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Sollte indessen Schopenhauer wirklich, wenigstens dieses einzige Mal, consequent bei seiner Ansicht stehen geblieben sein? Leider ist dies nicht der Fall. Auch die Nothwendigkeit der menschlichen Willensakte hat er durchlöchert; denn er ließ die transscendentale Freiheit des menschlichen Willens, von der er doch oben sagte, daß sie eine
nicht in der Erscheinung hervortretende
sei, indem das
Operari sequitur esse ohne Ausnahme für die Welt der Erfahrung
fest stehe, erst in zwei Fällen, dann nur in einem in die Erscheinung, als deus ex machina treten.
Diese Freiheit, diese Allmacht – – – kann nun auch, und zwar da, wo ihr, in ihrer vollendetsten Erscheinung, die vollkommen adäquate Kenntniß ihres eigenen Wesens aufgegangen |
i557 ist, von Neuem sich äußern, indem sie nämlich entweder auch hier, auf dem Gipfel der Besinnung und des Selbstbewußtseins, das Selbe will, was sie blind und sich selbst nicht kennend wollte, wo dann die Erkenntniß, wie im Einzelnen, so im Ganzen, für sie stets Motiv bleibt; oder aber auch umgekehrt, diese Erkenntniß wird ihr ein Quietiv, welches alles Wollen beschwichtigt und aufhebt. Dies ist die Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, welche, als in Hinsicht auf den Wandel des Individuums allgemeine, nicht einzelne Willensäußerung, nicht die Entwicklung des Charakters störend modificirt, sondern entweder durch immer stärkeres Hervortreten der ganzen bisherigen Handlungsweise, oder umgekehrt, durch Aufhebung derselben, lebendig die Maxime ausspricht, welche, nach nunmehr erhaltener Erkenntniß, der Wille frei ergriffen hat.
(W. a. W. u. V. I. 363.)
Dagegen heißt es 113 Seiten weiter (476):
In Wahrheit kommt die eigentliche Freiheit, d.h. Unabhängigkeit vom Satze des Grundes, nur dem Willen als Ding an sich zu, nicht seiner Erscheinung, deren wesentliche Form überall der Satz vom Grunde, das Element der Nothwendigkeit, ist. Allein der einzige Fall, wo jene Freiheit auch unmittelbar in der Erscheinung sichtbar werden kann, ist der, wo sie Dem, was erscheint, ein Ende macht.
Also hier sagt Schopenhauer deutlich: nur in der Verneinung, seiner selbst ist der Wille frei; in der ersten Stelle war er es auch in der Bejahung.
Consequent zu sein, ist die größte Obliegenheit eines Philosophen, und wird doch am Seltensten angetroffen.
(Kant, Kk. d. U. 122.)
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Die Zerlegung des individuellen Willens in einen intelligibelen und einen empirischen Charakter ist nach meiner Philosophie unstatthaft.
Der individuelle menschliche Wille tritt mit einem ganz bestimmten Charakter in das Leben und verbleibt bis zum Tode in realer Entwicklung. Von einem Punkte der Bewegung zum andern, oder subjektiv ausgedrückt, von einer Gegenwart zur andern, bewegt sich |
i558 dieser Charakter, dem ich hier Unveränderlichkeit geben will, als Einer. Jede seiner Handlungen ist das Produkt aus seiner Beschaffenheit und einem zureichenden Motiv. Was also in jeder Handlung hervortritt, ist nur Ein Charakter. Will man diesen empirisch nennen, weil man nur durch Erfahrung sein Wesen kennen lernt, so mag man es thun; aber die Annahme, daß der empirische Charakter nur der scheinbar in der Zeit auseinandergezogene zeitlose intelligibele sei, muß ich als absurd verwerfen; denn sie hätte nur dann einen Sinn, wenn die Zeit wirklich eine reine Anschauung a priori wäre, was ich genügend widerlegt zu haben glaube. Ist dagegen das Ding an sich in realer Entwicklung begriffen und die Zeit nur diejenige ideale Form, welche uns gegeben wurde, um die reale Succession verfolgen und erkennen zu können, so hat die subtile Unterscheidung alle Bedeutung verloren, und es darf nur von Einem Charakter gesprochen werden, den man nennen mag wie man will.
