Hülle seines Charakters, d.h. der Art und Weise ist, wie er leben und sich im Dasein erhalten will.
Der Charakter ist angeboren. Es tritt der Mensch mit ganz bestimmten Willensqualitäten in’s Leben, d.h. die Canäle sind angedeutet, in die sich sein Wille in der Entwicklung vorzugsweise ergießen wird. Daneben sind sämmtliche anderen Willensqualitäten der allgemeinen Idee Mensch als Keime vorhanden, mit der Fähigkeit sich zu entfalten.
Der Mensch ist die Verbindung eines bestimmten Dämons mit einem bestimmten Geiste; denn giebt es auch nur Ein Princip, den individuellen Willen, so unterscheiden sich doch die Individuen von einander durch ihre Bewegung. Im Menschen zeigt sich die Bewegung nicht als eine einfache, sondern als eine resultirende, und wir sind deshalb genöthigt, von einer Verbindung der Haupt- Bewegungsfaktoren zu sprechen. Aber diese Verbindung ist wesentlich untrennbar und die Bewegung dadurch doch nur Eine; denn was drückt: dieser bestimmte Charakter und dieser bestimmte Geist Anderes aus, als diese bestimmte Bewegung des Willens?
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3.
Der Egoismus des Menschen zeigt sich nicht nur als Erhaltungstrieb, sondern auch als Glückseligkeitstrieb, d.h. der Mensch will nicht nur im Leben, seinem Charakter gemäß, verbleiben, sondern er will auch, in jedem Augenblicke des Lebens, die volle Befriedigung seiner Wünsche, seiner Neigungen, seiner Begierden, in die er sein höchstes Glück setzt. Wunsch – sofortige Befriedung; neuer Wunsch – sofortige Befriedigung: das sind die Glieder einer Lebenskette, wie sie der natürliche Egoismus will.
Ein solches Leben, das ein unaufhörliches Taumeln von Begierde zu Genuß wäre, ist nirgends anzutreffen und faktisch unmöglich. Keine Idee ist vollkommen unabhängig und selbständig; sie wirkt zwar unablässig und will ihre Individualität zur Geltung bringen, sie sei eine chemische Kraft oder ein Mensch, aber ebenso unablässig wirkt die ganze übrige Welt auf sie und beschränkt sie. Nehmen wir einen großen Theil dieser Einflüsse fort und bleiben nur bei denjenigen stehen, welche von Menschen auf Menschen ausgeübt werden, so gewinnen wir schon das Bild des höchsten Kampfes, dessen Folge ist, daß unter hundert Wünschen nur einer befriedigt wird und fast immer der, dessen Befriedigung man am wenigsten ersehnt; denn jeder Mensch will die volle Befriedigung seiner besonderen Begierde, und weil sie ihm streitig gemacht wird, muß er darum kämpfen, und deshalb ist nirgends ein Lebenslauf anzutreffen, der aus der glatten Aneinanderfügung erfüllter Wünsche entstanden wäre, selbst da nicht, wo das Individuum mit der unbeschränkten Gewalt über Millionen bekleidet ist. Denn eben in dieser Stellung, ja im Individuum selbst, liegen unerschütterliche Schranken, an denen der Wille immer anbrandet und unbefriedigt auf sich zurückgeworfen wird.
4.
Da nun der natürliche Egoismus des Menschen ein solches Leben, das er auf’s Innigste will, nicht haben kann, so sucht er den Genuß (befriedigte Begierde) so oft als möglich zu erlangen, oder, da er auch in Lagen kommen kann, wo es sich gar nicht mehr um Genuß, sondern um Schmerz handelt, welche Lagen, der Art des Kampfes nach, die gewöhnlichen sind, den geringsten Schmerz. Steht der Mensch mithin vor zwei Genüssen, so will er sie beide; hat er aber nur die Wahl zwischen beiden, so will er den größeren. |
i171 Und steht er vor zwei Uebeln, so will er keines; muß er aber wählen, so wählt er das kleinere.
