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Den Entwicklungsgang selbst des Einzelwesens bestimmt Budha als Bewegung aus einem unbegreiflichen Ursein in das Nichtsein.

Hieraus erhellt deutlich, daß auch Budha’s Atheismus geglaubt werden mußte, wie die einheitliche Bewegung des Weltalls und die in ihm verborgene einfache Einheit, welche der Pantheismus lehrte. Außerdem war die volle Autonomie des Individuums schwer erkauft mit der Leugnung der in der Welt thatsächlich vorhandenen, vom Individuum total unabhängigen Herrschaft des Zufalls. Alles, was wir Zufall nennen, ist That des Individuums, aus seinem Karma heraus bewerkstelligte Scenerie. Budha leugnete also, auf Kosten der Wahrheit, die Realität der Wirksamkeit aller anderen Dinge der Welt, d.h. geradezu die Realität aller anderen Dinge, und es blieb nur eine einzige Realität übrig: das in seiner Haut sich fühlende und sich im Selbstbewußtsein erfassende Ich.

Der Budhaismus ist demnach, wie der indische Pantheismus, crasser absoluter Idealismus.

i246 Dies mußte so sein. Budha stellte sich mit Recht auf die Realität des Individuums, die Thatsache der inneren und äußeren Erfahrung. Er mußte aber das Individuum vollständig autonom machen, d.h. einen einheitlichen Entwicklungsgang der Welt leugnen, weil er sonst auf eine Einheit in der Welt, welche der Pantheismus lehrte, mit Nothwendigkeit geführt worden wäre: eine Annahme, gegen welche er sich, wie jeder klare empirische Kopf, sträubte. Die Selbstherrlichkeit des Ich verlangte jedoch unbedingt die Herabsetzung der übrigen Welt, des Nicht-Ich, zu einer Welt des Scheins und Trugs; denn wenn in der Welt nur das Ich real ist, so kann das Nicht-Ich nur ein Schein sein: es ist Decoration, Coulisse, Scenerie, Phantasmagorie in der Hand des allein realen, selbstherrlichen Individuums.

Der Budhaismus trägt, wie der Pantheismus, das Gift des Widerspruchs mit der Erfahrung in sich. Jener leugnet die Realität aller Dinge, ausgenommen die des Individuums, ferner den dynamischen Zusammenhang der Welt und eine einheitliche Bewegung der Collectiv-Einheit; dieser leugnet die Realität aller Dinge und kennt nur eine einfache Einheit in der Welt mit einer einzigen Bewegung.

Der Budhaismus jedoch steht dem menschlichen Herzen viel näher als der Pantheismus, weil die unerkennbare Einheit nie Wurzel in unserem Gemüth fassen kann, während uns Nichts realer ist als unser Erkennen und unser Gefühl, kurz unser Ich, das Budha auf den Thron der Welt erhob.

Außerdem ist die von Budha gelehrte individuelle Bewegung aus dem Ursein durch das Sein (beständiges Werden, Wiedergeburten) in das Nichtsein unverkennbar richtig, während man bei der Bewegung, welche der indische Pantheismus lehrt, den unbegreiflichen Fehltritt des Urwesens in den Kauf nehmen muß: eine schwere Last.

Beide Lehren machen die Feindesliebe ihren Bekennern möglich; denn ist die Welt nur Erscheinung einer einfachen Einheit und fließt jede individuelle That aus dieser Einheit direkt, so ist ja derjenige, welcher mich beleidigt, mich quält und peinigt, kurz mein Feind, ganz unschuldig an allem mir zugefügten Uebel. Nicht er giebt mir Schmerzen, sondern Gott thut es direkt. Wollte ich den Feind hassen, so würde ich die Peitsche hassen, nicht meinen Peiniger, was widersinnig wäre.

i247 Und ist Alles, was mich trifft, mein Werk, so hat mich, ganz ebenso, nicht mein Feind beleidigt, sondern ich habe mich selbst durch ihn beleidigt. Wollte ich ihm zürnen, so würde ich ebenso unvernünftig handeln, wie wenn ich meinen Fuß schlüge, weil er ausglitt und mich zu Fall brachte.

