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Frau und Mädchen

Ich erwachte auf einer Blumenwiese im Schein der warmen Frühlingssonne
und das erste, was ich sah, war eine junge Frau, die auf mich herab
schaute. Sie mochte vielleicht 16 oder 18 Jahre alt sein und die enge
schwarze Jeans und das schwarze Träger-Top, das sie trug,
unterstrichen ihre schlanke Figur. Ihr hübsches Gesicht wurde
umrahmt von langen, schwarzen Haaren und ihre fast schneeweiße Haut
bildete einen angenehmen Kontrast dazu. Etwas Vertrautes lag in ihrem
Anblick. Ich hatte das Gefühl dieses Mädchen zu kennen, auch wenn
ich nicht wusste, wann in meinem über siebzigjährigen Leben wir uns
begegnet waren.

„Hallo, Aurelie. Schön dich zu sehen. Auch wenn ich ein wenig enttäuscht
von dir bin.“, begrüßte sie mich mit einem hinreißenden Lächeln,
in dem Freude, Freundschaft, Verständnis, aber auch Belustigung
lagen.

Ich versuchte meinen Oberköper langsam aufzurichten, denn in den letzten
Jahren waren Gelenkschmerzen mein ständiger Begleiter, und musste
feststellen, dass es erstaunlich leicht ging. Mit einem Blick an mir
herab stellte ich fest, dass ich zwar noch das blumengemusterte
Nachthemd trug, in dem ich gestern Abend ins Bett gegangen war, ich
aber einen jugendlichen Körper hatte, den ich schon seit Jahrzehnten
nicht mehr mein Eigen nennen durfte.
Meine Verwunderung stieg.
Wieso dieser Körper? Und warum bin ich eigentlich auf dieser Wiese?
Und wer ist diese junge Frau? Für einen Traum fühlte es sich zu
real an.

„Ich kenne dich irgendwo her, aber ich will verdammt sein, wenn ich mich
erinnern könnte, wo wir uns begegnet sind. Sieh einer alten Frau
ihre Vergesslichkeit nach.“, sagte ich, indem ich alles, was mich
gerade verwirrte, einfach bei Seite schob und mich schlicht mit dem
Hier und Jetzt auseinandersetzte.

„Lass uns ein wenig spazieren gehen.“, war ihre Antwort, bei der sie
kokett den Kopf zur Seite neigte und mir ihre Hand zur Hilfe anbot.
„Du wirst schon sehen, dass die Erinnerung zurückkommt.“ Sie
kräuselte ihren Mund und nickte mir mehrmals aufmunternd zu.
Ich nahm ihre Hand, um aufzustehen, und im Moment der Berührung kam
unser erstes Aufeinandertreffen zurück in mein Gedächtnis.

Ich sehe das Gesicht dieser jungen Frau. Es schaut mich liebevoll und
wohlwollend an. Ihre weichen, zartgliedrigen Hände fassen meine
Wangen. Sie spricht einige Worte und küsst danach meine Stirn. Dann
ist sie verschwunden und danach kommen grelles Licht und Kälte…
Das einzige, was mir bleibt, ist zum ersten Mal laut zu schreien.

Schockiert schaute ich sie an. Und wieder kam dieses Lächeln, für das schon
ganze Königreiche zerstört wurden. Solch ein Lächeln steht nur wirklich Liebenden zu,
schoss es mir durch den Kopf.

„Jetzt erkennst du mich und meinen Namen, stimmt’s?“, kicherte sie. „Du
hast sicher ein paar Fragen und ich nehme mir gerne die Zeit, sie zu
beantworten.“
Ein kesses Augenzwinkern folgte diesen Worten.
Eigentlich hätte ich völlig aufgelöst sein sollen, aber eigenartigerweise war ich absolut ruhig und gefasst.
Ich war sogar so gut gelaunt, wie schon seit langer Zeit nicht mehr.

„Warum bin ich so jung?“, war alles, was mir im ersten Moment der Verblüffung einfiel.
Mit einem leichten Druck ihrer Hand, der mir Zuversicht einflößte, begann sie zu reden.