Was nun die transscendentale Freiheit betrifft, welche Schopenhauer in seiner schönen Schrift:»Ueber die Freiheit des Willens«in das Esse gelegt und dem Operari abgesprochen hat, so habe ich sie auch aus dem Esse nehmen müssen. Ich kenne weder einen wunderbaren Occasionalismus, noch eine hochwichtige furchtbare Todesstunde, in der sich die Palingenesie des Menschen vorbereitet
nebst allem Wohl und Wehe, welches in ihr begriffen und von dem an unwiderruflich bestimmt ist.
In der Zeugungsstunde allein wird der Charakter des Menschen bestimmt, und zwar mit Nothwendigkeit. Es treten zwei ganz bestimmte Menschen zusammen und zeugen einen ganz bestimmten dritten, welcher aufzufassen ist als ein verjüngtes altes Wesen (Glied einer Entwicklungsreihe). Dieses neue Individuum entwickelt sich nun nach den Worten des Dichters:
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
i559 Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
(Goethe.)
Jedes Wesen hat demnach eine Beschaffenheit (ein Esse), die es sich nicht mit Freiheit hat wählen können. Aber jedes Sein giebt Anweisung auf ein anderes, und so kommen wir schließlich zum reinen Sein einer transscendenten Einheit, der wir, ehe sie zerfiel, Freiheit zusprechen müssen, welche wir jedoch nicht begreifen können, so wenig wie die absolute Ruhe. Insofern aber Alles was ist, ursprünglich war in dieser einfachen Einheit, hat Alles sich auch sein Esse mit Freiheit gewählt, und jeder Mensch ist deshalb verantwortlich für seine Thaten, trotz seinem bestimmten Charakter, aus dem die Handlungen mit Nothwendigkeit fließen.
Dies ist die einzig mögliche, durchaus richtige und so lange vergeblich gesuchte Lösung eines der schwierigsten Probleme der Philosophie, nämlich des Zusammenbestehens von Freiheit und Nothwendigkeit in einer und derselben Handlung.
Kant gab dem Menschen Freiheit zu jeder Zeit, Schopenhauer (von dessen Inconsequenz ich absehe) Freiheit in der Todesstunde, und ich nahm ihm alle und jede Freiheit, die echte Freiheit auf das transscendente Gebiet verweisend, welches untergegangen ist und der klaren Welt der Vielheit, der Bewegung und der ausnahmslosen Nothwendigkeit Platz machte: der Quelle aller unserer Erkenntnisse und aller Wahrheit.
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Ehe wir zum Fundament der Moral übergehen können, haben wir die Unveränderlichkeit des Willens zu prüfen.
Die schönste Blüthe oder besser: die edelste Frucht der Schopenhauer’schen Philosophie ist die Verneinung des Willens zum Leben. Man wird immer mehr erkennen, daß erst auf Grund dieser Lehre ernstlich davon die Rede sein kann, die Philosophie an die Stelle der Religion treten, sie bis in die untersten Schichten des Volkes eindringen zu lassen. Was hat die Philosophie vor Schopenhauer dem nach Erlösung laut rufenden Herzen des Menschen geboten? Entweder erbärmliche Hirngespinnste über Gott, Unsterblichkeit der Seele, Substanz, Accidenzien, kurz einen Stein; oder sorgfältige, sehr scharfsinnige, durchaus nothwendige Untersuchungen |
i560 des Erkenntnißvermögens. Aber was fragt der Mensch in Momenten des Erstaunens über sich selbst, wann die Besinnung die Oberhand gewinnt und eine leise traurige Stimme in ihm spricht:
Ich leb’ – und weiß nicht wie lang;
Ich sterb’ – und weiß nicht wann;
Ich fahr’ – und weiß nicht wohin;
nach den subjektiven Formen, Raum und Zeit, nach dem Causalitätsgesetz und der Synthesis eines Mannigfaltigen der Anschauung? Das Herz will etwas haben, woran es sich anklammern kann, einen unerschütterlichen Grund im Sturm des Lebens, Brod und wieder Brod für seinen Hunger. Weil das Christenthum diesen Hunger stillte, mußte die griechische Philosophie, im Kampf mit ihm, unterliegen, und weil das Christenthum einen unerschütterlichen Grund gab, wann Alles wankte und zitterte, während die Philosophie der Schauplatz unfruchtbaren Gezänkes und wüthenden Kampfes war, warfen sich oft die hervorragendsten Geister, flügellahm und matt, in die Arme der Kirche. Aber man kann jetzt nicht mehr glauben, und weil man nicht mehr glauben kann, wirft man mit den Wundern und Mysterien der Religion ihren unzerstörbaren Kern fort: die Heilswahrheit. Gänzlicher Indifferentismus bemächtigt sich der Gemüther, welchen Kant sehr treffend»die Mutter des Chaos und der Nacht«genannt hat. Diesen unzerstörbaren Kern der christlichen Religion hat nun Schopenhauer mit starker Hand ergriffen und in den Tempel der Wissenschaft, als heiliges Feuer, gebracht, welches als neues Licht für die Menschheit hervorbrechen und sich über alle Länder ausbreiten wird, denn es ist so beschaffen, daß es Einzelne und Massen begeistern und ihre Herzen in helle Flammen versetzen kann.