Indem Budha die Gleichheit und Brüderschaft aller Menschen exoterisch lehrte und damit die Kastenordnung durchbrach, war er auch politisch-socialer Reformator; indessen, diese Bewegung drang in Indien nicht durch. Der Budhaismus wurde auf der ganzen großen Halbinsel allmählich unterdrückt und mußte auf die Inseln und nach anderen Ländern (Hinterindien, China etc.) flüchten. Im eigentlichen Indien verblieb es bei der Kasteneinrichtung und dem Pantheismus.

 

12.

In der persischen Zend-Religion sind die bösen Mächte der Naturreligion zu einem einzigen bösen Geiste und die guten zu einem einzigen guten Geiste zusammengeschmolzen. Alles was das Individuum von außen beschränkte: Finsterniß, Dürre, Erdbeben, schädliche Thiere, Stürme u.s.w. ging von Ahriman aus, Alles dagegen, was die Wirksamkeit des Individuums nach außen förderte, von Ormuzd. Nach innen war es aber gerade umgekehrt. Je mehr der Mensch seinen natürlichen Egoismus beschränkte, desto mächtiger offenbarte sich in ihm der reine Lichtgott, je mehr er jedoch seinen natürlichen Trieben folgte, desto tiefer sank er in die Netze des Bösen. Dies konnte nur gelehrt werden auf Grund der Erkenntniß, daß das irdische Leben nichtig sei. Auch kennt die Zend-Religion eine Bewegung des ganzen Weltalls, nämlich die Vereinigung Ahriman’s mit Ormuzd und die Errichtung des Lichtreichs durch allmähliche Vertilgung alles Bösen auf Erden. –

Diese drei vortrefflichen alten Religionen mußten auf die Entwicklung ihrer Bekenner im Alterthum vom größten Einflusse sein. Sie richteten die Blicke des Menschen in sein Inneres und veranlaßten ihn, auf Grund der Jedem sich aufdrängenden Gewißheit, daß eine unbegreifliche Allmacht die Geschicke bestimme, sich an dem von der Phantasie ausgemalten Wohle zu entzünden.

Der Brahmanismus drohte den Widerstrebenden mit der Seelenwanderung, der Budhaismus mit der Wiedergeburt, die Zend-|Religion

i248 mit dem Unglück, das die Brust des Menschen durchzuckt, wenn er in der Umarmung Ahriman’s liegt; dagegen lockte der erstere die Schwankenden mit der Wiedervereinigung mit Gott, der zweite mit der totalen Befreiung vom Dasein und die Zend-Religion mit dem Frieden im Schooße des Lichtgottes.

Besonders hat der Budhaismus die Seelen mächtig ergriffen und die wilden, trotzigen, störrigen Charaktere sanft und milde gemacht. Spence Hardy, von sämmtlichen Einwohnern Ceylon’s sprechend, sagt:

The carelessness and indifference of the people among whom the system is professed are the most powerful means of its conservation. It is almost impossible to move them, even to wrath.

(Eastern Monachism 430.)

(Die Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit des Volks, welches sich zur Lehre Budha’s bekennt, sind die mächtigsten Mittel für die Erhaltung der Lehre. Es ist beinahe unmöglich diese Menschen zu erregen, man kann sie selbst nicht in Wuth versetzen.)

 

13.

