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28.

Die Entzündung des Willens an der Erkenntniß, daß sich die Menschheit aus dem Sein in das Nichtsein bewege, und an der anderen, daß Nichtsein besser ist als Sein, oder auch an der letzteren allein, welche, unabhängig von jener, durch einen klaren Blick in die Welt erlangt werden kann, – ist die philosophische Verneinung des individuellen Willens zum Leben. Der also entzündete Wille will bis zum Tode den glücklichen Zustand des Herzensfriedens, ohne Unterbrechung, und im Tode die völlige Vernichtung, die volle und ganze Erlösung von sich selbst. Er will aus dem Buche des Lebens ausgestrichen sein für immer, er will mit der erloschenen Bewegung das Leben und mit dem Leben den innersten Kern seines Wesens vollständig verlieren. Diese bestimmte Idee |

i219 will vernichtet, dieser bestimmte Typus, diese bestimmte Form, will für immer zerbrochen sein.

Die immanente Philosophie kennt keine Wunder und weiß Nichts von Ereignissen in einer unerkennbaren anderen Welt zu erzählen, welche Folgen von Handlungen in dieser Welt wären. Deshalb giebt es für sie nur eine vollkommen sichere Verneinung des Willens zum Leben; es ist die durch Virginität. Wie wir in der Physik gesehen haben, findet der Mensch im Tode absolute Vernichtung; trotzdem wird er nur scheinbar vernichtet, wenn er in Kindern weiterlebt; denn in diesen Kindern ist er bereits vom Tode auferstanden: er hat in ihnen das Leben neuerdings ergriffen und es für eine Zeitdauer bejaht, die unbestimmbar ist. Dies fühlt Jeder instinktiv. Die unüberwindliche Abneigung der Geschlechter nach der Begattung, im Thierreich, tritt im Menschen als eine tiefe Trauer auf. In ihm klagt eine leise Stimme, wie Proserpina:

Wie greift’s auf einmal

Durch diese Freuden,

Durch diese offene Wonne

Mit entsetzlichen Schmerzen,

Mit eisernen Händen

Der Hölle durch! – –

Was hab’ ich verbrochen,

Daß ich genoß?

Und höhnisch ruft die Welt:

Du bist unser!

Nüchtern solltest wiederkehren

Und der Biß des Apfels macht dich unser!

(Goethe.)

Deshalb auch kann die immanente Philosophie der Todesstunde nicht die allergeringste Wichtigkeit und Bedeutung beilegen. In ihr steht dem Menschen keine Entscheidung mehr darüber zu, ob er das Leben nochmals will, oder todt sein will für immer. Die Reue über schlechte Thaten, welche auf dem Sterbebette deshalb so oft auftritt, weil die Erkenntniß plötzlich sich ändert und man deutlich und klar einsieht, wie nutzlos doch alles irdische Streben war – Alles, woran das Herz hing, muß verlassen werden – ist die thörichteste Selbstquälerei. Der Sterbende sollte Alles vergessen, im Hin|blick

i220 darauf, daß er genug in diesem Leben gelitten und Alles schon lebend verbüßt hat, und sollte sich nur an seine Nachkommen richten, sie eindringlich ermahnend, abzulassen vom Leben, dem das Leiden wesentlich ist. Und in der Hoffnung, daß seine Worte auf günstigen Boden gefallen sind, daß er bald in seinen Kindern erlöst werden wird, möge er ruhig sein Leben verhauchen.

