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Analytik des Erkenntnißvermögens. 16 страница

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i570 Leid befreit, daß es einem anderen Menschen hilft, durchaus egoistisch. Es hilft sich im wahren Sinne des Worts selbst, ob es gleich dem Anderen hilft; denn nur indem es dem Anderen hilft, kann es sich selbst helfen.

Es kann mir nicht einfallen, den Thaten, die aus einem barmherzigen Willen fließen, moralischen Werth abzusprechen; aber wenn eine Handlung lediglich dadurch moralisch ist, daß sie nicht auf Egoismus beruht, wie Schopenhauer will, so sind die Thaten aus Mitleid nicht moralisch, man wende sich wie man wolle.

Schon hieraus ergiebt sich, daß das Mitleid nicht das oberste Princip der Moral sein kann. Dies will ich jetzt im Einzelnen nachweisen. Zunächst sieht sich Schopenhauer genöthigt, die Vernunft, das wahre Aschenbrödel seiner Philosophie, zu Hülfe zu rufen.

Jedoch ist keineswegs erforderlich, daß in jedem einzelnen Falle das Mitleid wirklich erregt werde, wo es auch oft zu spät käme: sondern aus der ein für alle Mal erlangten Kenntniß von dem Leiden, welches jede ungerechte Handlung nothwendig über Andere bringt.... geht in edlen Gemüthern die Maxime: neminem laede hervor, und die vernünftige Ueberlegung erhebt sie zu dem ein für alle Mal gefaßten festen Vorsatz, die Rechte eines Jeden zu achten. –

Denn obwohl Grundsätze und abstrakte Erkenntniß überhaupt keineswegs die Urquelle, oder erste Grundlage der Moralität sind, so sind sie doch (!) zu einem moralischen Lebenswandel unentbehrlich.

(Ethik 214.)

Ohne fest gefaßte Grundsätze würden wir den antimoralischen Triebfedern, wenn sie durch äußere Eindrücke zu Affekten erregt sind, unwiderstehlich preisgegeben sein.

(ib. 215.)

Zweitens gesteht Schopenhauer selbst zu,

daß die Verwerflichkeit der widernatürlichen Wollustsünden nicht aus demselben Princip mit den Tugenden der Gerechtigkeit und Menschenliebe abzuleiten sind.

(ib. Vorrede XIX.)

Drittens finden die meisten Handlungen der Gerechtigkeit keinen Platz auf dem Fundament. Man denke an die vielen Fälle, wo Personen betrogen werden können, ohne daß sie es je zu erfahren |

i571 im Stande sind. Jeder Schlechte weiß in solchen Fällen, daß er kein Leid hervorbringt, wie sollte ihn nun das Mitleid abhalten können zu betrügen? Und nun gar, wenn es sich um keinen Mitmenschen, sondern um den Staat handelt. Ein Betrug, am Staate verübt, ein Wilddiebstahl, Steuerdefraudation, ist von jeher in den Augen der Welt die verzeihlichste Sünde gewesen. Der Staat wird täglich geprellt und Mitleid mit dem armen Staate hat noch keinen Hallunken vom Betrug abgehalten. Schopenhauer hat den Fall wohl erwogen, aber er half sich mit einem Kniff:

Die bloße Rechtsverletzung, als solche, wird zwar auch vom Gewissen und von Andern gemißbilligt werden, aber nur sofern die Maxime, jedes Recht zu achten, welche den wahrhaft ehrlichen Mann macht, dadurch gebrochen ist.

(Ethik 236.)

Hier ist einfach zu fragen: Ist die Vernunft, oder das Mitleid das oberste Princip der Ethik? Wenn das Mitleid, so kann ein Wilddiebstahl keine unmoralische Handlung sein.