Die semitischen Völker Asien’s, mit Ausnahme der Juden, also Babylonier, Assyrer, Phönizier, haben nicht die Kraft gehabt, ihre Naturreligion zu einer ethischen zu vertiefen. Sie blieben beim äußeren Opfer stehen, welches allerdings den Einzelnen außerordentlich schmerzlich berühren mußte, aber nicht anhaltend auf den Charakter wirkte. Die Mütter, welche ihre Kinder in die glühenden Arme des Moloch legten, und die Jungfrauen, welche, an den Festen der Mylitta, sich entehren ließen, brachten der Gottheit das Theuerste, was sie hatten, zum Opfer; denn an dem tiefen Schmerze der Mutter, die ihr Kind verbrennen ließ, darf nicht gezweifelt werden, und Herodot sagt ausdrücklich, daß die geschändete Jungfrau sich nicht mehr preisgab, man mochte ihr noch so viel bieten. Aber was das Individuum mit diesen entsetzlichen Opfern erkaufte, war Wohlsein in diesem Leben. Die Religionen lenkten nicht den Willen von diesem Leben ab und gaben ihm nicht ein festes Ziel am Ende der Bahn. Zudem waren die grausamen Opfer schlechte Motive, und so kam es, daß allmählich das Volk allen Halt verlor und zwischen maßlosem Sinnengenuß und maßloser Zerknirschung hin- und herschwankte und sich aufrieb.

Die alten Juden dagegen gelangten zu einer reineren Religion, |

i249 die um so bemerkenswerther ist, als das Christenthum aus ihr entsproßte. Sie war starrer Monotheismus. Gott, das unerkennbare außerweltliche Wesen, der Schöpfer des Himmels und der Erde, hielt in seiner allmächtigen Hand die Creatur. Sein von begeisterten Propheten verkündigter Wille verlangte unbedingten Gehorsam, volle Hingabe an das Gesetz, strenge Gerechtigkeit, beständige Gottesfurcht. Der Gottesfürchtige wurde in dieser Welt belohnt, der Vertragsbrüchige furchtbar in dieser Welt bestraft. Aber diese halbe Selbständigkeit des Individuums dem Jehovah gegenüber war nur Schein. Das richtige Verhältniß Gottes zum Individuum war dasselbe, wie im Pantheismus der Inder. Der Sündenfall, der Zendlehre entlehnt, gewann erst im Christenthum, als Erbsünde, Ansehen und Bedeutung. Der Mensch war Nichts als ein Spielzeug in der Hand Jehovah’s; denn wenn auch Gott nicht direkt in ihm wirkte, so hatte er doch die Essentia, aus der die Thaten fließen, geschaffen: sie war sein Werk allein.

Die Juden kamen auch, eben wegen ihres Monotheismus, zu keiner Bewegung des Weltalls.

Ein Geschlecht vergehet, das andere kommt; die Erde aber bleibt ewiglich.

(Salomo.)

Das Weltall hat kein Ziel.

 

14.

Das geniale objektive Erkennen bethätigte sich dann noch bei den alten orientalischen Völkern, zu denen auch die Aegypter gehören, auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst.

Mathematik, Mechanik und Astronomie fanden sorgsame Pflege bei den Indern, Chaldäern und Aegyptern, und obgleich die gewonnenen Resultate an sich dürftig waren, so gaben sie doch anderen Völkern, namentlich den Griechen, spornende Anregung.

Die Urtheilskraft, dieses wichtige und herrliche Vermögen des menschlichen Geistes, welche, auf Grund des Forschungstriebs, die praktisch so außerordentlich wirksamen und theoretisch so tiefen ethischen Religionen des Orients erzeugte, offenbarte sich auch sehr deutlich als Schönheitssinn und schuf, im Verein mit dem Reproductionstrieb, sehr bedeutsame Werke der Kunst. Aber, wie die mächtige Phantasie in der Wissenschaft die Urtheilskraft wesentlich beschränkte, |

i250 so legte sie sich auch, wie ein Alp, auf den Schönheitssinn, und das Schöne konnte sich nur selten rein und edel entfalten.