So handelt der Mensch vor gegenwärtigen Uebeln oder Genüssen, unter der Voraussetzung, daß sein Geist richtig abwägen kann. Da er aber, in Folge seiner höheren Erkenntnißvermögen, nicht auf die Gegenwart allein beschränkt ist, sondern die Folgen vorstellen kann, welche Handlungen in der Zukunft haben werden, so hat er noch die Wahl in zwölf anderen Fällen, nämlich zwischen:
1) einem Genuß in der Gegenwart und einem größeren Genuß in der Zukunft
2),,,,,,,,,,,,,, kleineren Genuß i. d. Z.
3),,,,,,,,,,,,,, gleichen,,,,
4),,,,,,,,,,,,,, größeren Leid,,
5),,,,,,,,,,,,,, kleineren,,,,
6),,,,,,,,,,,,,, gleichen,,,,
7),, Leid,,,,,,,,,, größeren,,,,
8),,,,,,,,,,,,,, kleineren,,,,
9),,,,,,,,,,,,,, gleichen,,,,
10),,,,,,,,,,,,,, größeren Genuß,,
11),,,,,,,,,,,,,, kleineren,,,,
12),,,,,,,,,,,,,, gleichen,,,,
Zu einem Kampf wird es in den Fällen
2, 3, 5, 6, 8, 9, 11, 12,
also in 8 Fällen, nicht kommen, denn der Wille muß
1) in den Fällen 2 und 3 einen Genuß in der Gegenwart einem kleineren oder gleichen Genuß in der Zukunft vorziehen;
2) in den Fällen 5 und 6 einen Genuß in der Gegenwart ergreifen, wenn ihn auch dafür in der Zukunft ein kleineres oder gleiches Leid trifft;
3) in den Fällen 8 und 9 einem Leid in der Gegenwart ein kleineres oder gleiches Leid in der Zukunft vorziehen;
4) in den Fällen 11 und 12 auf einen Genuß in der Zukunft verzichten, wenn ihn dafür in der Gegenwart ein größeres oder gleiches Leid treffen soll.
Der Wille müßte selbst dann so handeln, wenn er sicher wäre, daß er dem Leid, resp. dem Genuß, in der Zukunft begegnen wird. Da aber kein Mensch wissen kann, wie sich die Zukunft gestalten, |
i172 ob ihm der Genuß, resp. das Leid, begegnen wird, ferner ob er überhaupt noch zur Zeit leben wird, wo ihm der Genuß zu Theil werden, oder das Leid ihn treffen soll, so ist im practischen Leben die Nothwendigkeit noch bedeutend zwingender für den Menschen, in der angegebenen Weise zu handeln.
Dagegen wird der Wille in den Fällen 1, 4, 7, 10 heftig schwanken. Stellt er sich nun auf den Standpunkt der völligen Ungewißheit der Zukunft, so wird sich der Wille sehr oft für die genußreiche, resp. schmerzlose Gegenwart entscheiden; denn wer kann ihm
1) in den Fällen 1 und 10 den größeren Genuß garantiren, den er sich im Falle 1 durch Verzicht auf einen Genuß in der Gegenwart und im Falle 10 durch Erduldung eines Leids in der Gegenwart erkauft? und wer kann behaupten
2) daß er im Falle 4 nicht doch dem Leid entrinnt, das er, durch einen Genuß in der Gegenwart, einst erleiden soll, und daß er, im Falle 7, auch wirklich einem größeren Leid in der Zukunft dadurch entronnen ist, daß er ein Leid in der Gegenwart ertrug?
Ist jedoch der Wille der Zukunft auf irgend eine Weise gewiß – und es giebt ja Handlungen, deren Folge in der Zukunft den Menschen ganz bestimmt treffen, – so wird er zwar einen heftigen Kampf kämpfen, aber sich doch schließlich in allen vier Fällen, wenn er besonnen ist, für die Zukunft entscheiden. Dann muß er
1) in den Fällen 1 und 4 auf einen Genuß in der Gegenwart verzichten, um sich, im Falle 1, einen größeren Genuß in der Zukunft zu erkaufen, und um, im Fall 4, einem größeren Leid in der Zukunft zu entgehen;
2) in den Fällen 7 und 10 ein Leid in der Gegenwart erdulden, um, im Falle 7, einem größeren Leid in der Zukunft zu entfliehen, und, im Falle 10, einen größeren Genuß in der Zukunft zu erlangen.