Dann wird die Religion ihren Beruf erfüllt und ihre Bahn durchlaufen haben: sie kann dann das bis zur Mündigkeit geleitete Geschlecht entlassen, selbst aber in Frieden dahinscheiden. Dies wird die Euthanasie der Religion sein.
(Parerga II. 361.)
Aber die Verneinung des Willens zum Leben, diese herrlichste Frucht der Philosophie Schopenhauer’s, muß erst vor ihm selbst in Sicherheit gebracht werden, denn er greift sein Kind beständig an und bedroht sein Leben.
i561 Was sich der Verneinung des Willens zum Leben zuerst entgegenwirft, ist die geleugnete Individualität.
Wenn die Individualität nur ein Schein ist, wenn sie mit dem erkennenden Subjekt steht und fällt, so liegt der Schwerpunkt des menschlichen Wesens in der Species, in der Schopenhauer’schen Objectivation oder Idee Mensch (vom Einen ungetheilten Willen will ich ganz absehen); folglich kann das Individuum nicht anders erlöst werden als durch die Species, d.h. nicht anders, als durch den Willen sämmtlicher Menschen, da
die Gattung ihr Dasein wieder nur in den Individuen hat,
oder mit anderen Worten: das Individuum, das nur noch den einen Wunsch hat: ausgestoßen zu sein für immer aus der Reihe der Lebendigen, muß warten, bis es allen Menschen beliebt, den gleichen Wunsch zu haben. Eine Philosophie, welche Dieses lehrt, kann nie die christliche Religion ersetzen, welche den Einzelnen jederzeit aus der Masse heraushebt und ihn erquickt und labt mit der Hoffnung auf individuelle Befreiung.
Ich habe gewiß nicht nöthig, das Grundfalsche der Sache nochmals nachzuweisen. Die reale Individualität ist so gewiß, wie irgend ein Lehrsatz der Mathematik.
Auch kann man, auf Grund einer anderen Erklärung Schopenhauer’s, sagen: Wenn in jedem Individuum der Eine untheilbare Wille ganz enthalten ist, so müßte, wenn ein Mensch sich wirklich freiwillig verneint, die ganze Welt untergehen. Aber obgleich schon Mancher seinen Willen verneint hat, steht die Welt noch immer fest und sicher.
Der zweite Grundirrthum, welcher die Verneinung des Willens illusorisch macht, ist die geleugnete reale Entwicklung.
Liegt das innerste Wesen des Individuums bewegungslos, zeitlos, hinter seiner Erscheinung, so ist die Erlösung schlechterdings unmöglich. Die Verneinung kann nur auf die Bejahung folgen. Der Zustand des sich bejahenden Willens kann nicht zugleich mit dem Zustand des sich verneinenden Willens sein. Der Mystiker sagt:»Wenn das Licht herein soll, muß erst die Finsterniß hinaus.«Setzt man das Vorher und Nachher bei Seite, so bringt man das Individuum in zwei entgegengesetzte Zustände in einer Gegenwart, was kein menschliches Gehirn denken kann. Hier, bei dieser wichtigen |
i562 Lehre der Philosophie (der Verneinung des Willens zum Leben), erweist sich klarer als irgendwo sonst die Unmöglichkeit einerseits der Kantischen reinen Anschauungen, Raum und Zeit, und andererseits die Fruchtbarkeit meiner Erkenntnißtheorie.
Eng verknüpft mit der geleugneten realen Entwicklung ist drittens die Lehre Schopenhauer’s von der Unveränderlichkeit des empirischen Charakters.