Dagegen legt die immanente Philosophie der Stunde, in welcher ein neues Leben entzündet werden soll, die allergrößte Wichtigkeit bei; denn in ihr hat der Mensch die volle Entscheidung darüber, ob er weiterleben, oder im Tode wirklich vernichtet sein will. Nicht der Kampf des Lebens mit dem Tode auf dem Sterbebette, in dem der Tod siegt, sondern der Kampf des Todes mit dem Leben bei der Begattung, in dem das Leben siegt, ist bedeutungsvoll. Wenn das Individuum in heftigster Leidenschaft seine Zähne in das Dasein schlägt und es mit stahlharten Armen umklammert: im Taumel der Wollust wird die Erlösung verscherzt. Im tollen ausgelassenen Jubel merkt der arme Bethörte nicht, daß ihm der kostbarste Schatz aus den Händen gewunden wird. Für die kurze Wonne hat er nicht endloses, aber vielleicht langes, langes Leiden, schwere Daseinspein eingetauscht, und es frohlocken die Parzen:

Du bist unser!

während sein Genius sich verhüllt.

 

29.

Obgleich demnach die Verneinung des Willens nur dann den Lebensfaden des Individuums wirklich im Tode abschneidet, wenn sie sich auf dem Grunde vollkommener Keuschheit vollzieht, so kann sie doch auch solche Menschen ergreifen, welche in Kindern bereits weiterleben. Sie bewirkt aber alsdann nur das Glück des Individuums für den Rest der Lebensdauer. Doch sollen und werden die unvollkommenen Folgen der Verneinung in solchen Fällen das Individuum nicht beunruhigen. Es wird versuchen, in den Kindern die wahre Erkenntniß zu erwecken und sie auf sanfte Weise auf den Weg der Erlösung zu führen. Dann wird es vollen Trost aus der Gewißheit schöpfen, daß neben der individuellen Erlösung die allgemeine herschreitet, daß der ideale Staat über kurz oder lang die gesammte Menschheit umfassen und diese dann das»große Opfer«, wie die Inder sagen, bringen wird. Ja, er wird |

i221 hieran Veranlassung nehmen, sich voll und ganz dem Allgemeinen hinzugeben, damit der ideale Staat so bald als möglich real werde.

 

30.

Diejenigen, welche mit Sicherheit der Erlösung durch den Tod entgegenblicken, stehen zwar entwurzelt in der Welt und haben nur das eine Verlangen: bald aus ihrem tiefen Herzensfrieden in die volle Vernichtung überzutreten, aber ihr ursprünglicher Charakter ist nicht todt. Er ist nur in den Hintergrund getreten; und wenn er auch das Individuum nicht mehr zu Thaten veranlassen kann, die ihm gemäß wären, so wird er doch dem übrigen Leben des in der Verneinung Stehenden eine besondere Färbung geben.

Aus diesem Grunde werden Diejenigen, welche in der Gewißheit der individuellen Erlösung stehen, nicht eine und dieselbe Erscheinung darbieten. Nichts würde verkehrter sein, als dies anzunehmen. Der Eine, der stolz und schweigsam war, wird nicht redselig und leutselig werden, der Andere, dessen liebevolles Wesen überall, wohin er kam, die wohlthuendste Wärme verbreitete, wird nicht scheu und finster werden, ein Dritter, der melancholisch war, wird nicht ausgelassen heiter werden.

Ebenso wird die Thätigkeit und Beschäftigung nicht bei Allen die gleiche sein. Der Eine wird sich von der Welt vollkommen abschließen, in die Einsamkeit entfliehen und sich, wie die religiösen Büßer, kasteien, weil er von der Erkenntniß ausgeht, daß nur ein stets gedemüthigter Wille in der Entsagung erhalten werden kann; ein Anderer wird nach wie vor in seinem Berufe bleiben; ein Dritter wird nach wie vor die Thränen der Unglücklichen stillen mit Wort und That; ein Vierter wird kämpfen für sein Volk oder für die ganze Menschheit, wird sein ihm durchaus werthloses Leben einsetzen, damit die Bewegung nach dem idealen Staate, in welchem allein die Erlösung Aller stattfinden kann, eine beschleunigtere werde.

