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An allen Ergriffenen aber bewährte es sich als eine große Kraft, die den Menschen wirklich glücklich machen kann. In der besten Zeit Griechenlands und Rom’s war nur eine moralische Entzündung des Willens an der Erkenntniß möglich, nämlich die Vaterlandsliebe. Wer die Güter erkannt und schätzen gelernt hatte, die der Staat ihm darbot, der mußte entflammen, und die Hingabe |

i271 an den Staat gab ihm große Befriedigung. Ein anderes, höheres Motiv, als die Wohlfahrt des Staates, das den Willen hätte ergreifen können, gab es nicht. Nun aber verinnerlichte der Glaube an das selige ewige Leben die Gemüther, durchglühte und läuterte sie, ließ sie Werke reiner Menschenliebe vollbringen und machte sie schon selig in diesem Leben.

 

23.

Den Absterbungsproceß der Römer beschleunigte dann der Neu-Platonismus. Er ist auf brahmanische Weisheit zurückzuführen. Er lehrte, ganz indisch, eine Ur-Einheit, deren Ausströmung die Welt ist, jedoch verunreinigt durch die Materie. Damit sich die Seele des Menschen von ihren sinnlichen Beimischungen befreie, genügt aber nicht die Ausübung der vier platonischen Tugenden, sondern die Sinnlichkeit muß durch Askese ertödtet werden. Eine also gereinigte Seele muß nun nicht wieder, wie bei Plato, in die Welt zurück, sondern versinkt in den reinen Theil der Gottheit und verliert sich in bewußtloser Potenzialität. Der Neu-Platonismus, der eine gewisse Ähnlichkeit mit der christlichen Lehre hat, ist die Vollendung der Philosophie des Alterthums und, gegen Plato’s und Heraklit’s Systeme gehalten, ein ungeheuerer Fortschritt. Das Gesetz der geistigen Befruchtung ist überhaupt nie bedeutsamer und folgenschwerer hervorgetreten, als in den ersten Jahrhunderten nach Christus.

Der Neu-Platonismus bemächtigte sich derjenigen Gebildeten, welche die Philosophie über die Religion stellten, und beschleunigte ihr Absterben. Später wirkte er auf die Kirchenväter und dadurch auf die dogmatische Ausbildung der Christuslehre. Die Wahrheit ist außerordentlich einfach. Sie läßt sich zusammenfassen in die wenigen Worte:»Bleibe keusch und du wirst das größte Glück auf Erden und nach dem Tode Erlösung finden.«Aber wie schwer fällt ihr der Sieg! Wie oft mußte sie schon die Form wechseln! wie vermummt mußte sie auftreten, um überhaupt in der Welt Fuß fassen zu können.

 

24.

Neu-Platonismus und Christenthum wendeten den Blick ihrer Bekenner von der Erde ab, weshalb ich oben sagte, daß sie nicht nur nicht den Verfall des römischen Reichs aufhielten, sondern ihn |

i272 herbeizogen.»Mein Reich ist nicht von dieser Welt,«hatte Christus gesagt. Die Christen der ersten Jahrhunderte beherzigten den Ausspruch wohl. Sie ließen sich lieber zu Tausenden hinschlachten, ehe sie sich dem Staate hingaben. Jeder war nur besorgt um sein Seelenheil und das seiner Glaubensbrüder. Die irdischen Dinge mochten sich gestalten wie sie wollten, – was konnte der Christ verlieren? Doch höchstens das Leben: und gerade der Tod war sein Gewinn; denn das Ende des kurzen irdischen Lebens war der Anfang des ewigen seligen Lebens. Diese Denkungsart war in Alle so eingedrungen, daß man allgemein den Todestag des Märtyrers als seinen Geburtstag feierte.