Der Charakter des Menschen ist konstant: er bleibt der selbe, das ganze Leben hindurch.
Der Mensch ändert sich nie.
(Ethik 50.)
Dagegen spricht er dem Menschen die Fähigkeit zu, seinen Charakter ganz aufzuheben.
Der Schlüssel zur Vereinigung dieser Widersprüche liegt darin, daß der Zustand, in welchem der Charakter der Macht der Motive entzogen ist, nicht unmittelbar vom Willen ausgeht, sondern von einer veränderten Erkenntnißweise. So lange nämlich die Erkenntniß keine andere, als die im principio individuationis befangene, dem Satze vom Grunde schlechthin nachgehende ist, ist auch die Gewalt der Motive unwiderstehlich: wann aber das principium individuationis durchschaut, die Ideen, ja das Wesen der Dinge an sich, als derselbe Wille in Allem, unmittelbar erkannt wird, und aus dieser Erkenntniß ein allgemeines Quietiv des Wollens hervorgeht; dann werden die einzelnen Motive unwirksam, weil die ihnen entsprechende Erkenntnißweise, durch eine ganz andere verdunkelt, zurückgetreten ist. Daher kann der Charakter sich zwar nimmermehr theilweise ändern, sondern muß, mit der Konsequenz eines Naturgesetzes, im Einzelnen den Willen ausführen, dessen Erscheinung er im Ganzen ist: aber eben dieses Ganze, der Charakter selbst, kann völlig aufgehoben werden, durch die oben angegebene Veränderung der Erkenntniß.
(W. a. W. u. V. I. 477.)
Der Mensch tritt mit ganz bestimmten Willensqualitäten in das Dasein. Er ist, weil er das Leben überhaupt will; in zweiter Linie will er das Leben in einer bestimmten Form. Daß sein Wille ganz bestimmte Züge hat, ist keinem Zweifel unterworfen. Jeder klare Kopf erkennt dies, auch ohne philosophische Bildung, und erinnere |
i563 ich nur an Nero’s Vater, der, wie Sueton berichtet, mit wirklich großartiger Objektivität erklärte:»aus seinem und der Agrippina Charakter habe nur ein verächtliches und gemeinschädliches Wesen geboren werden können.«Die Willensqualitäten sind aber im Kinde nur als Keime vorhanden. Dies ist wichtig und deshalb fest zu halten.
Dem bestimmten Charakter eines Menschen ist die Erkenntniß beigegeben, ohne welche er sich nicht nach außen bewegen könnte. Alle Motive, welche ihn bewegen können, müssen, ehe sie zu ihm gelangen, durch die Erkenntniß.
Von diesen beiden Grundwahrheiten müssen wir ausgehen.
Die Keime zu festen Willensqualitäten sind weich und können beeinflußt werden. Hierauf beruht die Wichtigkeit der Erziehung. Eine Willensqualität kann gestärkt, eine andere geschwächt, eine dritte geradezu zum Verdorren gebracht, eine andere wieder geweckt werden, die schon am Ersticken war.
Das Mittel, dessen sich der Erzieher bedient, um seinen Zweck zu erreichen, ist, ganz allgemein ausgedrückt, die Sensibilität, welche, wie wir wissen, in einem dreifachen Verhältnisse zum Willen steht. Zuerst ist sie sein abhängiger Lenker, dann begleitet sie seine Thaten mit dem Gefühl, drittens eröffnet sie dem menschlichen Willen, durch das Selbstbewußtsein, sein tiefstes Inneres.
Der Erzieher giebt dem Kinde zunächst Fertigkeiten und einen gewissen Ueberblick über reale Verhältnisse. Dadurch macht er dessen Geist zu einem mehr oder weniger geschickten Lenker und giebt dem Willen selbst die Möglichkeit einer freieren Bewegung. Dann benutzt er die Sensibilität, um durch Züchtigung die Keime zu Willensqualitäten in der angegebenen Weise zu gestalten. Endlich klärt er das Kind durch die Religion über den Werth des Lebens auf. Ist er ein Denker, so wird er ihm sagen:»das höchste Gut ist der Friede des Herzens – alles Andere ist Nichts. Ueber dem Frieden des Herzens aber steht die völlige Vernichtung, deren irdisches Bild der traumlose Schlaf ist. So lange du leben mußt, vergiß dich selbst und wirke für Andere. Das Leben ist eine schwere Last und der Tod Erlösung.«Er braucht nicht zu befürchten, daß sein Zögling sich sofort in’s Wasser stürzt und den Tod sucht. Jugend will Leben und Dasein, aber die Worte werden dem Manne vielleicht einfallen und zum Motiv für ihn werden.