Wer sich in der Verneinung des Willens ganz auf sich zurückzieht, verdient die volle Bewunderung der Kinder dieser Welt; denn er ist ein»Kind des Lichts«und wandelt auf dem richtigen Weg. Nur Unwissende oder Schlechte können es wagen, ihn mit Koth zu bewerfen. Aber höher muß und soll man Denjenigen schätzen, der, unbeweglich im Innern, den äußeren Menschen heftig bewegen und leiden läßt, um seinen verdüsterten Brüdern zu |

i222 helfen: unermüdlich, strauchelnd, blutend sich wieder erhebend, die Fahne der Erlösung nimmer aus der Hand lassend, bis er zusammenbricht im Kampfe für die Menschheit und das herrliche sanfte Licht in seinen Augen erlischt. Er ist die reinste Erscheinung auf dieser Erde: ein Erleuchteter, ein Erlöser, ein Sieger, ein Märtyrer, ein weiser Held. –

Nur darin werden Alle übereinstimmen, daß sie der Gemeinheit abgestorben und unempfänglich sind für Alles, was den natürlichen Egoismus bewegen kann, daß sie das Leben verachten und den Tod lieben. – Und ein Erkennungszeichen werden alle tragen: die Milde.»Sie eifern nicht, sie blähen sich nicht, sie ertragen Alles, sie dulden Alles,«sie verurtheilen nicht und steinigen nicht, sie entschuldigen immer und werden nur freundlich den Weg anempfehlen, auf dem sie so köstliche Ruhe und den herrlichsten Frieden gefunden haben. –

Ich erwähne hier noch den merkwürdigen Zustand, der der Verneinung des Willens vorhergehen kann: den Haß gegen sich selbst. Er ist ein Uebergangszustand und der schwülen Frühlingsnacht zu vergleichen, in der die Knospen sich öffnen.

 

31.

Zum Schlusse will ich noch ein Wort über die Religion der Erlösung sagen.

Indem Christus nur Dem das Himmelreich versprach, welcher nicht bloß gerecht und barmherzig ist, sondern auch Ungerechtigkeiten und Peinigungen ohne Bitterkeit erträgt:

Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel, sondern so dir jemand einen Streich giebt auf den rechten Backen, dem biete den andern auch dar. (Matth, 5, 39.)

verlangte er vom Menschen beinahe vollständige Selbstverleugnung. Indem er aber ferner Demjenigen, welcher den Geschlechtstrieb unterdrückt, eine ganz besondere Belohnung verhieß, forderte er den Menschen auf, seine Individualität vollständig aufzugeben, seinen natürlichen Egoismus ganz zu ertödten.

Warum stellte er diese schweren Forderungen? Die Antwort liegt eben in der Verheißung des Himmelreichs; denn nur Der, welcher seine ursprüngliche Individualität verloren hat, in dem Adam |

i223 gestorben und Christus auferstanden ist, kann wahrhaft glücklich werden und den inneren Frieden erlangen.

Weil dies eine Wahrheit ist, die nie umgestoßen werden kann, ja weil es die höchste Wahrheit ist, kann auch die Philosophie keine andere an ihre Stelle setzen. Und darum ist der Kern des Christenthums ein unzerstörbarer und enthält die Blüthe aller menschlichen Weisheit. Weil die unabänderliche Bewegung der Menschheit der Boden des Christenthums ist, ruht seine Ethik auf unerschütterlicher Basis und kann erst untergehen, wann die Menschheit selbst untergeht.

Wenn nun auch die immanente Philosophie die Forderungen des milden Heilands einfach bestätigen muß, so kann sie dagegen selbstverständlich die dogmatische Begründung derselben nicht anerkennen. Dem Gebildeten unserer Zeit ist es ebenso unmöglich, die Dogmen der Kirche zu glauben, wie es dem gläubigen Christen des Mittelalters unmöglich war, gegen seinen Erlöser die Götter Griechenlands und Roms oder den zornigen Gott des Judenthums einzutauschen. Damit nun der unzerstörbare Kern der christlichen Lehre nicht mit dem Glauben fortgeworfen werde, und auf diese Weise die Möglichkeit für den Menschen schwinde, des wahren Herzensfriedens theilhaftig zu werden, ist es Aufgabe der Philosophie, die Heilswahrheit in Uebereinstimmung mit der Natur zu begründen.