Auch als das Christenthum zur Staatsreligion erhoben worden war, änderten die Christen ihre Haltung nicht. Die Bischöfe benutzten nur ihren Einfluß, um die blutigen Gladiatorenkämpfe abzuschaffen, Armenhäuser und Spitäler überall entstehen zu lassen, und um die an den Grenzen des Reichs wohnenden Barbaren leichter bekehren zu können.

So vollzogen sich denn endlich die Geschicke des römischen Weltreichs, und auf die großartigste Fäulniß folgte die großartigste Verschmelzung, von der die Geschichte erzählt.

Schon im zweiten Jahrhundert v. Chr. hatten Theile der im Norden des römischen Reichs wohnenden kräftigen Völker germanischen Stammes, die Cimbern und Teutonen, versucht, das Reich zu zertrümmern. Aber die Zeit war noch nicht gekommen, wo frisches, wildes Blut, in dem die gesunde, würzige Luft der Steppe lebte, die siechen Römer regeneriren sollte. Die gedachten Schaaren wurden von Marius geschlagen und großentheils vertilgt. Aber 500 Jahre später ließ sich der Strom nicht mehr dämmen. Vandalen, Westgothen, Ostgothen, Longobarden, Burgundionen, Sueven, Alanen, Franken, Sachsen u.s.w. brachen von allen Seiten in den Staat ein, welcher vorher in ein ost- und west-römisches Reich getheilt worden war. Die Greuel der Völkerwanderung spotten jeder Beschreibung. Wohin die wilden Völkerschaften kamen, zerstörten sie die Werke der Kunst, für die sie kein Verständniß hatten, ließen die Städte in Flammen aufgehen, mordeten den größten Theil der Einwohner und machten das Land zur Einöde. Das Schicksal zeigte unverschleiert sein Ziel und bestätigte die christliche Lehre, die immer lauter und eindringlicher die Abkehr vom entsetzlichen Kampf |

i273 um’s Dasein und die Abtrennung des Individuums von der Welt forderte.

Allmählich aber setzten sich die rohen Schaaren fest und vermischten sich mit den übrig gebliebenen Culturvölkern des abendländischen Römerreichs. Es entstanden überall neue eigenthümliche Charaktere und kräftige Mischvölker, welche größere selbständige Staaten bildeten. Nur diejenigen Germanen, welche in Deutschland theils verblieben, theils dahin zurückgeworfen worden waren, erhielten sich unvermischt in der vollen ursprünglichen Kraft. Das Christenthum wurde nach und nach in allen neuen Staaten die herrschende Religion und unter seinem Einflusse erlagen die rohen Sitten, erweichten die Herzen und wurden gezähmt.

In die verlassenen Wohnsitze der Germanen rückten die Slaven, welche theils in friedlicher Berührung mit den angrenzenden Deutschen und Mischvölkern, theils von denselben unterjocht, in die Civilisation hereingezogen wurden.

 

25.

Kurze Zeit nachdem die durch gewaltigen Anstoß von Norden entstandene Völkervermischung sich einigermaßen abgeklärt und neue Reiche ausgeschieden hatte, drangen auch von Süden halbwilde Völker in den Kreis der Civilisation. Der Araber Muhammed hatte auf Handelsreisen das Christenthum und die jüdische Religion kennen gelernt und sich daraus eine Weltanschauung gebildet, die ihn entflammte. Das Schicksal tritt in ihr sehr bedeutend hervor und wird richtig gekennzeichnet: allerdings nur von der Peripherie aus, wo es sich als unerbittliche, unaufhaltbare, mit Nothwendigkeit verlaufende Weltbewegung zeigt. Es schwebt über der Welt, wie bei den Griechen, und kein Individuum in der Welt hilft, aus seiner Natur heraus, es gestalten, indem jedes Wesen, auf Allah’s Antrieb, ausführen muß, was geschehen soll; während die richtige Ansicht vom Schicksal die ist, daß es die aus den Bewegungen aller Individuen, des Sonnenstäubchens sowohl, als des Menschen, resultirende Bewegung der ganzen Welt ist, daß es also aus der Welt allein, und hier durch das Ineinandergreifen aller nothwendigen Handlungen aller Individuen entspringt.