Schließlich ist das Fundament zu schmal, weil die Heiligkeit nicht darauf stehen kann. Aber Schopenhauer ist nicht verlegen. Er hat das Mitleid gewaltsam zu einer Folge der Durchschauung des principii individuationis gemacht und läßt nun, gleichsam als letzte Stufe, die Heiligkeit, die Verneinung des Willens zum Leben, aus dieser Durchschauung hervorgehen. Dies ist jedoch falsch und es handelt sich, wie ich oben sagte, wirklich um ein zweites Fundament der Moral neben dem Mitleid, welches ein Willenszustand ist, nichts weiter. Die Barmherzigkeit steht mit der Erkenntniß genau in derselben Verbindung, wie alle anderen Qualitäten: die Erkenntniß liefert ihr das Motiv sich zu äußern.

Was ist nun eigentlich die Durchschauung des principii individuationis?

Die Tugend geht zwar aus der Erkenntniß hervor, aber nicht aus der abstrakten, durch Worte mittheilbaren.

(W. a. W. u. V. I. 434.)

Die ächte Güte der Gesinnung, die uneigennützige Tugend und der reine Edelmuth gehen nicht von abstrakter Erkenntniß aus, aber doch von Erkenntniß: nämlich von einer unmittelbaren und intuitiven, die nicht wegzuraisonniren und nicht anzuraisonniren ist, von einer Erkenntniß, die eben, weil sie nicht ab|strakt

i572 ist, sich auch nicht mittheilen läßt, sondern jedem selbst aufgehen muß, die daher ihren eigentlichen adäquaten Ausdruck nicht in Worten findet, sondern ganz allein in Thaten, im Lebenslauf des Menschen.

(ib. 437.)

Wem, der die Theologia Deutsch gelesen hat, fallen da nicht die Worte des edlen Franckforter’s ein:

Und was da offenbaret würde, oder was da gelebt würde, davon singt und sagt Niemand. Es ward auch mit Munde nie ausgesprochen, noch mit Herzen nie gedacht oder erkannt, wie es in der Wahrheit ist.

In der That befindet sich Schopenhauer hier mitten im mystischen Fahrwasser: fort ist alle Immanenz und ausgelöscht»des Menschen allerhöchste Kraft«. Es liegt eine bittere Ironie darin, daß gerade derjenige Mann, welcher nicht Worte des Hohns und der Verachtung genug finden konnte für die»Nachkantische Afterweisheit,«die Weisheit der»Charlatane und Windbeutel,«auf dem Gipfelpunkt seiner Philosophie eine»intellektuale Anschauung«ergreifen mußte, um sein Werk abschließen zu können.

Sehen wir indessen von Allem ab und nehmen wir an, die Heiligkeit entspringe aus einer intuitiven Erkenntniß: ist sie nun frei von Egoismus? O nein! Der Heilige will sein Wohl, er will vom Leben befreit sein. Er kann auch gar nicht anders wollen. Er kann aus tiefstem Herzensgrunde wünschen, daß alle Menschen erlöst werden möchten, aber die eigene Erlösung bleibt Hauptsache. Ein heiliger Christ ist zunächst um das Heil seiner Seele besorgt, und ihr, durch entsprechende Thaten, das ewige Leben zu sichern, ist sein Hauptstreben.

Und so sehen wir auch die Schopenhauer’sche Ethik, wie die Kantische, trotz allen energischen Protesten, auf dem Egoismus aufgerichtet, der realen Individualität, weil es eben nicht anders möglich ist. Die Sätze:

Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist das Kriterium einer Handlung von moralischem Werth;

und

Nur was aus Pflicht geschieht, hat einen moralischen Werth;

sind hohle, nichtssagende Phrasen, in der einsamen stillen Studier|stube

i573 entstanden, die aber das Leben und die Natur, kurz die Wahrheit, nicht unterschreibt: es giebt nur egoistische Handlungen.

—————

Ich will jetzt kurz die Moral, rein immanent, begründen.