„Weißt du, jeder von euch, der bei mir ‚erwacht‘“, sie deutete mit Zeige- und
Mittelfinger Gänsefüßchen in der Luft an, “ tut das in der Gestalt, die man hatte,
als man seine glücklichste Zeit verlebte.
Bei dir war das mit etwa zwanzig Jahren und so erscheinst du dann hier. So sind die Regeln.
Du würdest nicht glauben, wieviele Menschen ich treffe, die als Säuglinge und Kleinkinder zu mir
kommen. Die haben sich danach nie wieder besser gefühlt.
Diejenigen, die mich sofort begrüßen und eigentlich keinerlei Fragen haben,
sind Leute, die als alte Menschen diesen Ort betreten…“

Wenige Worte einer netten jungen Frau, aber meine neugewonnene Klarsicht
wischte die Nebelbänke meines Seins langsam, aber sicher beiseite;
eine nach der anderen.

„Ich dachte, man trifft dich nur einmal und eigentlich hatte ich eine völlig andere Vorstellung von dir.“
Strahlende Augen und ein ehrliches, junges Lachen war die Antwort.
Tod (denn das war, was sie ist und ist, was sie war) löste sich von meiner Hand und begann sich
mit ausgestreckten Armen auf der Wiese im Kreis zu drehen. „Ist es nicht ein fan-tas-tisches Gefühl,
wie das Gras an den Zehen kitzelt?“, kicherte sie. Und ich musste ihr Recht geben: Es war ein
fantastisches Gefühl. „Ihr Menschen seid wirklich eigenartige Wesen.
Ihr verbringt so viel eurer kurzen Zeit damit, Probleme lösen zu wollen, die ihr selber erschaffen habt
und vergesst darüber, wie einfach es ist, glücklich zu sein.“

Mit einem mädchenhaften Glucksen ließ sie sich ins Gras fallen, verschränkte ihre Arme
hinter dem Kopf und erklärte mir: „Meinst du nicht, dass es übel genug ist, wenn man am Ende
angelangt ist? Warum sollte man dann noch auf einen knochigen Typen mit Sense treffen, der nicht
wirklich vertrauenserweckend rüberkommt?“

Ihre Augen, die bisher träumerisch über den Himmel geglitten waren, suchten nun
meinen Blick und ich fühlte mich davon unweigerlich angezogen. Ich fügte mich gerne in die Rolle,
mich von diesem Mädchen belehren zu lassen, obwohl sie doch so viel jünger als ich erschien.

„Ich besuche jeden von euch zweimal. Einmal am Beginn eures Lebens und
einmal, wenn das Spiel vorbei ist. Das finde ich nur fair. Aber
besonderen Menschen gebe ich manchmal etwas mit auf den Weg. Du,
Aurelie, warst einer dieser Menschen. Erinnerst du dich nicht, was
ich dir gesagt habe, als wir uns das erste Mal getroffen haben?“

Ich setzte mich im Schneidersitz neben sie und überlegte…

„Fühl dich willkommen, kleiner Mensch. Du wirst etwas haben, was wenige
Menschen bekommen. In deiner Zeit und in deiner Welt gibt es einen
Seelenverwandten für dich, der dich für dein ganzes Leben glücklich
und zufrieden machen kann. Du wirst ihm begegnen und ihn erkennen.
Scheue dich nicht, diese Chance anzunehmen und halte ihn fest. Die
wenigsten können auf diese Form puren Glücks hoffen!“

Ich schluckte und verstand. „Das meintest du eben, als du sagtest, du wärst enttäuscht?“
„Genau das meinte ich. „Ihr macht es euch immer so schwer, dabei könnte es so einfach und schön sein.“
Aus diesem jungen Gesicht mit dem Blick einer liebenden Mutter angesehen zu werden,
die ihrem Kind erklärt, worum es im Leben wirklich geht und dass nicht immer alles ist, wie es scheint,
war etwas verstörend.

Frank lernte ich mit neunzehn Jahren als eine Art Brieffreund über
gemeinsame Bekannte kennen. Er war nicht das, was ich mir damals
unter einem tollen Mann, einem Partner vorstellte, aber als ich zum
ersten Mal seine Stimme hörte, wusste ich, dass uns etwas verband,
was über alles, was ich bisher erlebt hatte und als das wahre Leben
betrachtete, hinausging.