Diese Ethik ist der erste Versuch, diese Aufgabe auf rein immanentem Gebiete, mit rein immanenten Mitteln, zu lösen. Er konnte nur gemacht werden, nachdem das transscendente Gebiet vom immanenten vollständig getrennt und nachgewiesen worden war, daß beide Gebiete nicht neben einander, oder in einander liegen, sondern, daß das eine unterging, als das andere entstand. Das immanente folgte dem transscendenten und besteht allein. Die einfache vorweltliche Einheit ist in der Vielheit untergegangen, und diese machte der Ursprung aus einer einfachen Einheit zu einer fest in sich geschlossenen Collectiv-Einheit mit einer einzigen Bewegung, welche, soweit sie die Menschheit betrifft, die Bewegung aus dem Sein in den absoluten Tod ist.

 

32.

Der Muhammedanismus und das Christenthum: ersterer die beste aller schlechten Religionen, letzteres die beste aller großen ethischen Religionen, verhalten sich zur immanenten Philosophie, in |

i224 Absicht auf das, was nach dem Tode für Moralität der Gesinnung versprochen wird, wie die beiden ältesten Töchter Lear’s zu seiner jüngsten, Cordelia. Während der Muhammedanismus dem Tugendhaften ein Leben voll Rausches und Wollust, also ein erhöhtes Blutleben verspricht und das Christenthum ihm den Zustand ewiger Contemplation und der intellektuellen Wonne, also ein aus dem Bewußtsein geschwundenes Blutleben verheißt, kann ihm die immanente Ethik nur den Schlaf,»die beste Speise an des Lebens Mahl,«darbieten. Aber wie der körperlich Ermattete Alles ausschlägt und nur den Schlaf will, so will auch der Lebensmüde nur den Tod, die absolute Vernichtung im Tode, und dankbar nimmt er aus der Hand des Philosophen die Gewißheit, daß ihn kein neuer Zustand erwartet, weder der Wonne, noch der Qual, sondern daß alle Zustände von selbst mit der Vernichtung seines innersten Wesens verschwinden.

 

—————

 

Politik.

 

i225

—————

In dem Leben der Menschheit ist Alles gemeinsam, Alles

nur eine Entwicklung; das Einzelne gehört dem Ganzen an,

aber auch das Ganze dem Einzelnen.

Varnhagen.

————

Wer das Naturgesetz auch in der Geschichte kennt und

anerkennt, der kann prophezeien; wer nicht, weiß nicht, was

morgen geschieht, und wäre er Minister.

Börne.

————

Wer nicht von dreitausend Jahren

Sich weiß Rechenschaft zu geben,

Bleib’ im Dunklen unerfahren,

Mag von Tag zu Tage leben.

Goethe.

————

i227

1.

Die Politik handelt von der Bewegung der ganzen Menschheit. Diese Bewegung resultirt aus den Bestrebungen aller Individuen und ist, wie wir in der Ethik ohne Beweis hinstellen mußten, von einem niederen Standpunkte aus betrachtet, die Bewegung nach dem idealen Staate, vom höchsten dagegen aufgefaßt: die Bewegung aus dem Leben in den absoluten Tod, da ein Stillstand im idealen Staate nicht möglich ist.

Diese Bewegung kann kein moralisches Gepräge tragen; denn die Moral beruht auf dem Subjekt, und nur Handlungen des Einzelnen, gegenüber der Bewegung der Gesammtheit, können moralisch sein.

Sie vollzieht sich lediglich durch unwiderstehliche Gewalt und ist, allgemein bestimmt, das allmächtige Schicksal der Menschheit, das Alles, was sich ihm entgegenwirft, und sei es ein Heer von Millionen, zermalmt und wie Glas zerbricht; von da an aber, wo sie in den Staat mündet, heißt sie Civilisation.