Alle Tugend beruht entweder auf einem in dem Fluß des Werdens gewordenen guten Willen: eine edle Willensqualität wurde auf irgend eine Weise erweckt, vererbte sich und wurde dann unter günstigen Umständen immer fester, bis in einem Individuum ein wahrhaft barmherziger Wille in die Erscheinung trat; oder sie beruht auf der Erkenntniß: eine Erkenntniß klärt irgend einen Menschen über sein wahres Wohl auf und entzündet sein Herz. Ein ursprünglich guter Wille ist also nicht Bedingung einer moralischen Handlung. Moralische Handlungen können aus dem Mitleid fließen, müssen es aber nicht.

Der Egoismus des Menschen äußert sich nicht nur darin, daß er sich im Dasein erhalten will, sondern auch darin, daß er die»größtmögliche Summe von Wohlsein, jeden Genuß, zu dem er fähig ist«will, aber auch darin, daß er von Schmerzen, die er nicht umgehen kann, die kleinsten will. Hieraus ergiebt sich die Aufgabe für den Intellekt von selbst: er hat das allgemeine Wohl des Willens allein im Auge und bestimmt es durch abstrakte Erkenntniß, durch die Vernunft. Auf diese Weise wird der natürliche Egoismus in den geläuterten verwandelt, d.h. der Wille bindet seine Triebe so weit, als das erkannte Wohl es verlangt. Dieses Wohl hat mehrere Stufen. Es wird von dem Willen zuerst praktisch erstrebt, indem er sich versagt, zu stehlen, zu morden, Rache zu nehmen, damit nicht er bestohlen, gemordet und Rache an ihm genommen werde; dann beschränkt er sich immer weiter, bis er zuletzt sein höchstes Wohl im Nichtsein erkennt und demgemäß handelt. Ueberall ist hier die Vernunft thätig und wirkt, auf Grund der Erfahrung, durch abstrakte Begriffe. Zu diesem Zweck hat eben der blinde, bewußtlose Wille einen Theil seiner Bewegung gespalten, damit er sich in einer anderen Weise, als vorher, bewegen könne, geradeso wie er Pflanze und Thier wurde, weil er sich anders bewegen wollte, denn als chemische Kraft. Doch wäre es ein Wahn zu glauben, daß diese Akte frei gewesen seien. Jeder Uebergang in eine andere Bewegung wurde und wird durch die reale noth|wendige

i574 Entwicklung vermittelt. Alle Bewegungen aber sind Folgen einer ersten Bewegung, die wir als eine freie bezeichnen müssen. So ist die Vernunft, die wir ein befreiendes Princip nennen können, mit Nothwendigkeit geworden und so wirkt sie mit Nothwendigkeit: nirgends ist Platz in der Welt für die Freiheit.

Ich sage nicht, daß der Wille, nach Aufstellung irgend eines ihn beschränkenden allgemeinen Wohles, nun auch immer diesem gemäß handeln müsse. Nur eine geschmeckte Erkenntniß, wie die Mystiker sagen, ist fruchtbar, nur ein entzündeter Wille kann gern gegen seinen Charakter handeln. Aber wenn sich der Wille erlösen will, so kann er es nur durch die Vernunft, mit ihren, von Schopenhauer so verächtlich behandelten Begriffen.

Sie ist es, die, durch Erfahrung und Wissenschaft, dem Menschen das Leben in allen seinen Formen vorlegt, ihn prüfen, vergleichen und schließen läßt und ihn endlich zur Erkenntniß führt, daß Nichtsein allem Sein vorzuziehen ist. Und ist der Wille disponirt und drängt diese abstrakte Erkenntniß mit unwiderstehlicher Gewalt auf ihn ein, dergestalt, daß aus ihm heraus ein heftiges Verlangen ihr entgegenschlägt, so ist das Heilswerk vollbracht auf dem allernatürlichsten Wege, ohne intuitive Erkenntniß, ohne Zeichen und Wunder. Darum war einst der echte Glaube und ist heutzutage das zündende Wissen unbedingt nöthig, um selig zu werden. Nicht in Augenblicken überirdischer Verzückung, sondern, scharf beobachtend und anhaltend denkend, erkennt der Mensch in Begriffen, und schaut nicht auf wunderbare Weise an, daß Alles individueller Wille zum Leben ist, der in keiner Lebensform, es sei die des Bettlers oder des Königs, glücklich sein kann.