Wie jede normale Neunzehnjährige fühlte ich mich extrem erwachsen und
hatte die Weisheit und Lebenserfahrung mit dem Löffel gefressen. Und
wie jede normale Neunzehnjährige hatte ich Tage, an denen ich mich
als Krone der Schöpfung sah und andere Tage, an denen mir nicht ein
vernünftiger Grund einfiel, weshalb mich irgendjemand mögen sollte.
Mit Frank wurde zwar nicht alles anders, aber viel intensiver. Wir
liebten uns und wir hassten uns. Vieles, was zwischen uns geschah,
habe ich zu unserer Zeit nicht nachvollziehen können. Ich dachte
doch, dass mir die Welt zu Füßen läge und fühlte mich gut, wenn
auch dieser Mann mir zu Füßen lag. Frank war ein paar Jahre älter
und lebte ein völlig anderes Leben als ich. Er war bereits Vater,
hatte seinen Beruf, war aber trotzdem jung geblieben. Ich war eine
Studentin, die zu Anfang noch bei ihren Eltern lebte und nach einer
nicht immer glücklichen Jugend begann, den Duft der Freiheit und
Selbstbestimmung zu schnuppern. Er liebte Spiele, mochte es zu
lachen, war albern und doch so voller Gefühle. Außerdem hatte er
diese Seite an sich, wo er verständnisvoll und empathisch auf
jemanden eingehen konnte, um dieser Person das Gefühl zu geben, dass
sie Wert hat und nicht nur wahrgenommen (das wäre ja schon nett),
sondern ernstgenommen wird.

Trotzdem konnte er mich zur Weißglut bringen.
Ich bin mir nicht sicher, wie das vonstatten ging, aber ich hätte ihn jeden
zweiten Tag zur Hölle wünschen können. Trotzdem führte jeder einzige Moment,
in dem er mir seine Liebe gestand, dazu, dass ich die größten
Glücksmomente erfuhr. Gleichzeitig sorgte es für Selbstzweifel. Bin
ich gut genug? Was findet er an mir? Warum möchte er seine Zeit mit
mir verbringen?

Wir haben uns sicher oft missverstanden, aber eigentlich liebte ich Frank
immer mit allem, was ich geben konnte. Ich kann gar nicht sagen, wie
oft seine Kommentare mich verletzt haben, obwohl ich doch wusste,
dass er mir nie etwas Böses wollte. Und ich weiß genau, dass ich
einen Heidenspaß daran hatte, Frank weh zu tun, als ich mich so
verletzt fühlte, weil er mich verlassen hatte.

Bis heute konnte ich nichts anderes tun, als diese Sachen zu verdrängen. Ich bin
gerne auf seinen Fehlern herumgeritten und habe mich im Recht
gefühlt. Unschuldig war er sicher nicht, aber er war sicher auch
nicht der Teufel, als den ich ihn vor mir und meinen Freunden
dargestellt habe. Ich war jung und habe meine Grenzen ausprobiert.
Dass ich dabei über diese Grenzen ging, ist nicht verwunderlich.
Dass ich dabei sogar den Menschen verlor, der alles für mich
bedeutete, war so nicht beabsichtigt. Aber junge Menschen sollten doch ihren Spaß
haben dürfen. Feiern, Knutschen und ausprobieren, wer der Richtige
ist, oder? Ich war doch noch so unsicher und unerfahren (auch wenn
ich das seinerzeit anders sah). Und ich verspürte wahrhaftige Angst,
mich fest zu binden.

Ich habe lange Zeit nicht verstanden, was zwischen uns passierte, aber
eins war mir immer klar: ich würde mich lieber mein Leben lang mit
Frank streiten, als mein Leben ohne ihn zu verbringen. Und obwohl ich
ihm anbot, dass wir doch auch beide andere Partner haben könnten und
mir viel an einer Freundschaft läge, waren das nur Worthülsen,
denen ich niemals hätte gerecht werden können. Ich verzehrte mich
nach diesem Menschen und doch war er die Person auf der Welt, die
mich am meisten ängstigte. Dummerweise war meine Situation nichts,
womit er auf Dauer umgehen konnte und so trennten wir uns im Streit
als ich einundzwanzig Jahre alt war. In der Folge versuchte ich
mehrmals erfolgreich ihm wehzutun, damit mein eigener Schmerz nicht
ungeteilt bleibt. Auch das konnte natürlich nicht ewig funktionieren
und als ich ihm klarmachte, dass die guten Zeiten Vergangenheit sind,
verloren wir jeden Kontakt und hörten nie wieder voneinander.