Es drängte den Propheten, das gefundene Heil seinen Stammesgenossen mitzutheilen und sie zugleich in die höheren Lebensformen |

i274 der Civilisation, die er schätzen gelernt hatte, einzuführen. Er stiftete eine neue Religion, den Muhammedanismus, mit dem verlockenden Paradiese, begeisterte die phantasievollen Nomaden Arabien’s und gab ihnen Motive, welche sie in die Ferne, zu den absterbenden Völkern Kleinasien’s, Aegypten’s, Persien’s und Nord-Indien’s trieben. Wie die germanischen Völker, unterwarfen sie, in heißem Fanatismus, alle Länder, in welche sie eindrangen, bis sie auf die neuen romanisch- germanischen Reiche in Spanien und Frankreich stießen und an ihnen einen Damm fanden. Sie setzten sich jedoch in Süd-Spanien fest. Hier, und überall sonst, vermischten sie sich theils mit den alten Einwohnern, theils ließen sie sich von der vorgefundenen hohen Cultur befruchten. So entstand allmählich eine ganz eigenthümliche, sogenannte maurische Cultur, welche großen Einfluß auf die Völker des Abendlandes ausübte. Die Mauren pflegten die Wissenschaften, besonders Mathematik, Astronomie, Philosophie, Arzneikunde, brachten hervorragende Werke der Poesie hervor und bildeten einen zierlichen Baustil aus, der das Formal-Schöne des Raumes nach einer neuen Richtung auf das Edelste offenbarte.

 

26.

Das Gesetz der geistigen Befruchtung zeigt sich recht deutlich an der einfachen christlichen Lehre. Sie hat ihre Wurzeln in der jüdischen Religion, welche eine unter aegyptischem und persischem Einflusse gereinigte Naturreligion ist, und in den indischen Religionen (wahrscheinlich durch aegyptische Vermittlung).

In ihrer Weiterbildung trat neben jenes Gesetz das der geistigen Reibung. Zum ersten Male war sich im Occident eine Religion selbst überlassen; sie war nicht eine feste Grundlage des Staates, sondern schwebte über demselben ganz frei und wendete sich an die Individuen ohne weltliche Hülfe, bald dieses, bald jenes ergreifend. Hätten sich nun die Bekenner mit kindlichem Sinne an die einfache Heilswahrheit gehalten, welche in keiner Weise mißzuverstehen ist, so hätten Sekten gar nicht entstehen können. Aber der grübelnde Geist versenkte sich mit Wollust in die Heimlichkeiten Gottes, die Doppel-Natur Christi, das Verhältniß des heiligen Geistes zu Gott und Christo, in das Wesen der Sünde und Gnade u.s.w. und selbstverständlich mußten hier die Meinungen weit auseinander gehen, weil die heiligen Schriften |

i275 in dieser Hinsicht vieldeutig sind. Hierzu trat das Bestreben der Gelehrten (der oberflächlichen»Vielwisser«, wie sie der düstere Herakleitos verächtlich nennt), alle guten Elemente des philosophischen Wissens der damaligen Zeit mit der Offenbarung Gottes durch Christum zu verschmelzen. So bildeten sich denn einseitige Lehren aus; ein einheitliches Christenthum existirte nicht mehr und die verschiedenen Lehrmeinungen standen sich schroff gegenüber.

Die Gefahr für das Christenthum war groß. Sie erweckte Männer, welche Alles aufboten, um sie zu beschwören. Sie verfochten mit Geschick den einheitlichen Glauben, und ihren Bemühungen gelang es schließlich, als die Lehre Staatsreligion geworden und deshalb nöthig war, sie zu einem festen, unantastbaren Grund für das Gemeinwesen zu machen, auf Concilien den feinen ethischen Duft des Christenthums in die festen Behältnisse von Dogmen einzuschließen. Die Ketzer wurden verfolgt, und wenn auch die Sekten nicht ganz auszurotten waren, so verloren sie doch allen Einfluß auf die Geschicke der Menschheit.