Entzündet die erwähnte Erkenntniß das Herz, so muß der Mensch in die Wiedergeburt mit derselben Nothwendigkeit, mit der ein Stein zur Erde fallen muß. Und deshalb kann auch Tugend gelehrt werden, muß Tugend gelehrt werden; nur kann ich von einem philosophisch Rohen nicht verlangen, daß er sein höchstes Wohl im Nichtsein erkenne. Dazu gehört hohe Bildung und der umfassendste geistige Horizont, wenn nicht das Herz schon bei der Zeugung eine asketische Richtung erhalten hat. Der Rohe kann nur in den Gütern der Welt, in Reichthum, Ehren, Ruhm, Genuß etc. sein Wohl erkennen. Befähigt ihn durch echte Bildung, es höher zu suchen, so gebt ihr ihm auch die Möglichkeit, es zu finden.

i575 Der von der Erkenntniß, daß Nichtsein besser ist als Sein, entzündete Wille also ist das oberste Princip aller Moral (ein untergeordnetes Princip ist der ursprünglich barmherzige Wille). Weder ist es das Mitleid, noch die mystische Durchschauung des principii individuationis, und die dänische Societät der Wissenschaften hatte vollkommen Recht, Schopenhauer’s Schrift nicht zu krönen.

Aus dem also entzündeten Willen fließt die Virginität, die Heiligkeit, die Feindesliebe, die Gerechtigkeit, kurz alle Tugend, und die Verwerflichkeit der widernatürlichen Wollust von selbst, denn der bewußte Wille zum Tode schwebt über der Welt.

Immer aber sind auch die Handlungen des Heiligen egoistisch, denn er handelt nunmehr seiner erleuchteten Natur gemäß, die sein Ich ist, sein Selbst, das nicht verleugnet werden kann. Immer sind auch seine Handlungen nothwendig, denn sie fließen aus einem bestimmten Charakter und einem bestimmten Geiste, unter bestimmten Umständen, in jedem Augenblicke seines Lebens. – Ist nun jede Handlung auch egoistisch, so darf nicht übersehen werden, wie sehr Handlungen von Handlungen, dem Grade des Egoismus nach, verschieden sind. Der Mensch, der sich vom Leben abgewandt hat und nur noch den Tod will, ist ein Egoist wie Der, welcher das Leben mit aller Macht will; aber der Egoismus des Ersteren ist nicht der natürliche, den man gewöhnlich schlechtweg Egoismus oder Selbstsucht nennt. –

Der aufmerksame Leser wird gefunden haben, daß ich hier die Moral nicht wie in meinem System begründet habe. Dies geschah jedoch absichtlich. Ich stellte mich lediglich auf die Erkenntniß, daß Nichtsein besser ist als Sein (an welcher sich ein Wille entzündet), weil dieselbe eine rein immanente Erkenntniß und von keiner Metaphysik abhängig ist. In meiner Philosophie dagegen habe ich diese Erkenntniß zunächst an den Entwicklungsgang der Menschheit aus dem Sein in das Nichtsein geknüpft und diesen wiederum auf den Gang des ganzen Weltalls, d.h. auf den Willen Gottes, dessen einzige That die Welt war, zurückgeführt. Gott wollte eben das Nichtsein. Weil wir nun Alle in ihm, vor der Welt, waren, so erklärt sich von selbst der herrliche Einklang zwischen den Handlungen eines Menschen, der nur sein höchstes Wohl im Auge hat, und den Handlungen, welche die großen Religionen fordern. Deshalb ist auch oben die Moral hinreichend begründet worden, ohne Metaphysik, obgleich doch eine Handlung, auf dem tiefsten Grunde, nur |