In der Baukunst fand das Formal-Schöne des Raumes, namentlich in Aegypten, einen ernsten und würdigen Ausdruck. Die Tempel, Paläste, Gräber etc. waren colossale, aber symmetrisch angeordnete Massen, welche das Auge bilden und das Gemüth erhaben stimmen mußten. Dagegen waren die Werke der Plastik, welche Kunst ganz im Dienste der Religion stand, phantastisch, maßlos und eher darauf berechnet, den Menschen mit Furcht zu erfüllen und in den Staub zu werfen, als zu erheben. In den seligen Zustand der einfachen aesthetischen Contemplation konnten sie ihn in keiner Weise überführen.

Eine sehr hohe Stufe der Vollendung erklomm die Poesie. Die religiösen Hymnen, besonders die herrlichen Vedahymnen, mußten die Andächtigen feierlich stimmen, sie mächtig ergreifen und ein reineres Streben in ihnen erwecken, während die Kriegslieder und Heldengedichte zu kühnen Thaten entflammten, den Muth in die Seelen tragend.

Im Allgemeinen zeigt sich in der orientalischen Kunst die Beengung des Individuums durch die Allmacht der Natur: das Individuum konnte noch nicht zu Wort kommen, weil es seine Kraft noch nicht erkannt hatte. Dieser Andrang von außen wirkte befeuernd auf den speculativen, deprimirend auf den bildenden Geist, und so kann man sagen, daß im orientalischen Alterthum der Genius der Philosophie bereits hoch über den Wolken schwebte, während der Genius der Kunst mit den Spitzen seiner Flügel noch die Erde streifte.

 

15.

Wir wenden uns jetzt zu den alten Griechen, welche, befruchtet von orientalischer Kunst und Wissenschaft, eine ganz eigenartige Cultur erzeugten. Dieselbe brachte große Umgestaltungen in gleichzeitigen und späteren Staaten hervor und wirkt noch immer, als mächtiges Ferment, im Leben der civilisirten Nationen.

Ich habe schon oben den großen Einfluß hervorgehoben, welchen Klima und Bodenbeschaffenheit auf die religiösen Anschauungen eines Volkes und dadurch auf seinen Charakter ausüben. So lange der Mensch nur zerknirscht und zitternd der Gottheit, dem verkörperten Schicksal, zu nahen wagt, wird ihm das Bewußtsein seiner Thatkraft nicht aufgehen und sein Bewußtsein anderer Dinge ein getrübtes |

i251 und mangelhaftes sein. Hat er dagegen die Uebermacht der Natur als ihm überwiegend gnädig gestimmt erkannt, so wird er ihr frei in die Augen sehen, Vertrauen zu ihr und dadurch zu sich selbst gewinnen und muthig und beruhigt auftreten.

So beruht hauptsächlich das ganze politische und geistige Leben der Hellenen auf dem Einfluß des herrlichen Landes, das sie bewohnten. Ein solcher reicher Boden, ein so mildes, sonniges Klima konnte die Menschen nicht zu Sklaven machen, sondern mußte die Erhaltung einer heiteren Naturreligion begünstigen und das Individuum in ein würdiges Verhältniß zur Gottheit setzen. Dadurch aber wurde der Charakter der Griechen allmählich harmonisch; die natürliche unzerstörbare Individualität mußte nicht, damit sie nicht aus Rand und Band gerathe und in Rückbildung verfalle, vollständig durch Gesetze gebunden werden, sondern durfte sich einen Spielraum lassen, in dem sie sich zur edlen Persönlichkeit ausbildete.

Die erste Folge dieser freien Persönlichkeit war, daß die griechische Nation nie zur politischen Einheit gelangte. Sie zerfiel in eine Menge unabhängiger Stadt- und Landgemeinden, welche anfänglich nur in einem losen Bundesverhältniß standen und später der Vorherrschaft des mächtigsten Staates sich unterordneten. Nur die gemeinsame Religion und die Nationalfeste verknüpften die Stämme zu einem idealen Ganzen.