Später jedoch führten Rangstreitigkeiten zwischen dem Bischof von Rom und dem Patriarchen von Konstantinopel, hauptsächlich verschärft durch die verschiedenartige Auslegung der Dreieinigkeit, zu einer Spaltung der Kirche in einen römisch- katholischen und einen griechisch- katholischen Zweig.

Um den Kampf mit der griechischen Kirche, welche vom byzantinischen Kaiser mächtig beschützt wurde, erfolgreich durchführen zu können, ließ die römische Kirche das römische Kaiserthum wieder aufleben, und bekleidete zuerst Karl den Großen mit der Kaiserwürde. Der Kaiser sollte der Stellvertreter Gottes auf Erden, ein höchster Schiedsrichter in irdischen Sachen, sein und diese Welt zu einem Abglanz des Reiches Gottes machen.»Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden.«Die Kirche huldigte indessen dieser Ansicht nur so lange, als sie sich schwach fühlte. Als sie, durch die Siege der ihr ergebenen Fürsten und die aufopfernde Thätigkeit gottbegeisterter Wanderlehrer, den größten Theil der europäischen Länder dem christlichen Glauben unterworfen sah, machte sie den Papst zum alleinigen Stellvertreter Gottes auf Erden. Der Papst übertrug nur seine Macht auf den Kaiser und nur so lange, als dieser den Instruktionen gemäß handelte. Jetzt entstand der lange Hader |

i276 zwischen Papstthum und Kaiserthum, zwischen weltlicher und geistlicher Macht, der noch heute nicht geschlichtet ist.

 

27.

Wir haben jetzt die Zustände des Mittelalters auf politischem, ökonomischem und geistigem Gebiete kurz zu betrachten. –

Die abendländische Christenheit zerfiel in eine große Anzahl selbständiger Staaten, welche den Kaiser im Prinzip als obersten Herrn anerkannten. In ihm war scheinbar, thatsächlich aber im Papste ein ungeschriebenes Völkerrecht verkörpert, so daß Ausrottungskriege gegen Christen unmöglich waren und nach dem Gesetze der Völkerrivalität ein reges politisches Leben Platz greifen konnte.

Die Form der Staaten war der Feudal-Staat. Der König wurde als Besitzer des ganzen eroberten Landes angesehen. Er gab Theile davon an den hohen Adel, an die hohe Geistlichkeit und an Städte ab, d.h. er belehnte sie damit, und erhielt als Gegenleistung Heerfolge und bestimmte Abgaben. Die Belehnten gaben ihrerseits wieder Theile des Lehns an ihre Mannen und an die Bauern, welche ihnen zu Diensten dafür verpflichtet waren.

Aus diesem allgemeinen Lehnsverbande schieden mit der Zeit der höchste Adel, die Kirchenfürsten und die freien Städte aus. Sie benutzten ihre Macht dazu, ihr Lehen zu freiem Eigenthum zu machen und dagegen das Abhängigkeitsverhältniß nach unten zu verstärken. Die meisten Bauern wurden zu Leibeigenen herabgedrückt und sanken in Noth und Elend.

Auf diese Weise wurde die Gewalt des Königs gelähmt. Er konnte fast nur dann noch das Wohl des Staates fördern, wenn es mit dem Privatinteresse der Herren übereinstimmte.