Ich will indessen schon hier darauf hinweisen, daß, weil die Macht der Gegenwart die der Zukunft bedeutend überwiegt, sichere Genüsse in der Zukunft nur dann das Individuum zu sich ziehen, und sichere Uebel in der Zukunft es nur dann wirksam beeinflussen können, wenn sie bedeutend den Genuß in der Gegenwart, resp. das in der Gegenwart zu erduldende Leid, an Größe übertreffen. |
i173 Das Individuum muß klar und deutlich seinen Vortheil sehen, sonst wird es dem Zauber der Gegenwart unfehlbar unterliegen.
Hieraus ergiebt sich, daß der Mensch eine vollkommene Deliberationsfähigkeit, resp. eine vollkommene Wahlentscheidung hat und unter Umständen gegen seinen Charakter handeln muß, nämlich, wenn eine Handlung seinem Wohle, im Ganzen betrachtet, oder seinem allgemeinen Wohle, entgegen wäre.
5.
Es ist der Geist, der dieses allgemeine Wohl in jedem einzelnen Falle, oder auch ein für alle Mal, feststellt; denn obgleich es der Wille selbst ist, der denkt, wie er verdaut, greift, geht, zeugt u.s.w., so dürfen wir doch, aus dem oben angegebenen Grunde, das Erkenntnißvermögen vom Willen getrennt halten. Wir sind uns dabei stets bewußt, daß wir es mit einer untrennbaren Verbindung und, im Grunde, mit einem einzigen Princip zu thun haben, sowie ferner, daß, wie wir in der Physik gesehen haben, ein Antagonismus zwischen Willen und Geist nie stattfinden kann. Nur bildlich kann man sagen: der Geist giebt dem Willen Rath, oder hadert mit ihm u.s.w., denn immer ist es der Wille selbst, der vermöge eines seiner Organe, sich beräth, mit sich hadert. Aber völlig unzulässig, selbst im Bilde, ist vom Zwange der Vernunft und von einer möglichen Herrschaft derselben über den Willen zu sprechen; denn selbst, wenn wir es wirklich mit einer Zusammenschweißung zweier selbständigen Principien zu thun hätten, so würde doch nie der Geist zum Willen in das Verhältniß eines Herrn zum Diener treten, sondern höchstens sein machtloser Berather sein können.
Wie wir wissen, ist nun der Geist, obgleich er mit bestimmten Anlagen in das Leben tritt, sehr ausbildungsfähig. Die Hülfsvermögen der Vernunft, von denen der Grad der Intelligenz allein abhängt, können, je nach Behandlung, verkümmern, so daß Blödsinn eintritt, oder zu einer Entfaltung gebracht werden, die Genialität genannt wird. Den Geist zu entwickeln, ist die einzige Aufgabe der Erziehung, wenn man von der körperlichen Ausbildung absieht; denn auf den Charakter kann nur durch den Geist eingewirkt werden und zwar so, daß dem Zögling klar und deutlich die Nachtheile und Vortheile gezeigt werden, welche die Folgen von Handlungen sind, oder, mit |
i174 anderen Worten, daß man ihn deutlich erkennen läßt, wo sein wahres Wohl liegt.
Die gute Erziehung stärkt Urtheilskraft und Gedächtniß und weckt entweder die Phantasie, oder zügelt sie. Zu gleicher Zeit läßt sie den Geist eine größere oder kleinere Summe von Erkenntnissen in sich aufnehmen, die auf der Erfahrung beruhen und jederzeit von ihr bestätigt werden. Alle anderen Erkenntnisse, mit denen sie ihn vertraut macht, versieht sie mit dem Stempel der Ungewißheit.