i576 dann moralisch genannt werden kann, wenn sie erstens gern geschieht und zweitens mit der Forderung einer höheren Macht (bei mir das Weltallsschicksal) übereinstimmt. – Die Moral ist keine müßige Erfindung der Menschen, sondern die sehr weisheitsvolle Verherrlichung eines besseren Mittels zum Zweck. Die Bejahung des Willens zum Leben, selbst wenn sie sich in Diebstahl und Mord bethätigt, bildet keinen Gegensatz zur Verneinung des Willens, weil das Schicksal aus der Wirksamkeit aller Dinge entsteht. Der Unterschied liegt im Lohn: hier Herzensfriede im Leben und die Vernichtung im Tode; dort Daseinspein, entweder in einem Leben von individueller Dauer, oder in einem unbestimmt langen Leben.

—————

Die Reue erklärt Schopenhauer sehr richtig:

Der Mensch wird inne, daß er gethan hat, was seinem Willen eigentlich nicht gemäß war: diese Erkenntniß ist die Reue.

(W. a. W. u. V. II. 679.)

Dagegen kann ich mich nicht mit seiner Erklärung des Gewissens einverstanden erklären. Er sagt:

Die immer vollständiger werdende Bekanntschaft mit uns selbst, das immer mehr sich füllende Protokoll der Thaten ist das Gewissen.

(Ethik 256.)

Gewissensangst über das Begangene ist nichts weniger als Reue, sondern Schmerz über die Erkenntniß seiner selbst an sich, d.h. als Wille.

(W. a. W. u. V. I. 350.)

Der Mensch handelt entweder seinem Charakter gemäß, oder gegen seinen Charakter, seinem allgemeinen Wohle gemäß. Hat er nicht seinem Charakter gemäß gehandelt, so kann er Reue empfinden; hat er dagegen nicht seinem Wohle gemäß gehandelt, so können ihn Gewissensbisse peinigen. Denn bei Erwägung seines Wohles zieht der Mensch Alles, was er weiß (wozu auch das gehört, was er fest glaubt) in Betracht. Führt er nun die That trotz Allem, was gegen sie spricht, aus, so wird ihn die selbe Stimme, welche vorher abrieth, jetzt belästigen. Es ist die Stimme des Gewissens. Gewissensangst wird er nur empfinden, wenn er eine Vergeltung nach dem Tode glaubt, oder aus Furcht vor Entdeckung.

—————

i577 Ich muß zum Schlusse nochmals auf die so außerordentlich wichtige Verneinung des Willens zum Leben zurückkommen. Sie muß klar, hell und erkennbar für Jeden dastehen.

Sie beruht auf der Erkenntniß, daß Nichtsein besser ist als Sein. Diese Erkenntniß ist aber unfruchtbar, wenn sie den Willen nicht entzündet; denn es giebt nur Ein Princip: den individuellen Willen. Schopenhauer erfaßte das Verhältniß des Intellekts zum Willen ganz schief. Wie er in der Aesthetik den Intellekt völlig vom Willen sonderte und jenen allein die aesthetische Freude genießen ließ, während es doch zu Tage liegt, daß der Wille allem Leid enthoben ist, so steht er in der Ethik nicht an, dem Intellekt einen zwingenden Einfluß auf den Willen zuzusprechen.

Das letzte Werk der Intelligenz bleibt die Aufhebung des Wollens, dem sie bis dahin zu seinen Zwecken gedient hatte.

(W. a. W. u. V. II. 699.)

Auf einem anderen Wege kann sich der Intellekt sogar wider den Willen richten; indem er, in den Phänomenen der Heiligkeit, ihn aufhebt.

(Parerga II 452.)