Der Feudalstaat war somit die Brutstätte der maßlosesten Zersplitterung. Das Gesetz der Ausbildung des Theils, welches man hier am besten Gesetz des Particularismus nennt, trat mächtig in ihm auf. Jeder sonderte sich mit seinem Anhang ab und bildete seine Persönlichkeit einseitig aus. Es entstand eine Fülle echter trotziger Charaktere, die vor Fäulniß bewahrt wurden, weil Reichthum nicht vorhanden war und die bei einer solchen Lage der Dinge hohe Reibung die Kräfte beständig in Spannung erhielt und vor Erschlaffung schützte. Eckige, querköpfige, eiserne Menschen, die lieber zerbrachen, als ihren Eigensinn aufgaben! Aber sie wur|den

i277 von der Civilisation nicht vergessen! Sie ließ dieselben auf die Seite treten und sich absondern, um sich und Anderen großes Leid zu bereiten. Dann kam die Hochfluth, welche sie in den Strom des Werdens riß, sie schmelzte und zu neuen Crystallen von weicherer Natur anschießen ließ.

 

28.

Wenn wir jetzt das ökonomische Gebiet des Mittelalters betreten, so haben wir zunächst einen Blick auf die Arbeit im Alterthume zu werfen.

Das ökonomische Gepräge der alten Welt ist die Sklaverei. Die herrschenden Classen der Priester und Adeligen, jene im Besitze der geheimen Wissenschaft, diese das Schwert in der Hand, ließen die unteren Classen für sich arbeiten und wurden reich. Während das Volk darbte, weil ihm nur so viel kärglich zugemessen wurde, als zur Fortführung eines mühseligen Lebens nöthig war, schwelgten die Herrschenden im Ueberfluß. Der wirthschaftliche Schwerpunkt lag im Ackerbau, der die meisten Sklaven beschäftigte. Der Rest wurde dazu verwandt, nothwendige Gegenstände, wie Kleider, Waffen, Geräthschaften u.s.w. anzufertigen. Den Ueberschuß an solchen Produkten tauschte der antike Herr, vermittelst der Kaufleute, gegen die Luxusprodukte anderer Länder aus.

In ähnlicher Weise gestalteten sich die wirthschaftlichen Verhältnisse im Mittelalter. Die Sklaverei war zwar durch das Christenthum abgeschafft worden, aber an ihre Stelle trat die Leibeigenschaft und die Hörigkeit. Die freieren Bauern mußten dem Herrn Naturaldienste leisten und Theile ihrer Ernte, ihres Viehs etc. an ihn abtreten.

Die Gewerke, wenn sie nicht im Dienste der Feudalherren standen, konnten sich dem herrschenden Zeitgeiste nicht entziehen und gliederten sich nach streng abgeschlossenen Zünften. Für jeden Ort waren die Gewerke und für jedes Gewerk die Zahl der Meister bestimmt; ferner war genau festgestellt, auf welche Weise Einer Meister werden konnte, welche Anzahl von Gesellen er halten, was er produciren durfte.

 

29.

Auf geistigem Gebiete herrschte die Kirche. Ihre Stellung zu den lebenskräftigen Mischvölkern und reinen Germanen war eine |

i278 andere, als die der christlichen Lehre zum römischen Volke. Diese hatte Bruchtheile einer absterbenden Nation bergab zu führen, jene sämmtliche Individuen bergauf zu geleiten und ihre Lebenskraft zu dämpfen und zu mildern.

Ihre Wirksamkeit war anfänglich außerordentlich segensreich. Sie wurde der Lehre ihres erhabenen Stifters in der Hauptsache niemals untreu, sondern, wie er, wandte sie sich unmittelbar an das Individuum, dessen Bedeutung sie nicht aus den Augen verlor. Jedem predigte sie die Heilswahrheit, Jedem war der Weg zu ihr immer frei, Jedem gab sie, was sie überhaupt hatte, Jeden begleitete sie von der Wiege bis zum Grabe. In die rohen Menschen trug sie den Zwiespalt zwischen dem natürlichen Egoismus und den klaren Geboten Gottes, gab ihnen ein strengeres Gewissen und mit ihm die Gewissensangst, Furcht und Schrecken: die besten Bändigungsmittel für wildes Blut. Auf den zermürbten Boden aber warf sie mit vollen Händen die Wahrheit, daß das Leben werthlos sei, und den Samen der Hoffnung, der Liebe und des Glaubens an die ewige Seligkeit.