Neben dieser guten Erziehung geht die schlechte, in Schule und Familie, her, welche den Kopf des Menschen mit Hirngespinnsten, Aberglauben und Vorurtheilen erfüllt und ihn dadurch unfähig macht, einen klaren Blick in die Welt zu werfen. Die spätere Erfahrung wird ihn allerdings untersuchen und vieles Eingebildete und Falsche herausnehmen, aber auch oft eben dieses Eingebildete und Falsche stärken und erst recht hervortreten lassen, wenn das Individuum das Unglück hat, in Kreise zu gerathen, wo alles Absurde in ihm gedeihliche Pflege empfängt.
Je nachdem nun der Geist eines Menschen ein mehr oder weniger gebildeter oder verbildeter, ein entwickelter oder ein verkümmerter ist, wird der Wille mehr oder weniger befähigt sein, sowohl sein echtes Wohl im Allgemeinen zu erkennen, als in jedem einzelnen Falle zu beurtheilen, welche Handlung seinem Interesse am besten entspricht, und hiernach sich entscheiden.
6.
Der Charakter des Menschen ist angeboren, aber nicht unveränderlich; seine Veränderlichkeit jedoch bewegt sich in sehr engen Grenzen, da das Temperament gar nicht und einzelne Willensqualitäten nur insofern eine Veränderung erleiden können, als durch frühe Einprägung von Lehren und durch Beispiele, oder durch die Keulenschläge des Schicksals, durch großes Unglück und schweres Leiden – was Alles von der Erkenntniß abhängt, da es nur durch den Geist auf den Willen einfließen kann – eine hervorstechende Willensqualität wieder zum bloßen Keim herabgedrückt, eine andere erweckt und entfaltet werden kann.
Wäre der menschliche Wille nicht erkennend, so würde er schlechthin unveränderlich sein, wie die Natur der chemischen Kraft, oder besser, es würden die unablässigen Einwirkungen des Klimas, des |
i175 Kampfes um das Dasein von Jahrtausenden nöthig sein, um eine leichte Veränderung hervorzubringen, wie sie an Pflanzen und Thieren nachgewiesen worden ist. Aber vermittelst seines Geistes ist er Einwirkungen ausgesetzt, die viel tiefer in ihn eindringen als die gedachten Einflüsse, die ihn würgen und erschüttern. Ja, wie wir später sehen werden, können ihn Erkenntnisse derartig entflammen, daß er schmilzt und insofern als ein total anderer angesehen werden muß, als seine Thaten jetzt ganz andere sind. Dann ist es, als ob ein Dornbusch plötzlich Feigen trüge, und dennoch hat sich kein Wunder begeben.
7.
In jedem Augenblicke seines Lebens aber ist der Mensch die Verbindung eines bestimmten Dämons und eines bestimmten Geistes, kurz, zeigt er eine ganz bestimmte Individualität, wie jedes Ding in der Natur. Jede seiner Handlungen ist das Produkt dieses für den Augenblick festen Charakters und eines zureichenden Motivs und muß mit derselben Nothwendigkeit erfolgen, mit der ein Stein zur Erde fällt. Wirken mehrere Motive zu gleicher Zeit auf ihn ein, sie mögen nun anschaulich vor ihm stehen oder in der Vergangenheit und Zukunft liegen, so findet ein Kampf statt, aus dem dasjenige siegreich hervorgeht, welches das stärkste ist. Dann erfolgt auch die That gerade so, als wäre von vornherein nur ein zureichendes Motiv vorhanden gewesen.
8.
Aus dem Bisherigen ergiebt sich, daß die Thaten des Menschen nicht stets auf die gleiche Weise entstehen: entweder folgt der Wille nur seiner Neigung in der Gegenwart, ohne die Zukunft zu berücksichtigen, ohne überhaupt auf sein Wissen im weitesten Sinne zu achten, oder er entscheidet sich nach seinem allgemeinen Wohle. Im letzteren Falle handelt er entweder in Uebereinstimmung mit der Natur seines Willens, oder gegen dieselbe.