Diese staatliche Zersplitterung auf kleinem Boden, unter dem Schutz einer Art von Völkerrecht, begünstigte wesentlich die Entwicklung aller Anlagen des reichbegabten Volkes; denn nach dem Gesetze der Völkerrivalität, welches uns hier zum ersten Mal deutlich entgegentritt, war jeder Staat bestrebt, die anderen durch Macht zu überragen, und mußte deshalb alle Kräfte seiner Bürger zur Entfaltung und Bethätigung bringen.

Die weitere Folge der freien Persönlichkeit der Griechen war, daß die Verfassung des Staates so lange Umänderungen unterworfen wurde, bis das ganze Volk thatsächlich zur Herrschaft gelangte. In allen griechischen Staaten regierten Anfangs Könige, welche, als oberste Richter, die Gesetze handhabten, den Göttern im Namen des Volkes opferten und im Kriege die Führung hatten. Ihre Macht wurde durch einen Rath beschränkt, dessen Glieder den Adelsgeschlechtern entnommen waren. Ihnen gegenüber stand das Volk, welchem kein Einfluß auf die Leitung der Staatsgeschäfte zukam. |

i252 Diese Verhältnisse änderten sich jedoch allmählich durch innere Umwälzungen, welche sich nach dem, uns hier gleichfalls zum ersten Mal begegnenden Gesetze der Verschmelzung durch Revolution vollzogen.

Zuerst setzten sich die Adelsgeschlechter dem Königthum entgegen, stürzten es und errichteten an seiner Stelle die aristokratische Republik. Dann aber war es das niedere Volk, welches nach der politischen Freiheit rang. Seine Bemühungen waren indessen so lange fruchtlos, bis Streitigkeiten unter den Aristokraten selbst ausbrachen und die Unterliegenden des Volkes Sache zur ihrigen machten, um sich rächen zu können. Auf diese Weise lockerte sich immer mehr das Band zwischen Herrschern und Beherrschten, bis es zuletzt ganz zerriß und das Volk in den Besitz der selbstherrlichen Gewalt gelangte.

Dieser innere Verschmelzungsproceß war außerordentlich wichtig für die Veredelung des Volkes. Jeder ließ jetzt sein höchstes Wohl mit dem Staatswohl zusammenfallen, und neben einer glühenden Vaterlandsliebe, welche das kleine Volk zu den höchsten Thaten befähigte, entstand eine allgemeine Bildung, segensreich für den Einzelnen wie für die Gesammtheit.

Aber wie die ausgeprägte Persönlichkeit der Griechen die Ursache der Erhebung des Volks zur Herrschaft und der Niederreißung der Schranken zwischen den Ständen war, so war sie auch Ursache, daß, nach den Perserkriegen, der Einzelne sich immer mehr vom Ganzen ablöste. Jeder überschätzte sich, glaubte Alles am besten zu wissen und zu verstehen und suchte zu glänzen. Die Persönlichkeit wurde zur überreifen Individualität, in der sich der Mensch unruhig, wie im Fiebertraum, hin- und herwälzt. Bald flammt die Lebenskraft hoch auf, bald sinkt sie, dem Erlöschen nahe, zurück: ein sicheres Zeichen, daß der Wille zum Leben die Höhe seines Daseins überschritten hat und der Anfang des Endes herangekommen ist. Das Individuum ist der Vernichtung geweiht! Der sonnige Weg des feinen, zartfühlenden, beweglichen Griechen scheint unabsehbar weit vom schlammigen des asiatischen Schlemmers abzuliegen, und in der That sind sie ganz verschieden; denn auf dem einen verraucht die Lebenskraft in Wollust und Sinnentaumel, auf dem anderen verliert der Mensch die ruhige Sicherheit und kommt in immer stärkeres Schwanken, – aber beide Wege haben ein Ziel: den absoluten Tod.

i253 Die Folge dieses Abfalls des Einzelnen von der Gesammtheit war der Zerfall der letzteren. Die Reibung zwischen den Parteien wurde immer größer, bis die Fäulniß so allgemein wurde, daß das Gesetz der Verschmelzung durch Eroberung wieder hervortreten konnte. Das im Greisenalter angelangte griechische Volk unterlag den kräftigen, abgehärteten Macedoniern. – Im Leben der Menschheit wirken immer dieselben Gesetze, aber der Kreis der Civilisation wird dabei immer größer.