Die allgemeine Form der Civilisation ist also der Staat; ihre besonderen Formen: ökonomische, politische und geistige, nenne ich historische Formen. Das Haupt-Gesetz, wonach sie sich vollzieht, ist das Gesetz des Leidens, welches die Schwächung des Willens und die Stärkung des Geistes bewirkt. Es legt sich in verschiedene einzelne Gesetze auseinander, welche ich historische Gesetze nenne.

 

2.

Unsere Aufgabe ist nun zunächst: an den Hauptereignissen, welche uns die Geschichte überliefert hat, den Gang der Civilisation nachzuweisen und die Formen und Gesetze, in und nach denen sich die Menschheit bis in unsere Zeit entwickelte, auf dem Grunde des Gewühls von Erscheinungen abzulesen; dann die Strömungen |

i228 in unserer Geschichtsperiode zu untersuchen, und schließlich den Punkt in’s Auge zu fassen, auf den alle vorliegenden Entwicklungsreihen hinweisen. Wir werden überhaupt, besonders aber bei der letzteren Arbeit, vermeiden, uns in Einzelheiten zu verlieren; denn es wäre geradezu Vermessenheit, im Einzelnen genau feststellen zu wollen, wie sich die Zukunft gestalten wird.

 

3.

Wir haben in der Ethik den Staat kurzweg auf einen Vertrag zurückgeführt, der dem Naturzustand ein Ende machte. Wir durften dies thun, weil es in der Ethik vorerst nur auf die Grund-Gesetze des Staates ankommt. Jetzt liegt uns aber ob, die Verhältnisse, aus denen der Staat entsprang, genauer zu untersuchen.

Die Annahme, daß das Menschengeschlecht einen einheitlichen Ursprung hat, steht in keinem Widerspruch mit den Resultaten der Naturwissenschaft, während sie auf der anderen Seite der philosophischen Politik eine vortreffliche Grundlage in jeder Hinsicht giebt. Außerdem fließt aus ihr, ungezwungen und überzeugend für Jeden, der Satz voll treibender Wahrheit, daß alle Menschen Brüder sind, und man muß nicht, um sie zu gewinnen, an eine hinter den Individuen versteckte unfaßbare Einheit glauben, welche nur, in günstiger Stunde, durch intellektuelle Anschauung zu erkennen sein soll.

Der Urmensch kann sich vom Thier, dem er entsprossen war, nur ganz allmählich entfernt haben. Die Kluft zwischen Beiden kann anfänglich nicht groß gewesen sein. Was sie überhaupt hervorrief, war gleichsam das Aufbrechen der Keime, in denen die Hülfsvermögen der Vernunft noch ganz verschlossen lagen, oder, physiologisch ausgedrückt, eine kleine Vermehrung der Gehirnmasse. Vom Standpunkte meiner Philosophie aber war es die Spaltung eines weiteren Theils der Bewegung des Willens zum Leben in Lenker und Gelenktes, als Ausdruck der tiefen Sehnsucht des Willens nach einer neuen Bewegungsart.

Die neuen Anlagen befestigten und vererbten sich. Von einem schnellen Wachsthum derselben kann nicht die Rede sein; man muß vielmehr annehmen, daß nach dieser Richtung während mehrerer Generationen ein Stillstand eintrat. Die Entwicklung legte sich ganz in die Auswicklung der Individuen, oder mit anderen Worten: das Gesetz der Auswicklung der Individualität be|herrschte