Handelt er nun, unter dem Zauber der Gegenwart stehend, seiner Neigung gemäß, aber gegen sein besseres Wissen, so wird er nach der That, je nach ihrer Bedeutung, heftige oder leise Gewissensbisse empfinden, d.h. dieselbe Stimme in ihm, welche vor der That, im Hinblick auf sein allgemeines Wohl, rieth, dem |
i176 gegenwärtigen Genuß zu entsagen, wird nach der That wieder laut und wirft ihm seine Unbesonnenheit vor. Sie sagt ihm: du hast gewußt, daß die Unterlassung in deinem wahren Interesse lag und hast die That dennoch gethan.
Die Gewissensbisse steigern sich zur Gewissensangst, entweder aus Furcht vor Entdeckung einer strafwürdigen Handlung, oder aus Furcht vor einer gewissen Strafe nach dem Tode.
Vom Gewissensbisse verschieden, aber sehr nahe mit ihm verwandt, ist die Reue; denn die Reue entsteht nur aus einem nachträglichen Wissen. Habe ich in der Uebereilung gehandelt, d.h. hatte mein Gewissen keine Zeit, mich zu warnen, oder handelte ich unter dem Einflusse eines Motivs, das ich für echt hielt, das sich aber hintennach als falsch erwies, oder setze ich überhaupt später, in Folge einer berichtigten Erkenntniß, mein Wohl in etwas ganz Anderes, als zur Zeit der That, so bereue ich Thaten, die in keiner Weise mein Gewissen belasten können; denn die Stimme, die in der Reue zu mir spricht, hat vor der That nicht gesprochen.
Gewissensbisse, Gewissensangst und Reue sind ethische Zustände des Willens und zwar der Unlust.
Hierher gehört auch die Hallucination. Von Gewissensbissen gefoltert, kommt der Dämon (objektiv ausgedrückt: das Blut) in eine so gewaltige Aufregung, daß er den Geist zwingt, immer nur mit Einem Gegenstand sich zu beschäftigen, wodurch, und durch die erhöhte Actuirung des Gehirnlebens, die Eindrücke der Außenwelt unterdrückt werden und nun der Ermordete z.B. deutlich und rein objektiv aus der Dunkelheit hervortritt und sich vor den entsetzensvollen Dämon stellt.
9.
Es möchte nun scheinen, daß der Mensch das liberum arbitrium indifferentiae habe, d.h. daß sein Wille frei sei, weil er, wie wir gesehen haben, Thaten ausführen kann, die durchaus nicht seinem Charakter gemäß, vielmehr seiner Natur gänzlich zuwider sind. Dies ist aber nicht der Fall: der Wille ist niemals frei und Alles in der Welt geschieht mit Nothwendigkeit.
Jeder Mensch hat zur Zeit, wo ein Motiv an ihn herantritt, einen bestimmten Charakter, der, ist das Motiv zureichend, handeln muß. Das Motiv tritt mit Nothwendigkeit auf (denn jedes Motiv |
i177 ist immer das Glied einer Causalreihe, welche die Nothwendigkeit beherrscht), und der Charakter muß ihm mit Nothwendigkeit folgen, denn er ist ein bestimmter und das Motiv ist zureichend.
Nun setze ich den Fall: das Motiv sei zureichend für meinen Charakter, aber unzureichend für mein ganzes Ich, weil mein Geist mein allgemeines Wohl, als Gegenmotiv, aufstellt und dieses stärker als jenes ist. Habe ich nun frei gehandelt, weil ich einem für meinen Charakter zureichenden Motiv nicht nachgab? In keiner Weise! Denn mein Geist ist von Natur ein bestimmter und seine Ausbildung, nach irgend einer Richtung hin, geschah mit Nothwendigkeit, weil ich zu dieser Familie gehöre, in dieser Stadt geboren wurde, diese Lehrer hatte, diesen Umgang pflegte, diese bestimmten Erfahrungen machte u.s.w. Daß dieser mit Nothwendigkeit gewordene Geist mir, im Moment der Versuchung, ein Gegenmotiv geben kann, das stärker ist als alle anderen, durchbricht die Nothwendigkeit durchaus nicht. Auch die Katze handelt gegen ihren Charakter, unter dem Einflusse eines Gegenmotivs, wenn sie in Gegenwart der Köchin nicht nascht, und doch hat noch Niemand einem Thiere den freien Willen zugesprochen.