 

16.

Den Motiven, welche der griechische Genius für die ganze Menschheit erzeugte, wollen wir jetzt eine kurze Betrachtung widmen.

Die Naturreligion der Hellenen, ein heiterer Polytheismus, wurde nicht speculativ vertieft, sondern künstlerisch verklärt. Die alten Pelasger hatten zwar, vor ihrer Verschmelzung mit den Griechen, unter aegyptischem Einfluß einen Anlauf genommen, die Religion weiterzubilden (Eleusinische Mysterien), wofür in der abgeschlossenen Priesterkaste ein günstiger Boden war, aber die Bewegung stockte, als die alte Kastenordnung unter- und das Priesteramt auf die Könige überging. Der einzige speculative Gedanke, der hervortrat und dogmatisch wurde, war der Schicksalsbegriff. Man schmolz nicht die Götter zu einer Gottheit zusammen, welche die Loose der Sterblichen bestimmte, sondern setzte über die Götter und Menschen das eiserne Schicksal als eine Thatsache. Man hatte eine vortreffliche Einheit gewonnen, welche freilich ihrem Wesen nach nicht erkannt wurde, aber auf die sich alle Vorkommnisse im menschlichen Leben zwanglos zurückführen ließen. Man muß der Enthaltsamkeit der Griechen hier die größte Bewunderung zollen. Sie hatten sehr richtig erkannt, daß sie vor etwas rein Abstraktem standen und ihr Alles gestaltender, künstlerischer Geist trat bescheiden zurück, dafür mit Liebe die ihnen jetzt so nahe gerückten Olympier erfassend. (Die Erinnyen sind nur die personificirte Gewissensangst, die Parzen nur Verbildlichung des menschlichen Lebenslaufs.) Aber eben diese Scheu vor der geheimnißvollen Macht trübte das Urtheil der Griechen über dieselbe. Man stellte sich das Schicksal nicht als eine auf irgend eine Weise sich ergebende Bewegung der Welt, sondern als starres, über ihr waltendes Verhängniß vor, das schlechterdings nicht zu ergründen sei.

i254 Da nun die Naturreligion erstens, auf diese Weise, keiner Entwicklung fähig, zweitens unantastbar war, weil sie eine der Grundlagen des Staates ausmachte, während andererseits die fortschreitende Intelligenz das Bedürfniß hatte, das Verhältniß des Menschen zum Naturganzen zu durchdringen, so entstand neben der Religion die Philosophie.

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die vielen griechischen philosophischen Systeme einer Betrachtung zu unterwerfen. Es muß uns genügen, einige derselben kurz in’s Auge zu fassen.

Heraklit, welcher nach meiner Ueberzeugung der bedeutendste Philosoph des Alterthums ist, warf einen sehr klaren Blick in den Zusammenhang der Natur. Er hütete sich wohl, der Wahrheit in’s Gesicht zu schlagen und die realen Individuen zu Gunsten einer erträumten Einheit zu verwischen, und lehrte, daß Alles in einem Flusse des Werdens begriffen sei, eine unaufhörliche Bewegung habe. Dadurch aber, daß er immer wieder Leben entstehen sah, wo der Tod eingetreten war, wurde er verleitet, die Bewegung des Ganzen als eine ziellose zu erfassen. Er construirte mit den Gliedern Sein- Nichtsein und Nichtsein-Sein eine endlose Kette oder besser einen unaufhörlichen Kreislauf. Durch das Aufheben einer Bestimmtheit wird immer wieder eine Bestimmtheit gesetzt, und der Weg nach oben (Auflösung der Individualität) wird sofort zum Weg nach unten (Bildung einer neuen Individualität).