i229 allein die erste Periode der Menschheit. Erst als sich die Individuen derartig vermehrt hatten, daß sie Thiere angreifen und verdrängen mußten, drückte die Noth auf den Intellekt und bildete ihn weiter aus. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß die Einbildungskraft dasjenige Vermögen war, welches sich am frühsten entfaltete. Mit seiner Hülfe gelang es der Vernunft, in Bildern zu denken, das Vergangene mit der Gegenwart zu verknüpfen, causale Zusammenhänge in bildlicher Verbindung festzuhalten, und so zunächst rohe Waffen zu construiren und mit Absicht zu tödten. Im weiteren Fortgang der Entwicklung erstarkte auch der zarte Keim der Urtheilskraft, wahrscheinlich in wenigen bevorzugten Individuen, und es wurden die ersten Begriffe gebildet, aus deren Zusammensetzung flexionslose, rohe Natursprachen entstanden. Die Vernunft trieb hierbei gleichsam Küstenschifffahrt; sie konnte sich noch nicht auf das weite Meer der Abstraktion begeben, sondern mußte immer die einzelnen Dinge der anschaulichen Welt im Auge behalten.

 

4.

Die Vermehrung der Menschen, begünstigt durch einen sehr starken Geschlechtstrieb einerseits, andererseits durch die für die Erhaltung vortheilhaften Verhältnisse des Landes, das die ersten Menschen bewohnten, bewirkte eine immer größer werdende Ausbreitung. Die Menschen vertheilten sich zunächst noch in Gruppen über diejenigen angrenzenden Gebiete, welche ihnen Unterhalt boten, im beständigen Kampf mit der Thierwelt und mit ihres Gleichen.

Die Lücke, welche zwischen diesen Thiermenschen-Heerden und den Naturvölkern liegt, kann nicht mit Anspruch auf Gewißheit ausgefüllt werden. Den langen Zeitraum beherrschten die Gesetze der Auswicklung und der Reibung. Ersteres schwächte die Intensität des Willens entschieden, wenn auch nur ganz allmählich, so daß ein großer Unterschied zwischen Generation und Generation nicht stattfinden konnte. In den meisten Urkunden des Menschengeschlechts begegnet man Berichten von riesenhaften Individuen, und es ist um so weniger Grund vorhanden, sie zu bezweifeln, als allen jetzt lebenden Thiergeschlechtern gewaltigere Arten vorangegangen sind, und sogar der uns bekannte Gang der Menschheit eine Abnahme der Lebenskraft lehrt, wogegen die Zunahme der Lebensdauer Nichts beweist.

i230 Das Gesetz der Reibung stärkte hingegen die Intelligenz, allerdings nur sehr wenig in dieser Periode, da die Noth nicht groß gewesen sein kann.

 

5.

So treten wir in die Vorhalle der Civilisation, wo wir die eigentlichen Naturvölker: Jagd-, Viehzucht- und Ackerbau- treibende Stämme vorfinden. Da man in keiner Weise bestimmen kann, ob der Entwicklungsgang der vorgeschichtlichen Menschheit immer in Gruppen oder, durch Zerfall, in Familien, die sich erst später wieder vereinigten, stattfand, so bleibt es dem Ermessen eines Jeden anheimgestellt, sich den Vorgang zu denken wie er will. Wir gehen am besten von Familien aus, in welche sich die Gruppen auflösten, und die sich von Baumfrüchten und erlegten Thieren ernährten; denn der Mensch ist wesentlich ungesellig, und nur die äußerste Noth oder ihr Gegensatz, die Langeweile, kann ihn gesellig machen. Es ist deshalb viel wahrscheinlicher, daß der kräftige Urmensch, als er sich auf Waffen und seine kleine, aber der thierischen weit überlegene Intelligenz stützen konnte, seinem Unabhängigkeitstriebe folgte und sich vereinzelte, als daß eine ununterbrochene Fortbildung in der Gruppe stattfand.

Wenn wir nun einen solchen Jäger nur nach seiner Idee betrachten, so war er einfacher Wille zum Leben, d.h. sein natürlicher Egoismus umschloß noch keinen, nach verschiedenen Richtungen auseinander getretenen Willen, keine Willensqualitäten. Er wollte nur seinem bestimmten einfachen Charakter gemäß da sein und sich im Leben erhalten. Die Ursache hiervon ist in der simpelen Lebensweise und im beschränkten Geiste des Wilden zu suchen. Dem Intellekt lag nur ob, die wenigen Objekte ausfindig zu machen, welche den Hunger, Durst und Geschlechtstrieb befriedigten. War die Noth gehoben, so versank der Mensch in Faulheit und Trägheit.