Ich deute ferner schon jetzt an, daß der Wille, durch Erkenntniß seines wahren Wohls, so weit gebracht werden kann, daß er seinen innersten Kern verneint und das Leben nicht mehr will, d.h. sich in vollen Widerspruch mit sich selbst setzt. Aber, wenn er dies thut, handelt er frei? Nein! Denn alsdann ist die Erkenntniß mit Nothwendigkeit in ihm aufgegangen und mit Nothwendigkeit muß er ihr folgen. Er kann nicht anders, so wenig als das Wasser bergauf fließen kann.
Wenn wir demnach einen Menschen nicht seinem bekannten Charakter gemäß handeln sehen, so stehen wir dennoch vor einer Handlung, die ebenso nothwendig eintreten mußte, wie die eines anderen Menschen, der nur seiner Neigung folgte; denn im ersteren Falle entstand sie aus einem bestimmten Willen und einem bestimmten deliberationsfähigen Geiste, welche beide mit Nothwendigkeit zusammen wirkten. Aus der Deliberationsfähigkeit des Geistes auf die Freiheit des Willens zu schließen, ist der größte Fehlschluß, der gemacht werden kann.
Wir haben es in der Welt immer nur mit nothwendigen Bewegungen des individuellen Willens zu thun, es seien nun einfache |
i178 oder resultirende Bewegungen. Nicht weil der Wille im Menschen mit einem deliberationsfähigen Geiste verbunden ist, ist er frei, sondern er hat nur aus diesem Grunde eine andere Bewegung als das Thier. Und hier liegt auch der Schwerpunkt der ganzen Untersuchung. Die Pflanze hat eine andere Bewegung als ein Gas oder eine Flüssigkeit oder ein fester Körper, das Thier eine andere als die Pflanze, der Mensch eine andere als das Thier. Das letztere ist der Fall, weil sich im Menschen die einseitige Vernunft zu einer vollkommenen weitergebildet hat. Durch dieses neue, aus dem Willen geborene Werkzeug übersieht der Mensch die Vergangenheit und blickt dem Zukünftigen entgegen: nun kann ihn, in jedem gegebenen Fall, sein Wohl im Allgemeinen bewegen, auf einen Genuß zu verzichten oder ein Leid zu erdulden, d.h. zu Thaten zwingen, welche seinem Willen nicht gemäß sind. Der Wille ist nicht frei geworden, aber er hat einen außerordentlich großen Gewinn gemacht: er hat eine neue Bewegung erlangt, eine Bewegung, deren große Bedeutung wir weiter unten voll erkennen werden.
Der Mensch ist also nie frei, ob er gleich ein Princip in sich trägt, das ihn befähigen kann, gegen seinen Charakter zu handeln; denn dieses Princip ist mit Nothwendigkeit geworden, gehört mit Nothwendigkeit zu seinem Wesen, da es ein Theil der ihm inhärirenden Bewegung ist, und wirkt mit Nothwendigkeit.
10.
Im Bisherigen haben wir von den Handlungen der Menschen im Allgemeinen gesprochen und gefunden:
1) daß der Wille des Menschen nicht frei ist;
2) daß alle seine Handlungen mit Nothwendigkeit geschehen;
3) daß er sich, auf Grund des Glückseligkeitstriebes und vermöge des Geistes, ein allgemeines Wohl bilden kann;
4) daß dieses Wohl ihn, unter Umständen, veranlassen kann, gegen seinen Charakter zu handeln.