i564 Die Welt selbst vollendet die Erziehung. Tritt ein wild aufgewachsenes Individuum in sie ein, so wird sie sein erster Erzieher und ihr Wesen entspricht dem verwahrlosten Subjekt; denn, bildlich zu reden, ist sie kalt wie Eis und ohne Erbarmen. Mit eiserner Faust schleudert sie den Unerfahrenen und Eigensinnigen auf die Seite und hämmert auf die festgewordenen, kaum noch veränderlichen Willensqualitäten. Ist das Individuum zu spröde, so zerbricht es; ist es schlau, von Geburt an, so entflieht es und rächt sich; ist es gutherzig und beschränkt, so duldet man es und saugt es aus.
Den Einfluß der Erkenntniß auf den Willen giebt nun Schopenhauer völlig zu. Er sagt:
Da die Motive, welche die Erscheinung des Charakters, oder das Handeln, bestimmen, durch das Medium der Erkenntniß auf ihn einwirken, die Erkenntniß aber veränderlich ist, zwischen Irrthum und Wahrheit oft hin und her schwankt, in der Regel jedoch im Fortgange des Lebens immer mehr berichtigt wird, freilich in sehr verschiedenen Graden, so kann die Handlungsweise eines Menschen merklich verändert werden, ohne daß man daraus auf eine Veränderung seines Charakter zu schließen berechtigt wäre.
(W. a. W. u. V. I. 347.)
Alles, was die Motive können, ist, daß sie die Richtung seines Strebens ändern, d.h. machen, daß er das, was er unveränderlich sucht, auf einem anderen Wege suche, als bisher. Daher kann Belehrung, verbesserte Erkenntniß, also Einwirkung von außen, zwar ihn lehren, daß er in den Mitteln irrte, und kann demnach machen, daß er das Ziel, dem er, seinem innersten Wesen gemäß, einmal nachstrebt, auf einem ganz anderen Wege, sogar in einem ganz anderen Objekt als vorher verfolge: niemals aber kann sie machen, daß er etwas wirklich Anderes wolle, als er bisher gewollt hat.
(ib.)
Bloß seine Erkenntniß läßt sich berichtigen; daher er zu der Einsicht gelangen kann, daß diese oder jene Mittel, die er früher anwandte, nicht zu seinem Zwecke führen, oder mehr Nachtheil als Gewinn bringen: dann ändert er die Mittel, nicht die Zwecke. – – Ueberhaupt liegt allein in der Erkenntniß die Sphäre und der Bereich aller Besserung und Veredelung.... Dahin arbeitet alle Erziehung. Die Ausbildung der Vernunft, |
i565 durch Kenntnisse und Einsichten jeder Art, ist dadurch moralisch wichtig, daß sie Motiven, für welche ohne sie der Mensch verschlossen bliebe, den Zugang öffnet. So lange er diese nicht verstehen konnte, waren sie für seinen Willen nicht vorhanden.
(Ethik 52.)
Bisweilen werden Leidenschaften, denen man in der Jugend nachgab, später freiwillig gezügelt, bloß weil die entgegengesetzten Motive erst jetzt in die Erkenntniß getreten sind.
(W. a. W. u. V. I. 349.)
In diesem von Schopenhauer zugestandenen mächtigen (indirekten) Einfluß der Erkenntniß auf den Willen ist nun die Abänderlichkeit des Charakters implicite enthalten; denn wenn der Wille, durch die Erkenntniß veranlaßt, eine seiner Qualitäten für immer zur Unthätigkeit verurtheilt, so muß sie allmählich rudimentär werden: es ist, als ob sie gar nicht vorhanden wäre.
Man kann auch allgemein sagen: Jeder Mensch ist Wille zum Leben, folglich liegt auch in jedem Menschen die Möglichkeit, alle Qualitäten des Willens zu äußern. Durch Vererbung und Ausbildung sind einige hervorstechend in ihm, alle anderen sind nur als Keime vorhanden mit der Fähigkeit, sich zu entwickeln.
Man darf jedoch nicht die Abänderlichkeit des Charakters in weite Grenzen legen.