Dies ist falsch. Zu der Erkenntniß, daß Nichtsein besser ist als Sein, welche abhängig ist von hoher Geistescultur, muß der entscheidende Wille treten und Nichtsein wollen. Damit dies nun der Wille wollen kann, muß in ihm der klar erkannte große Vortheil allmählich die heftigste Sehnsucht nach demselben erweckt haben. Am leichtesten wird diese Sehnsucht aus einem Willen hervorbrechen, welcher von Hause aus ein sanfter, milder, guter Wille ist; dann aus Dem, welcher schwer leidet, oder aus Dem, welcher leicht in die aesthetische Contemplation übergeht. Unterstützt wird die moralische Begeisterung durch frühzeitige Einprägung der betreffenden Motive.

Hier ist nun wohl zu bemerken, daß, wie die Erkenntniß für sich allein unfruchtbar ist, ebenso ein entzündeter Wille unfruchtbar ist, wenn er schon im Kinde sich bejaht hat. Schopenhauer selbst hat diesen wichtigen Punkt gehörig betont in der bereits angeführten Stelle:

Mit jener Bejahung über den eigenen Leib hinaus, und bis zur Darstellung eines neuen – – – ist die Erlösung diesmal für fruchtlos erklärt.

i578 Wir werden uns nicht dadurch beirren lassen, daß er, ex tripode, seinem metaphysischen Hange folgend, diese klare echte Aussage widerrief: die Natur bestätigt sie immer und immer wieder. Die Stelle steht übrigens nicht vereinzelt da. So heißt es W. a. W. u. V. I. 449:

Freiwillige, vollkommene Keuschheit ist der erste Schritt in der Askese oder der Verneinung des Willens zum Leben. Sie verneint dadurch die über das individuelle Leben hinausgehende Bejahung des Willens und giebt damit die Anzeige, daß mit dem Leben dieses Leibes auch der Wille, dessen Erscheinung er ist, sich aufhebt. Die Natur, immer wahr und naiv, sagt aus, daß, wenn diese Maxime allgemein würde, das Menschengeschlecht ausstürbe.

Ich habe nur hinzuzufügen, daß die vollkommene Keuschheit der einzige Schritt ist, der sicher zur Erlösung führt.

Daß die vollkommene Keuschheit der innerste Kern der christlichen Moral ist, ist keinem Zweifel unterworfen.

Er aber sprach zu ihnen: das Wort fasset nicht Jedermann, sondern denen es gegeben ist. Denn es sind Etliche verschnitten, die sind aus Mutterleibe also geboren, und sind Etliche verschnitten, die von Menschen verschnitten sind, und sind Etliche verschnitten, die sich selbst verschnitten haben, um des Himmelreichs willen.

(Matth. 19, 11-12.)

Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: die Kinder dieser Welt freien und lassen sich freien. Welche aber würdig sein werden, jene Welt zu erlangen, und die Auferstehung von den Todten, die werden weder freien, noch sich freien lassen. Denn sie können hinfort nicht sterben; denn sie sind den Engeln gleich, und Gottes Kinder, dieweil sie Kinder sind der Auferstehung.

(Luc. 20, 34-36.)

Diese sind es, die nicht mit Weibern befleckt sind; denn sie sind Jungfrauen, und folgen dem Lamm nach, wo es hingeht. Diese sind erkauft aus den Menschen, zu Erstlingen Gott und dem Lamm.

(Apokalypse 14, 4.)

Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre.

(1. Cor. 7. 1.)

Wer ledig ist, der sorget, was dem Herrn angehört, wie er |

i579 dem Herrn gefalle. Wer aber freiet, der sorget, was der Welt angehöret. Es ist ein Unterschied zwischen einem Weibe und einer Jungfrau.

(1. Cor. 7, 32–33.)

Auch der heilige Augustinus spricht es unumwunden aus:

Novi quosdam, qui murmurent: quid, si, inquiunt, omnes velint ab omni concubitu abstinere, unde subsistet genus humanum? Utinam omnes hoc vellent! dumtaxat in caritate, de corde puro, et conscientia bona, et fide non ficta: multo citius Dei civitas compleretur, ut acceleraretur terminus mundi.