Sie wendete den Blick auf ein unvergängliches Gut und gab den richtigen Weg an, auf dem die Creatur Frieden mit ihrem Schöpfer machen kann. Sie verbot, getragen von echt christlichem Geiste, ihren Priestern die Ehe und in ebenso echt christlichem Geiste begünstigte sie die Gründung von Klöstern, die ein Bedürfniß waren und sich lange in Reinheit erhielten. Das Wesen, das sich in den Klöstern ausdrückte, war, ist und wird immer vorhanden sein. Die große Gemeinde, der unsichtbare Orden der Entsagenden erweitert sich täglich.

Da die Kirche von der Wissenschaft noch Nichts zu befürchten hatte, erwarb sie sich in jenen Zeiten das Verdienst, von der Literatur des Alterthums so viel gerettet zu haben, als sie konnte. Sie barg die Schätze in den Klöstern, wo sie abgeschrieben und dadurch den Menschen erhalten wurden. Mit den Klöstern verband sie Schulen, wo, wenn auch nur als kleine Flamme, die Wissenschaft, geschützt, bessere Zeiten abwarten konnte. Die Priester waren überzeugt von der hohen Wahrheit der Religion und ihrer unbesiegbaren Stärke. Das machte sie duldsam. Man setzte das Bestreben der Kirchenväter, hellenische Wissenschaft zu pflegen, fort. Später ver|knöcherte

i279 die Kirche, und die Ansicht, daß das, was nicht in der Bibel stehe, falsch und gefährlich sei, gewann die Oberhand.

Dagegen begünstigte sie mit allen Mitteln die Kunst. Es entstand die so außerordentlich bedeutende, ganz eigenthümliche christliche Kunst, welche sich, als ein wesentliches Bildungselement, neben die Religion stellte. Die vom echten Glauben beseelten Künstler stellten die Wirkungen der göttlichen Gnade am Menschen dar, und an ihren Werken entzündeten sich die Gemüther. Die Kunst führte sie tiefer in die Religion ein, näherte sie dem in Christo verkörperten befreienden Princip und gab ihnen inneren Frieden durch den Glauben.

Aehnlich wirkten die überall entstehenden prachtvollen Dome. Die hohen, himmelanstrebenden Gewölbe stimmten die Seele erhaben, und sie ließ sich, ledig alles Drucks, auf den Schwingen der immer mehr sich ausbildenden Kirchenmusik, vor den Thron Gottes tragen. Das Herz demüthigte sich, und die Erkenntniß, daß alle irdische Freude, alles Glück, im Vergleich mit dem reinen Leben im Reiche Christi, Nichts sei, schlug zündend in dasselbe ein.

Auch wirkte die Kirche durch die dramatischen Passionsspiele, welche mit erschütternder Macht auf den Zuschauer eindrangen und ihn ernstlich und mit Erfolg mahnten, daß er ein Fremdling auf dieser Erde sei.

Am großartigsten und deutlichsten offenbarte sich die Kraft der Kirche in den Kreuzzügen, aus denen wir das wichtige Civilisationsgesetz der geistigen Ansteckung ziehen. Hoch und Niedrig, Hunderttausende nach Hunderttausenden, nahmen das Kreuz und zogen in die Ferne, den sicheren Tod vor Augen, um das Grab des Erlösers zu befreien. Ein elektrischer Strom ging durch die ganze Christenheit und befähigte den Menschen, allen Schwierigkeiten zu trotzen, alle Mühseligkeiten zu ertragen. Die Kreuzzüge sind eine sehr merkwürdige Erscheinung. Wer sich in sie vertieft, dem ist, als lege sich ihm ein Pfand in die Hände, daß sich in einer ähnlichen Stimmung die ganze Menschheit dereinst erlösen werde. Es ergriff die Menschen kein sinnliches, sondern ein ideales Motiv, und erhob sie über sich selbst. Der Geist, der in den ersten drei Jahrhunderten der Kirche herrschte, lebte wieder auf und bewirkte, daß man das Leben mit Wollust, wie eine schwere Last, abwarf. –