Diese Resultate stehen gleichsam in der Vorhalle der Ethik. Jetzt betreten wir ihren Tempel, d.h. wir haben die Handlungen des in bestimmten Verhältnissen und Formen sich bewegenden Menschen zu prüfen und sein Glück zu untersuchen.
Das erste Verhältniß, dem wir begegnen, ist der Naturzustand. Wir haben denselben in der Ethik nur einfach zu definiren als |
i179 Negation des Staates, oder als diejenige Lebensform der Menschen, die dem Staate vorhergegangen ist.
Betrachten wir nun den Menschen unabhängig vom Staate, frei von dessen Gewalt, d.h. lediglich als einen Theil der Natur, wie jeden anderen individuellen Willen, so steht er unter keiner anderen Gewalt, als der der Natur. Er ist eine in sich geschlossene Individualität, die, wie jedes andere Individuum, es sei chemische Kraft, Pflanze oder Thier, das Leben in einer ganz bestimmten Weise will und unablässig strebt, sich im Dasein zu erhalten. In diesem Streben wird sie jedoch von sämmtlichen anderen Individuen beschränkt, die das gleiche Streben haben.
Hierdurch entsteht der Kampf um’s Dasein, aus welchem der Stärkste oder Listigste als Sieger hervorgeht. Jeder Mensch kämpft ihn, um sich im Dasein zu erhalten: dies ist sein ganzes Streben, und keine Stimme, weder aus der Höhe, noch aus der Tiefe, noch in ihm, beschränkt ihn in den Mitteln, die ihm dienen können. Alles ist seinem Egoismus gestattet, alle Handlungen, die wir im Staate Mord, Raub, Diebstahl, Lug, Trug, Schändung u.s.w. nennen; denn welcher anderen Macht steht er im Naturzustande gegenüber, als individuellen Willen, gleich ihm, die sich, wie er, im Dasein erhalten wollen?
Weder begeht er ein Unrecht in diesem Kampfe, noch hat er ein Recht: nur die Macht entscheidet oder die List. Er hat weder ein Recht auf sich selbst oder auf irgend ein Besitzthum, noch hat er ein Recht auf andere Wesen oder deren Besitzthum. Er ist einfach und sucht sich im Dasein zu erhalten. Kann er dies nur thun durch Mord und Raub, so mordet und raubt er ohne Unrecht zu thun, und kann er sich oder sein Besitzthum nicht vertheidigen, so wird er, ohne daß ihm Unrecht geschehe, beraubt und vernichtet; denn wer sollte ihn hindern? wer sollte die Anderen hindern? Ein gewaltiger, irdischer Richter? Es giebt im Naturzustand keinen Richter. Ein Gottesbewußtsein? Der Mensch hat im Naturzustand kein Gottesbewußtsein, so wenig wie das Thier.
Recht und Unrecht sind Begriffe, die im Naturzustand ohne irgend eine Bedeutung sind: sie haben nur im Staate einen Sinn, auf den wir jetzt übergehen wollen.
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11.
Jede Handlung des Menschen, die höchste wie die niedrigste, ist egoistisch; denn sie fließt aus einer bestimmten Individualität, einem bestimmten Ich, bei zureichendem Motiv, und kann in keiner Weise unterbleiben. Auf den Grund der Verschiedenheit der Charaktere einzugehen, ist hier nicht der Ort; wir haben sie einfach als Thatsache hinzunehmen. Es ist nun dem Barmherzigen ebenso unmöglich, seinen Nächsten darben zu lassen, wie dem Hartherzigen, dem Dürftigen beizuspringen. Jeder von Beiden handelt seinem Charakter, seiner Natur, seinem Ich, seinem Glück gemäß, folglich egoistisch; denn wenn der Barmherzige die Thränen Anderer nicht trocknete, wäre er glücklich? Und wenn der Hartherzige die Leiden Anderer linderte, wäre er befriedigt?
In der Folge wird die unumstößliche Wahrheit, daß jede Handlung egoistisch ist, ganz deutlich hervortreten. Ich habe sie an dieser Stelle erwähnt, da wir sie von jetzt an nicht mehr entbehren können.