(De bono conjugali.)

Auch ist im Buche der Weisheit zu lesen:

Denn selig ist die Unfruchtbare, die unbefleckt ist, die da unschuldig ist des sündlichen Bettes; dieselbe wird es genießen zur Zeit, wenn man die Seelen richten wird.

Desselben Gleichen ein Unfruchtbarer, der nichts Unrechtes mit seiner Hand thut, noch Arges wider den Herrn denket, dem wird gegeben für seinen Glauben eine sonderliche Gabe, und ein besserer Theil im Tempel des Herrn.

(3. Cap. 13,14.)

Besser ist es, keine Kinder haben, so man fromm ist; denn dasselbe bringet ewiges Lob, denn es wird Beides bei Gott und den Menschen gerühmet.

Wo es ist, da nimmt man es zum Exempel an; wer es aber nicht hat, der wünscht es doch, und pranget in ewigem Kranz, und behält den Sieg des keuschen Kampfes.

(4. Cap. 1, 2.)

Aber kein seliges Leben nach dem Tode erkauft sich Der, welcher das Leben wirksam verneint, sondern die volle und ganze Vernichtung seines Wesens. Er hat thatsächlich ausgerungen und ist todt für immer: es ist vollbracht! –

Trotzdem wendet sich die Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben an Alle, zu jeder Zeit. Erstens, damit eine weitere Bejahung über das individuelle Leben hinaus nicht mehr stattfinde, und dadurch die Möglichkeit gegeben werde, früher erlöst zu werden. Zweitens, damit der Rest des individuellen Lebens in Ruhe und Frieden verlaufe; drittens damit man, durch Belehrung und Aufklärung, den Samen der Erlösung in die zarten Kinder|herzen

i580 streue und auf diese Weise an der eigenen Erlösung, die man verscherzt hat, indirekt arbeiten könne.

Es ist falsch, wenn Schopenhauer meint, die Verneinung des Willens zum Leben hebe den ganzen Charakter auf. Der individuelle Charakter tritt in den Hintergrund und färbt die neue Natur. Der Eine wird in die Einsamkeit fliehen und ruhig leben, ein Anderer sich daselbst kasteien, ein Dritter wird seinem Berufe treu bleiben, ein Vierter nur noch für das Wohl Anderer sorgen und für die Menschheit in den Tod gehen u.s.w. Warum denn nicht?

Weil viele Anhänger der Schopenhauer’schen Philosophie keine Zeichen und Wunder in sich verspüren, verzehren sie sich in Schmerz und glauben, sie seien nicht berufen. Dies ist eine sehr ernste praktische Folge eines theoretischen Irrthums. Die Verzückung ist gar kein Merkmal der Erlösung. Merkmal ist, und Bedingung zugleich, die ohne äußeren Zwang gewählte Virginität.

—————

Den Zustand im Allgemeinen Derer, welche den Willen zum Leben verneinten, schildert Schopenhauer unübertrefflich schön, und kann ich nicht unterlassen, einige Stellen anzuführen.

Ein solcher Mensch, der, nach vielen bitteren Kämpfen gegen seine eigene Natur, endlich ganz überwunden hat, ist nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetrübter Spiegel der Welt übrig.

(W. a. W. u. V. I. 462.)

Ist der Geschlechtstrieb unterdrückt, so wird dem Bewußtsein jene Sorglosigkeit und Heiterkeit des bloß individuellen Daseins wiedergegeben, und zwar auf einer erhöhten Potenz.

(ib. II. 649.)

Der gute Charakter lebt in einer seinem Wesen homogenen Außenwelt: die Anderen sind ihm kein Nicht-Ich, sondern»Ich noch einmal«.

(Ethik 272.)