In keiner Geschichtsperiode ist die Gebundenheit auf allen Gebieten größer gewesen als im Mittelalter. Alles Leben bewegte sich |

i280 in starren drückenden Formen. Die Menschen gingen eingeschnürt vom Kopf bis zu den Füßen. Der Geist war gebunden, der Wille und die Arbeit waren gebunden. Die anscheinend Freien, die Geistlichen und Ritter, waren Sklaven, wie alle Anderen, denn sie band die gegenseitige Beschränkung und die allgemeine geistige Knechtschaft.

Dieses Gebundensein nach allen Richtungen hat große Aehnlichkeit mit dem in den alten orientalischen Staaten, in denen auch erst die natürliche Rohheit und Wildheit durch Despotismus gebrochen,»der Thiermensch aus Nichts zu Etwas«gemacht werden mußte. Der Wille wurde in den neuen Reichen vorbereitet, einem großen geistigen Anstoß folgen zu können, damit die Menschheit einen neuen großen Fortschritt zu machen im Stande sei.

 

30.

In diese feste Organisation der Völker im Mittelalter auf politischem, ökonomischem und geistigem Gebiete brach zuerst die Erfindung des Schießpulvers eine große Bresche und veranlaßte die Umbildung des Feudalstaates in das Landesfürstenthum, später in den absoluten Staat.

Die Macht der großen und kleinen Herren wurde gebrochen und der Adel genöthigt, in die seitdem immer mehr in Aufnahme kommenden stehenden Heere und in die Verwaltung der Fürsten einzutreten. In der rechtlichen Stellung der privilegirten Classen wurde indessen Nichts geändert. Rechtlich waren Adel und Geistlichkeit die beiden herrschenden Stände, aber der Einzelne hatte seine Selbständigkeit verloren und gravitirte, wie die Planeten nach der Sonne, nach dem Staatsoberhaupte. Die Bewegung gipfelte im absoluten Staate, in dem sich der Fürst mit dem Staate identificirte (l’état c’est moi). Im Fürsten faßte sich der ganze Staat zusammen, von ihm allein hing das Wohl und Wehe der Unterthanen ab, und der Adel, wie die Geistlichkeit, war nur Werkzeug in seiner Hand zur Ausführung seiner Gedanken, Pläne, Einfälle und Launen (tel est mon plaisir). Die Form des absoluten Staats war dieselbe, wie die des despotischen im Alterthum; aber der große Unterschied zwischen beiden liegt darin, daß der letztere nothwendig für die Anfänge der Cultur, der erstere dagegen berufen war, die bis zur äußerst möglichen Grenze partikularer Ausbildung gelangten Theile in den |

i281 Strom des Werdens zurückzuziehen. Es offenbarte sich hier das Gesetz der Nivellirung.

 

31.

Die festen Formen auf ökonomischem Gebiete wurden durch die großen Entdeckungen und Erfindungen: die Erfindung des Compasses, die Entdeckung des Seewegs nach Ostindien und nach Amerika, gesprengt. Es wurde die Produktionsweise von Gütern total umgestaltet. Wie die Wogen des Meeres so lange einen Felsen auswaschen, bis die Kuppe sich nicht mehr halten kann und herabstürzt, so drängte machtvoll und unablässig der neu entstandene Welthandel gegen die Zunftverfassung. Jetzt mußten die in den neuen Ländern erweckten Bedürfnisse: Kleider, Geräthschaften u.s.w., und die Bedürfnisse der in den europäischen Ländern stetig zunehmenden Bevölkerung befriedigt werden. Die Anforderungen an die Zünfte wurden immer größer; aber wie sollten sie ihnen entsprechen können, wenn die Zahl der Meister bestimmt blieb und keiner derselben eine größere Quantität von Gegenständen produciren durfte, als gesetzlich festgesetzt war? Da mußte sich das Band lockern. Es stellten sich neben die fortbestehenden Werkstätten der zünftigen Meister, welche für den Lokalbedarf arbeiteten, die Fabriken, die immer loser mit den Zünften verknüpft wurden, und es entstand die historische Form der Industrie.

