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Wie man vom japanischen Standpunkt aus die Bundesrepublik erlebt
In den Straßen deutscher Städte gibt es viel zuwenig Menschen. Man kann sich in irgendeinem Gebäude im Geschäftszentrum irgendeinen Stadt ans Fenster stellen und das Stück Straße vor diesem Fenster beobachten: wenn man dort mehr als drei Menschen auf einmal sieht, ist entweder gerade Geschäftsschluss, oder es ist ein Feuer ausgebrochen. In Tokio oder in einer „Kleinstadt“ wie Sapporo ist so etwas unvorstellbar. Nur in Münchens Kaufingerstraße fühlt der Besucher aus Japan sich nicht allein, sondern empfindet die angenehme Tuchfühlung auf der Straße, die ihm zeigt, dass er Mensch unter Menschen ist. In Deutschland lebt man auf Distanz, im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Diejenigen, denen es finanziell gut geht, sitzen in ihren Eigenheimen am Stadtrand und grübeln darüber nach, dass es nicht mehr so ist wie früher. Ihre Freunde sind auf einmal weit entfernt, und sie haben niemanden, mit dem sie über ihre Probleme sprechen können.
Für Frauen besteht das Hauptproblem darin, dass sie nicht länger nur Hausfrau sein wollen. Sie möchten sich gern mit etwas „Sinnvollerem“ beschäftigen, aber sie wissen nicht womit. Obwohl es heute in jeder größeren Stadt Clubs, Cafes oder andere Stellen gibt, wo Frauen sich mit Frauen treffen können, scheint die Mehrheit der Deutschen es vorzuziehen, ihre Sorgen mit sich allein herumzutragen. In der Westdeutschen Erfolgsgesellschaft verliert man offenbar das Gesicht, wenn man persönliche Misserfolge eingesteht. Auch japanische Frauen haben Probleme. Aus gutem Grund sind auch in Japan in letzter Zeit überall Treffpunkte für Frauen entstanden. In vieler Hinsicht ist die gesellschaftliche Situation der Japanerin sogar noch weniger fortschrittlich als die der deutschen Frauen. Aber die soziale Solidarität der Frauen untereinander hat sich aus der mittelalterlichen Tradition heraus bis heute erhalten.
Die deutschen Männer arbeiten Tag und Nacht, als hoffen sie, auf diese Weise ihren häuslichen Problemen entkommen zu können. Die Arbeitswut überrascht die Japaner – die bekanntlich ebenfalls sehr arbeitsam sind, – weil es sich fast immer um eine individuelle Arbeitswut handelt. Japaner teilen die Arbeit. Auch geschäftliche Entscheidungen werden von der Gruppe gemeinsam getragen. So leben und arbeiten die Bundesdeutschen in mehr oder weniger selbstgewählter Einsamkeit und haben in ihrem Wohlstand nichts, was sie zu gemeinsamen gesellschaftlichen Handeln bringen könnten. Distanz und Isolierung können jedoch auch in der Bundesrepublik besiegt werden. Das beweisen die Ausländer und Umsiedler, obwohl sie immer noch nicht ganz integriert sind und man ihnen die Schuld gibt für alles, was schief geht. Wer mittags nach 3 Uhr in deutschen Restaurants nicht mehr bedient wird, kann immer noch zum Italiener gehen. Und in Frankfurt geschah es, dass Ausländer plötzlich in der Straßenbann anfing zu singen. – Von den übrigen Fahrgästen hat kaum einer diese spontane Lebensfreude als angenehm empfunden.
(Nach P. Crome, „Die Vereinsamung im Wohlstand“, in: Frankfurter Rundschau vom 16.02.80)
XII. Der folgende Text von Wolf Wagner trägt den Titel „Kulturschock“.
1. Stellen Sie Vermutungen über den Textinhalt an.
2. Überfliegen Sie den Text und stellen Sie in ein bis zwei Sätzen die wichtigsten Informationen dar. Konzentrieren Sie sich dabei auf die Fragen: Wer? Wo? Was?
Дата добавления: 2015-09-06; просмотров: 317 | Нарушение авторских прав
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