Heraklit täuschte sich dagegen nicht über den Werth des Lebens, und so lehrte er ferner, daß es kein höheres Glück für den Menschen geben könne, als sich feurig diesem endlosen Werden, dem Allgemeinen hinzugeben, und keinen größeren Schmerz, als sich in die Besonderheit, in das eigene Fürsichsein, zurückzuziehen, sich gegen die Aufhebung eines bestimmten Seins zu sträuben,»sich wie das Vieh zu mästen und nach dem Magen und den Schaamtheilen, dem Verächtlichsten an uns, unser wahres Wohl festzusetzen.«

Was er also verlangte, war, daß sich der Einzelne in die Bewegung des Ganzen durch völlige Hingabe an den allgemeinen, allerdings endlosen Prozeß stelle, d.h. den natürlichen Egoismus in den geläuterten überführe und moralisch handle.

Seine Lehre ist eine hohe und reine; aber sie leidet am endlosen Werden.

Wie Heraklit, lehrte Plato einen endlosen Kreislauf. Er faßte |

i255 die Welt als eine Composition von Abbildern der, hinter der Welt, in ewiger Ruhe, schmerzlos und selig lebenden Ideen auf. Die menschliche Seele stammt aus dieser reinen Ideenwelt, kann aber nicht auf die Dauer in sie zurückkehren. Verläßt die Seele den Körper, in Verbindung mit welchem sie nur ein verunreinigtes Leben führen kann, so geht sie, hatte sie sich nicht der Sinnlichkeit ergeben, sondern die Tugenden der Weisheit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit ausgeübt, in einen Zustand ruhiger Seligkeit ein, andernfalls muß sie so lange in anderen Körpern wandern, bis sie sich ihre ursprüngliche Reinheit wieder erkämpft hat, und dadurch des gedachten Zustandes theilhaftig werden kann. In diesem Zustand aber kann die Psyche nicht bleiben, sie muß nach einer bestimmten Zeit, nach tausend Jahren (De Rep. X.) wieder ein irdisches Loos erwählen. Dann beginnt der Kreislauf von Neuem.

In der bloßen Annahme einer göttlichen reinen Seele, welche an ein verwerfliches sinnliches Begehrungsvermögen gekettet ist, lag die Verurtheilung des menschlichen Lebens.

Sieht man von dem Kreislauf ab, so haben Heraklit und Plato durch ihre Lehren Motive in die Welt geworfen, welche in manchen Herzen Sehnsucht nach einem reineren Zustand und Abscheu vor einem Leben der Ungerechtigkeit und Zügellosigkeit erwecken mußten. Sie veredelten dadurch das Gemüth und regten zugleich den Wissensdurst an, der ein hohes Gut ist, da er den Menschen vom gemeinen Treiben in dieser verächtlichen Welt abzieht.

Aristoteles nenne ich nur, weil er der Erste war, der sich dem Einzelnen in der Natur zuwandte und dadurch den Grund zu den Naturwissenschaften legte, ohne welche die Philosophie nie aus dem Meinen herausgekommen wäre und sich zu einem reinen Wissen hätte fortbilden können.

Ich habe auch Herodot, den Vater der Geschichte, zu erwähnen; denn die Geschichte ist so nothwendig für die Philosophie, wie die Naturwissenschaften. Letztere erweitern die Erkenntniß des dynamischen Zusammenhanges der Welt, können aber nur unsicher auf ein Ende des Werdens, worauf doch Alles ankommt, zeigen. Die Uebersicht dagegen über das abgelaufene Leben der Menschheit führt zu den wichtigsten Schlüssen; denn die Geschichte bestätigt das, was immer subjektive Erfahrung bleibt und deshalb immer angezweifelt werden darf (nämlich die aus dem klar erkannten individuellen |

i256 Schicksal sich ergebende Wahrheit, daß Alles ein bestimmtes Ziel hat) durch das Schicksal der Menschheit in einer Weise, daß Keiner daran zweifeln darf: ein großer Gewinn.

 

17.