Dem einfachen Willen, der nicht anders als wild und unbändig zu denken ist, entsprach die geringe Anzahl seiner Zustände. Abgesehen vom gewöhnlichen Zustand der dumpfen Gleichgültigkeit und dem der instinktiven Furcht, war er nur des leidenschaftlichsten Hasses und der leidenschaftlichsten Liebe fähig. Er haßte Alles, was sich ihm hemmend in den Weg stellte, und suchte es zu vernich|ten;

i231 dagegen umfaßte er Alles, was seine Individualität erweitern konnte, mit Liebe und suchte es sich zu erhalten.

Er lebte mit einem Weibe zusammen, das ihn vielleicht auf seinen Streifzügen begleiten mußte, vielleicht auch nur in der Hütte thätig war und das Feuer sowie die Kinder hütete. Der Charakter der Familie war roh und noch ganz thierisch. Die Frau war des Mannes Lastthier, und wenn die Kinder groß waren, zogen sie weiter und gründeten eine eigene Familie.

Den Naturmächten gegenüber verhielt sich der Mensch als Jäger kaum anders als das Thier. Er dachte nicht weiter über die Elementargewalten nach. Indessen mochten doch hie und da seine Abhängigkeit von der Natur und seine Ohnmacht ihr gegenüber in sein Bewußtsein treten und, wie ein Blitz, die Nacht seiner Sorglosigkeit erhellen.

Aus dieser einförmigen Lebensweise riß eingetretener Nahrungsmangel die Menschen. Sie hatten sich inzwischen wieder derartig vermehrt, daß die Jagdgründe des Einzelnen eine bedenkliche Schmälerung erlitten hatten und nicht mehr genug Wild zum Unterhalt boten. Durch einfachen Wegzug konnte das Uebel nicht gehoben werden, denn die für die Jäger günstigen Stellen der Erde waren sämmtlich bewohnt, und zu dieser Eingeschlossenheit eines Jeden trat die Liebe zu seinem Jagdgrund, die ihn darauf festhielt.

Da traten wohl Diejenigen, welche sich näher standen, zusammen und verbanden sich vorübergehend, um die Eindringlinge nicht nur zurückzudrängen, sondern auch zu vernichten. War die Gefahr abgewandt, so gingen sie wieder auseinander. Inzwischen erfuhr auch der Charakter der Familie eine Veränderung. Erstens konnten sich die Söhne nicht mehr leicht ein Unterkommen verschaffen, zweitens lag es im Interesse des Vaters, die Kraft der Söhne zu verwenden, sich durch dieselbe zu stärken. Das Familienband wurde fester angezogen, und jetzt erst entstanden wirkliche Jägerstämme, deren Glieder das Bewußtsein durchdrang, daß sie zusammen gehörten, was vorher nicht möglich war. Da überall dieselben Verhältnisse eintraten, so mußten sich allmählich sämmtliche Familien zu Jägerstämmen vereinigen, die nun nicht mehr aus dem Kriege mit einander herauskamen. Er gehörte fortan zu ihrer Beschäftigung, und in der beständigen Reibung, die er erzeugte, hob er die Geisteskraft des Menschen wiederum auf eine höhere Stufe.

i232 Der Krieg sowohl, als die nunmehr gemeinsame friedliche Beschäftigung, forderten eine starke obere Leitung, welche über der Gewalt der Familienhäupter stand. Man wählte den Stärksten oder Listigsten zum Anführer im Kriege und zum Schiedsrichter im Frieden. Nun trat auch der ungeheuere folgenschwere Unterschied zwischen Recht und Unrecht in das Bewußtsein der Menschen, der den Willen des Individuums fester bindet und umschnürt als die Feindseligkeit der ganzen Natur. Jetzt waren gewisse Handlungen (Diebstahl und Mord) innerhalb der Genossenschaft verboten, welche außerhalb derselben erlaubt waren, und es entstand ein eiserner Zwang für den Willen, während an den Geist eines Jeden die Aufforderung trat, nicht mehr unter der Hauptleitung des Dämons, sondern mit Besonnenheit und Ueberlegung zu handeln.