Die Abänderlichkeit ist eine Thatsache. Schon das verjüngte alte Sein ist ein abgeändertes Sein, indem zwei Willen und zwei Intelligenzen auf einander wirkten und eine neue Verbindung von Willen und Geist hervorbrachten. Die junge Idee tritt später in’s Leben (im weitesten Sinne) und bildet sich. Kann sie sich ganz frei von den Einflüssen ihrer jeweiligen Umgebung halten? Es ist nicht möglich.
Wir ziehen hieraus folgende Schlüsse:
1) der Mensch tritt mit starken und schwachen Keimen zu Willensqualitäten in’s Leben;
2) die starken können geschwächt, die schwachen gestärkt werden durch Erziehung, Beispiel, die Welt;
3) in jedem Augenblick seines Lebens hat jedoch der Mensch ein bestimmtes Ich, d.h. er ist die Verbindung eines bestimmten Willens mit einem bestimmten Geiste, welches |
i566 Ich, bei zureichendem Motiv, mit Nothwendigkeit handeln muß. Der Mensch handelt immer mit Nothwendigkeit und ist nie frei, auch nicht, wenn er seinen Willen verneint.
Einen anderen Beweis für die Umbildungsfähigkeit des Charakters hat Schopenhauer durch den erworbenen Charakter geliefert, den er neben den intelligibelen und den empirischen stellte; denn der erworbene Charakter tritt auf, wenn der Mensch gewisse Anlagen des empirischen besonders pflegt, andere dagegen verkümmern läßt. Ich muß übrigens darauf aufmerksam machen, daß Schopenhauer’s Darstellung des erworbenen Charakters eine verfehlte ist. Er spricht nämlich ganz allgemein von der Ausbildung natürlicher Eigenschaften, ohne diese unter dem Gesichtspunkte der Ethik zu sichten.
Die durch unsere individuelle Natur ohnehin nothwendige Handlungsweise haben wir jetzt auf deutlich bewußte, uns stets gegenwärtige Maximen gebracht, nach denen wir sie so besonnen durchführen, als wäre es eine erlernte, ohne hierbei je irre zu werden durch den vorübergehenden Einfluß der Stimmung, oder des Eindrucks der Gegenwart – – – ohne Zaudern, ohne Schwanken, ohne Inkonsequenzen. – – –
Haben wir erforscht, wo unsere Stärken und wo unsere Schwächen liegen, so werden wir unsere hervorstechenden natürlichen Anlagen ausbilden, gebrauchen, auf alle Weise zu nutzen suchen, und uns immer dahin wenden, wo diese taugen und gelten; aber durchaus und mit Selbstüberwindung die Bestrebungen vermeiden, zu denen wir von Natur geringe Anlagen haben.
(W. a. W. u. V. I. 360.)
Solche allgemeinen Sätze passen nicht in eine Ethik. Man wende sie versuchsweise auf einen Charakter an, dessen hervorstechender Zug Hang zum Diebstahl ist: er soll denselben besonnen und methodisch durchführen, ohne Zaudern, ohne Schwanken, ohne Inkonsequenzen, und wenn die Ehrlichkeit in ihm zu sprechen wagt, so soll er sie mit Selbstüberwindung zum Schweigen bringen. Fürwahr: difficile est, satiram non scribere.
Schließlich erwähne ich noch, daß Schopenhauer, weil er die reale Entwicklung leugnete und sich besonders deswegen auf die |
i567 Unveränderlichkeit des Willens steifte, behaupten mußte, daß die Verschiedenheit der Charaktere nicht zu erklären sei (W. a. W. u. V. II. 604). Sie ist aber sehr wohl zu erklären, wie ich in meiner Politik gezeigt habe.
—————
Wir stehen jetzt vor der Hauptfrage der Ethik: der Frage nach ihrem Fundament.
Auch hier muß ich von Kant zuerst sprechen, aber mit wenigen Worten, da Schopenhauer’s vortreffliche Kritik der Kantischen Ethik dieselbe vernichtet hat. Kant’s Verfahren ist dieses:
daß er zum Resultat machte, was das Princip oder die Voraussetzung hätte sein müssen (die Theologie) und zur Voraussetzung nahm, was als Resultat hätte abgeleitet werden sollen (das Gebot).
(Ethik 126.)
und der Hauptfehler seiner Grundlage der Moralität
ist Mangel an realem Gehalt, ist gänzlicher Mangel an Realität, und dadurch an möglicher Wirksamkeit.