Wenn es demnach dem griechischen Genius auf dem Gebiete der Wissenschaft nur beschieden war, die von der Religion getrennte Philosophie, die Naturwissenschaften und die Geschichte zu gebären, welche, als Säuglinge, den kommenden Geschlechtern zur Pflege übergeben werden mußten, so hat er dagegen auf dem Gebiete der Kunst das Höchste erreicht.

Wie die Natur des Landes die Ursache davon war, daß sich die Individualität des Griechen zur freien Persönlichkeit ausbilden konnte, so war sie es auch, welche den für die Kunst unentbehrlichen Schönheitssinn entwickelte und rasch zur Vollendung reifen ließ. Es bildete das Auge: die Pracht des Meeres, der Glanz des Himmels, die Phänomene der klaren Luft, die Form der Küsten und Inseln, die Linien der Gebirge, die reiche Pflanzenwelt, die leuchtende Schönheit der menschlichen Gestalten, die Grazie ihrer Bewegungen; es bildete das Ohr: der Wohlklang der Sprache. Der Grund des Schönen in den Dingen war verschwenderisch über das herrliche Land ausgestreut. Wohin das Auge blicken mochte, überall mußte es harmonische Bewegungen objektiviren. Welcher Zauber lag in der Bewegung der Einzelnen beim Ringen, Fechten, und in der Bewegung von Massen bei festlichen Aufzügen! Welchen großen Unterschied zeigte das Leben des Volks gegen das der Orientalen. Hier strenge Feierlichkeit und ängstliche Gemessenheit, ja, wenn man will, durch Einschnürung erzeugte Steifheit, starres Ceremoniell, tiefer Ernst – dort maßvolle Ungebundenheit, quellende Lebenslust an der Hand der Grazien, einfache Würde, abwechselnd mit anmuthsvoller Heiterkeit.

Als dann in den Seelen der unsterblichen bildenden Künstler und Dichter der Schöpfungstrieb erwacht war; als die Gesänge Homer’s zu kühnen Thaten begeisterten und die Dramen des Sophokles die Macht des Schicksals und das Innere des Menschen dem objektiv gewordenen Geiste zeigten; als sanfte jonische Musik die schwungvollen Hymnen Pindar’s begleitete; als weithin die marmornen Tempel strahlten und die Götter selbst in verklärten |

i257 Menschenleibern herabstiegen, um Wohnung unter dem entzückten Volke zu nehmen, – da war ja nur herausgestellt worden, was in Jedem lebte, da hatte sich ja nur in Einzelnen verdichtet, was Alle erfüllte. Wie in einer Nacht waren die Knospen aufgesprungen und die Blüthen des Formal-Schönen hatten sich entfaltet in unvergänglicher Pracht und Herrlichkeit.

Fortan hatten die Griechen, und durch sie die ganze Menschheit, neben dem begrifflichen Gesetz ein bildliches. Während das erstere mit Ketten und Schwert auf den Einzelnen eindringt und die sich gegen den Zwang trotzig auflehnende Individualität zu Boden wirft und knebelt, naht sich das letztere mit freundlicher Miene, streichelt das wilde Thier in uns und bindet uns, unser unaussprechliches Behagen benutzend, mit unzerreißbaren Blumenkränzen. Es wirft das aesthetische Maß über uns und läßt uns dadurch Ekel vor Ausschreitungen und Rohheiten empfinden, die uns vorher gleichgültig waren, wenn nicht gar ergötzten.

Die Kunst schwächt auf diese Weise den Willen direkt; indirekt aber dadurch, wie ich in der Aesthetik zeigte, daß sie im Menschen, nach dem kurzen Rausche der reinen Freude, die Sehnsucht nach seliger Ruhe erweckt und ihn, behufs anhaltender Befriedigung derselben, an die Wissenschaft weist. Sie schiebt ihn auf das moralische Gebiet hinüber. Hier nun bindet er sich selbst durch Erkenntniß, ohne Zwang des Gesetzes.


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