Ihre nächste Folge war, daß das Gesetz der Auswicklung der Individualität wieder mit neuer Kraft die Erscheinungen leiten konnte. Die Eheschließung war im Mittelalter außerordentlich beschränkt. Der Geselle kam fast nie zur Ehe, und die Verehelichten, durch die schwierige Ernährungsweise gehemmt, zeugten nur wenige Kinder. Aber die Civilisation will, daß alle Menschen sich so viel als möglich in neuen Individuen auseinanderlegen, damit unmittelbar und mittelbar der Wille geschwächt werde: unmittelbar durch die Zersplitterung, mittelbar durch die größere Reibung. Die segensreichen Folgen des Kampfes um die Existenz schütten sich erst dann reichlich über die Kämpfenden aus, wenn diese auf dem engsten Raum zusammengepreßt sind und sich gehörig auf die Füße treten.

Auch sei hier auf die Wirkung aufmerksam gemacht, welche die Einführung der Kartoffel in Europa hervorbrachte. Die Volkszahl |

i282 stieg rapid; sie vervierfachte sich in Irland z.B. durch das neue Nahrungsmittel. Welche Vermehrung der Reibung!

Eine andere Folge der Industrie, welche sich auf dem politischen Gebiete bemerkbar machte – die wichtigste – war die Erstarkung des dritten Standes, des Bürgerthums. Handel und Gewerbe hatten schon im frühesten Mittelalter die Blüthe der Städte herbeigeführt und ihre Bürger befähigt, sich vom Adel der Umgebung und dann auch vom Adel in ihrer Mitte unabhängig zu machen. Jetzt aber wuchs die Macht der Bürger mit jedem Tage, weil sie täglich reicher wurden, so daß der Adel sogar sich herbeiließ, in die Heere der gegründeten Handelscompagnieen zu treten und dem Bürgerthum zu dienen, um Antheil an den beweglichen Gütern zu haben, die der fleißige und gewandte Kaufmann, wie durch Zauberei, hervorbrachte.

 

32.

Auf geistigem Gebiete herrschte noch immer unbeschränkt die Kirche. Den Wissenschaften wurde von ihr der Raum abgesteckt, in dem sie sich zu bewegen hatten, und sie trugen deutlich die Spuren des eisernen Drucks. Welche verkümmerte Blüthe war die Scholastik!

An dieser Herrschaft rüttelten aber schon lange vor der Reformation Sekten und brachten der großen, stahlharten historischen Form die ersten Sprünge bei. Die Veranlassung hierzu gab der Fäulnißproceß, der in den obersten Schichten der Priesterschaft aufgetreten war. Während der niedere Clerus in sehr dürftiger Lage war, schwelgten die Kirchenfürsten, und namentlich hatten die Verschwendung, Prachtliebe und Sittenlosigkeit der meisten Päpste keine Grenzen mehr. Sie benutzten die Kirche zur Erreichung von persönlichen und Familien-Zwecken und entheiligten schamlos die Christuslehre. Zuerst trat gegen diese Entartung Petrus Waldus auf, welcher die Gemeinde der Waldenser gründete. Sie sagten sich vom Papste los und erwählten ihre Seelsorger. In den blutigen Albigenserkriegen wurden sie zwar fast ganz vernichtet, aber der erste Anstoß war gegeben und mußte neue Bewegungen erzeugen. Ein neues gutes Motiv war wieder gegeben und zündete in Einzelnen. Es traten Wycliffe, Huß, Savonarola auf. Auch die beiden letzteren wurden von der Kirche unschädlich gemacht und die Spuren |


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