(ib. 143.)
Dagegen wird es von Nutzen sein, drei Resultate der Kantischen Ethik anzumerken. Das eine ist, daß wir durch die Vernunft, durch deutliche Erkenntniß in Begriffen, einen Einfluß auf unseren Willen haben.
Wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von Dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden.
(Kk. d. V. 599.)
Das zweite ist, daß nur volle Uneigennützigkeit einer Handlung moralischen Werth geben kann. Kommt auch nur im Entferntesten der Egoismus in’s Spiel, so hat die Handlung im günstigsten Falle Legalität, nie Moralität. Das dritte Resultat ist, daß deshalb eine wirklich moralische Handlung gar nicht im Leben vorkommt.
In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf |
i568 moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe.
Es kann nie mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe, unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee, die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei.
(Kk. d. prakt. V. 27.)
Und weil dies der Fall ist, mußte eben Kant’s so rein begonnene Ethik als Moraltheologie endigen.
Ohne einen Gott und eine gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung.
(Kk. 607.)
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Schopenhauer tadelt Plato’s und der Stoiker Behauptung, daß Tugend gelehrt werden könne, und setzt der Ethik nur den Zweck
die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten Grund zurückzuführen.
(Ethik 195.)
Auch er geht von der Ansicht aus, daß nur Uneigennützigkeit einer Handlung moralischen Werth verleihe und erklärt offen:
Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist das Kriterium einer Handlung von moralischem Werth.
(Ethik 204.)
Besehen wir jetzt das Schopenhauer’sche Fundament der Moral.
Dem Anscheine nach giebt er der Moral nur eine Grundlage; untersucht man jedoch schärfer, so findet man zwei Fundamente, nämlich
1) das Mitleid,
2) die Durchschauung des principii individuationis,
was ich nachzuweisen habe. Er sagt:
Wie ist es irgend möglich, daß das Wohl und Wehe eines Andern, unmittelbar, d.h. ganz so wie sonst nur mein eigenes, meinen Willen bewege, also direkt mein Motiv werde, und es |
i569 sogar bisweilen in dem Grade werde, daß ich demselben mein eigenes Wohl und Wehe, diese sonst alleinige Quelle meiner Motive, mehr oder weniger nachsetze? – Offenbar nur dadurch, daß jener Andere der letzte Zweck meines Willens wird, ganz so wie sonst ich selbst es bin: also dadurch, daß ich ganz unmittelbar sein Wohl will und sein Wehe nicht will, so unmittelbar, wie sonst nur das meinige. Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mitleide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgend eine Weise mit ihm identificirt sei, d.h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. Da ich nun aber doch nicht in der Haut des Andern stecke, so kann allein vermittelst der Erkenntniß, die ich von ihm habe, d.h. der Vorstellung von ihm in meinem Kopf, ich mich so weit mit ihm identificiren, daß meine That jenen Unterschied als aufgehoben ankündigt. Der hier analysirte Vorgang – – – ist das alltägliche Phänomen des Mitleids.
(Ethik 208.)
Man kann diesen Satz nicht lesen, ohne den Scharfsinn zu bewundern, der nöthig war, um denselben zu erzeugen. Wie fein wird darin die Erkenntniß, als Durchschauung des principii individuationis, in das einfache Phänomen des Mitleids hineingespielt. Das Mitleid ist hiernach kein reiner Zustand des Willens, wie Trauer, Angst, wie die Unlust überhaupt, nicht der Ausfluß eines durch ein Motiv bewegten barmherzigen Willens, sondern – – ja wenn ich ihm nur einen Namen geben könnte: es ist Gefühl und übersinnliche Erkenntniß zu gleicher Zeit. Der Vorgang ist ein ganz anderer. Beim Anblick eines großen Jammers, des Leidens eines Menschen oder Thieres, empfinden wir in uns ein gewaltiges Weh, das uns das Herz zerreißt und in vielen Fällen, namentlich wo ein Thier leidet, größer ist als das des Leidenden. Weder erkennen, noch fühlen wir uns in irgend einer Weise identisch mit dem Leidenden, sondern wir empfinden lediglich in uns ein ganz positives Weh, von dem wir uns dadurch zu befreien suchen, daß wir den Leidenden leidlos machen. Folglich handelt das Individuum, welches sich dadurch von einem |
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