Der, in welchem die Verneinung des Willens zum Leben aufgegangen ist, ist, so arm, freudlos und voll Entbehrungen sein Zustand, von außen gesehen, auch ist, voll innerer Freudigkeit und wahrer Himmelsruhe. Es ist nicht der unruhige Lebensdrang, die jubelnde Freude, welche heftiges Leiden zur vorhergegangenen, oder nachfolgenden Bedingung hat, wie sie den Wandel des |

i581 lebenslustigen Menschen ausmachen; sondern es ist ein unerschütterlicher Friede, eine tiefe Ruhe und innige Heiterkeit, ein Zustand, zu dem wir, wenn er uns vor die Augen oder die Einbildungskraft gebracht wird, nicht ohne die größte Sehnsucht blicken können.

(W. a. W. u. V. I. 461.)

Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf Diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur, mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehen abwarten; so zeigt sich uns statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Uebergangs von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raphael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist.

(ib. 486.)

 

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Politik.

i583

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Jeder, auch das größte Genie, ist in irgend einer Sphäre der

Erkenntniß entschieden bornirt.

Schopenhauer.

i585

Man muß es ein Glück nennen, daß Schopenhauer kein einziges Problem der Philosophie nur vom empirisch idealistischen Standpunkte aus zu lösen versuchte, sondern stets auch, der schweren Ketten müde, diese abwarf und, als Realist, die Dinge betrachtete. Er machte es, wie Kant, der, genau genommen, beim Ding an sich, als einem X, hätte stehen bleiben müssen. Ist auch dadurch Schopenhauer’s System ein vom Widerspruch ganz zernagtes geworden, so bietet es auf der anderen Seite eine Fülle gesunder, echter und wahrer Urtheile von der größten Wichtigkeit. Auch auf dem Gebiete der Politik werden wir, neben den absurdesten Ansichten, gute und vortreffliche finden, aber leider letztere in erschreckender Minderzahl. Der Grund hiervon liegt darin, daß, auf diesem Gebiete, auch der vorurtheilsvolle, gut situirte Bürger Schopenhauer das Wort ergreifen konnte. Das Elend des Volks wird zwar vortrefflich geschildert, aber nur um dem Pessimismus eine Folie zu geben. Sonst hat Schopenhauer nur Worte des Hohns und der Verachtung für das Volk und sein Streben, und wendet man sich mit Abscheu von dieser Perversität der Gesinnung des großen Mannes.

—————

Von der reinen Anschauung a priori, Zeit, ausgehend, leugnet Schopenhauer zunächst die reale Entwicklung des Menschengeschlechts.

Alle historische Philosophie, sie mag auch noch so vornehm thun, nimmt, als wäre Kant nie dagewesen, die Zeit für eine Bestimmung der Dinge an sich.

(W. a. W. u. V. I. 322.)

Die Geschichte ist wie das Kaleidoskop, welches bei jeder Wendung eine neue Konfiguration zeigt, während wir eigentlich (!) immer das Selbe vor Augen haben.

(ib. II. 545.)

Alle die, welche solche Konstruktionen des Weltlaufs, oder, wie sie es nennen, der Geschichte, aufstellen, haben die Hauptwahrheit |

i586 aller Philosophie nicht begriffen, daß nämlich zu aller Zeit, das Selbe ist, alles Werden und Entstehen nur scheinbar, die Ideen allein bleibend, die Zeit ideal.

(ib. 505.)

Besagte Geschichts-Philosophen und Verherrlicher sind demnach einfältige Realisten, dazu Optimisten, Eudämonisten, mithin platte Gesellen und eingefleischte Philister, zudem auch eigentlich schlechte Christen.

(ib.)

Diese reichliche Gallenergießung des erzürnten Idealisten hat mir immer großes Vergnügen gemacht; denn warum mußte er sich erzürnen? Doch nur weil er die Hauptwahrheit aller Philosophie nicht begriffen hat, daß die Zeit zwar ideal, aber die Bewegung des Willens real ist, und daß erstere von der letzteren, nicht aber die letztere von der ersteren abhängig ist.


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