Im Naturzustand ist der Kräftigste oder Listigste gewöhnlich der Sieger, der Schwache oder Dumme gewöhnlich der Besiegte. Es können aber auch Fälle vorkommen, wo der Kräftigste überwunden und der Listigste überlistet wird; denn wer schützt den Starken im Schlaf? oder wenn er alt oder krank ist? oder wie soll er siegen, wenn er von verbundenen Schwachen angegriffen wird? Diese leicht verschiebbaren Machtverhältnisse im Naturzustand mußten Alle, die Schwachen sowohl, als auch die Starken, zur Erkenntniß führen, daß eine gegenseitige Beschränkung der Macht im Interesse eines Jeden liege.
Es ist hier nicht meine Aufgabe, zu untersuchen, wie der Uebergang aus dem Naturzustand in den Staat stattfand, ob auf rein dämonischen Antrieb, oder durch vernünftige Wahl des kleineren von zwei Uebeln. Wir nehmen in der Ethik an, daß der Staat ein Werk der Vernunft ist und auf einem Vertrag beruht, den die Menschen widerwillig abgeschlossen haben: aus Noth, um einem größeren Uebel, als das der Beschränkung ihrer individuellen Macht war, vorzubeugen.
Der Grundcharakter des ächten Staates, auch in seiner unvollkommensten Form, ist, daß er seinen Bürgern mehr giebt als er |
i181 ihnen nimmt, daß er ihnen, Alles in Allem, einen Vortheil gewährt, der das Opfer überwiegt; denn wäre der Vortheil so groß wie das Opfer gewesen, so würde nie der Staat entstanden sein.
Es traten also Menschen, geleitet von der Erkenntniß, daß ein sicheres Leben im Naturzustand unmöglich, daß ein unsicheres Leben ein in der Einrichtung der Natur begründetes, auf gewöhnlichem Wege nicht zu zerstörendes Uebel sei, zusammen und sagten:»wir sind alle gewaltthätige Menschen; Jeder ist in seinem Egoismus eingeschlossen und betrachtet sich als die einzige Realität in der Welt; wo wir den Anderen zu unserem Vortheil schaden können, thun wir es; aber unser Wohl wird dadurch nicht gefördert. Wir müssen schlafen, wir müssen uns von unserer Hütte entfernen, weil wir sonst verhungern, wir können krank werden, und unsere Kraft schwindet im Alter dahin. Unsere Macht ist also bald groß, bald klein, und alle Vortheile, die wir uns erringen, wenn sie groß ist, zerfließen in einer Minute, wenn sie klein ist. Wir werden unserer Habe niemals froh, weil sie nicht gesichert ist. Was hilft uns demnach die Befriedigung unserer Begierden, wenn wir, Alles in Allem genommen, nur dadurch verlieren? Wir wollen also fortan die Habe eines Jeden von uns unangefochten lassen.«Und jetzt erst entstand der Begriff Diebstahl, der im Naturzustand gar nicht möglich war, denn er steht und fällt mit einem garantirten Besitz.
Sie sagten ferner:»Wir sind Alle gewaltthätige Menschen; wenn sich Einer zwischen uns und unseren Vortheil stellt, so sinnen wir nur darauf, wie wir ihn vernichten können, und trachten ihm nach dem Leben. Aber unsere Stärke oder List ist nicht immer die gleiche. Heute können wir siegen und morgen besiegt sein. Wir können somit unseres Lebens nie froh werden, weil wir beständig in Lebensgefahr schweben. Wir wollen also noch einen Theil unserer Macht opfern, damit unser Wohl im Ganzen wachse, und wir erklären: fortan soll das Leben eines Jeden von uns gesichert sein.«Und jetzt erst entstand der Begriff Mord, denn er bezeichnet die Vernichtung eines garantirten Lebens.
Дата добавления: 2015-11-14; просмотров: 47 | Нарушение авторских прав
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