Auf diese Weise warf allerdings die Noth den Menschen in die gesetzliche Genossenschaft, die erste rohe Form des Staates, aber ihre Organisation war ein Werk der Vernunft und beruhte, in Anbetracht aller Verhältnisse, auf einem Vertrag. Es erkannten die Familienältesten einerseits, daß die Genossenschaft nicht aufgelöst werden könne, andererseits aber auch, daß sie nur auf gewissen Grundlagen bestehen könne, und kamen überein, daß diese Grundlagen fortan unerschütterlich sein sollten. Was man auch sagen möge, die Gesetze gegen Mord und Diebstahl sind das Produkt eines ursprünglichen Vertrags, der abgeschlossen werden mußte. Staatsconstitutionen, gesellschaftliche Verhältnisse, andere Gesetze können ganz einseitig errichtet worden sein, diese beiden Gesetze, auf welchen der vollkommenste wie der unvollkommenste Staat gegründet sein muß, aber nicht. Sie traten nur durch ein Uebereinkommen, mit logischer Gewalt, zuerst in die Erscheinung, und würden sie heute beseitigt, so würden nach kurzer Zeit Alle wieder denselben ursprünglichen Vertrag abschließen. Es war durchaus kein weitsehender Blick, keine tiefe Weisheit erforderlich, um diese beiden nothwendigen gesetzlichen Schranken aufzurichten. Als das nicht zu umgehende Zusammenleben in einer gefährdeten Genossenschaft gegeben war, mußten sie mit Nothwendigkeit erfolgen.

 

6.

Einen sehr wesentlichen Fortschritt machte die Menschheit, als, mit Hülfe des Zufalls, der Nutzen erkannt wurde, der sich aus der |

i233 Domestikation gewisser Thiere ergiebt, und die Viehzucht in die Erscheinung trat. Es zweigten sich von den Jägerstämmen Hirtenstämme ab, welche alle Gegenden, die seither unbenutzt waren, beziehen konnten, wodurch die Auswicklung der Individuen und, verbunden damit, die Ausbreitung der Menschheit wieder größer wurde.

Die neue Lebensweise brachte große Veränderungen hervor. Zunächst fand eine allmähliche Umbildung des Charakters statt. Nicht daß sich der Wille jetzt schon in einzelne Qualitäten auseinandergelegt hätte: dazu waren die Verhältnisse noch zu einfach, die Intelligenz zu schwach; aber der ganze Wille erfuhr eine Milderung, da an die Stelle der aufregenden Jagd und der mit der größten Wildheit geführten Vernichtungskriege eine friedliche, monotone Beschäftigung getreten war.

Zugleich wurde sich der Mensch seines Verhältnisses zur sichtbaren Welt bewußt, und es entstand die erste Naturreligion. Auf der einen Seite wurde der causale Zusammenhang der Sonne mit den Jahreszeiten, mit der fruchtbaren Weide erkannt; andererseits sah man die kostbaren Heerden, von deren Erhaltung das Leben abhing, oft wilden Thieren oder verheerenden Elementargewalten preisgegeben. Im Nachsinnen über diese Beziehungen gelangte man zu den Vorstellungen guter und böser, dem Menschen freundlich oder feindlich gesinnter Mächte und zur Ueberzeugung, daß durch Verehrung und Opfer die Einen zu versöhnen, die Anderen in wohlwollender Gesinnung zu erhalten seien.


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