Ich möchte nicht sagen, dass damit mein Dasein keinen Wert mehr gehabt
oder dass ich ein unglückliches Leben geführt hätte. Ich fand
Erklärungen, Gründe und Ausreden, die mir genügten und es mir
ermöglichten, meinen Weg weiterzugehen. Für mich war es nach der
ersten schlimmen Phase, die jeder zerbrochenen Beziehung folgt,
einfach nur ein Teil des normalen Lebens.

Ich hatte meinen Beruf und meine Kollegen. Freunde kamen und gingen. Ich
hatte im Laufe meines Lebens mehrere Liebschaften; die eine besser,
die andere schlechter; manche länger, manche kürzer. Aber von Dauer
war nichts von alledem.

Nach dem Tod meiner Mutter bröckelte der Familienzusammenhalt und nachdem
mein Vater zwei Jahre später von uns ging, sah ich meine Schwester auch nur noch
höchstens einmal im Jahr. Besonders gut verstanden hatten wir uns nie.

Wer mich am längsten begleitete, war mein Husky, den ich mir nach einer
weiteren zerbrochenen Beziehung zulegte. Ich taufte ihn Frei, denn
ich liebte es, dieses Wort im Park laut rufen zu können. Wir
verbrachten fünfzehn wundervolle Jahre miteinander und als er mich
verließ, brachte ich es nicht übers Herz, ihn durch einen anderen
Hund zu ersetzen.

Als meine berufliche Laufbahn mit der Pensionierung endete, widmete ich
mich meinen Hobbies. Ich las viel, machte ausgedehnte Spaziergänge
(auf denen ich Frei anfangs sehr vermisste) und begann zu malen.
(Wobei ich nicht sagen könnte, dass ich darin sonderlich gut gewesen
wäre.)
Mit dem Beginn meiner Arthrose wurden die Spaziergängekürzer, bis ich sie
auf ein Minimum beschränkte.
Die Einsamkeit, die ich den größten Teil meines Lebens als schreckenerregendes
Ungeheuer empfand, war mir kein Gräuel mehr. Im Gegenteil, ich begrüßte sie als
willkommenen Freund.

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Und die Wunde, die Frank
hinterlassen hatte, heilte auch. Aber es war eine dieser Wunden, die
vernarben und sich immer wieder bemerkbar machen, wenn das Wetter
umschwingt. Eben so dachte ich immer wieder zurück an Frank, wenn
sich in meinem Leben ein Wetterumschwung anbahnte. Vergessen konnte
ich ihn nie und immer wieder fragte ich mich, wie es ihm wohl gehe
und was er wohl gerade tun würde; ob es ihm gut ginge.

Der Schlag der Erkenntnis ist härter als jeder Diamant.
Während wir aufstanden, um weiter zu schlendern, fragte ich: „Und was wurde aus
Frank?“ - „Ich habe vor ein paar Jahren ein ähnliches Gespräch mit ihm geführt.“

Wir wanderten weiter dahin und genossen das Gras unter unseren nackten
Füssen. Die Sonne war angenehm und die Umgebung sorgte für eine
gewisse Seelenruhe.

„Wohin gehen wir eigentlich?“, wollte ich wissen. Doch mit einem undurchschaubaren
Ausdruck antwortete sie nur: „Was denkst du, wohin es geht?“
ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung. Aber eine Frage quälte mich.

„Ich habe verstanden, was falsch gelaufen ist. Aber es kann doch nicht
sein, dass man in so jungen Jahren Fehler begeht, die unwiderruflich
nicht wieder gutzumachen sind. Du sagtest doch, dass wir etwas
Besonderes sind. Du meintest, dass eine Verbindung, wie zwischen
Frank und mir nicht häufig vorkommt. Heißt das, wir bekommen
irgendwann eine zweite Chance?“

Da drehte sie sich zu mir um und nahm mich in die Arme. Zum zweiten Mal
küsste sie meine Stirn und schmiegte dann ihren Kopf an meine Schulter.
Ich spürte eine Träne von ihrer Wange auf die meine laufen.
Ein letztes Wort hauchte sie in mein Ohr:

„Nein…“


Дата добавления: 2015-09-03; просмотров: 118 | Нарушение авторских прав


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