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Linguolandeskundliche (linguokulturologische) Wörterbücher

Vorlesung 17. National-kulturelle Spezifik der deutschen Lexik und Phraseologie aus der Sicht der interkulturellen Kommunikation

Gliederung:

  1. Linguokulturologie als interdisziplinäre Wissenschaft. Das Linguokulturem
  2. Zum Verhältnis von Sprache und Kultur
  3. Die linguolandeskundliche Klassifikation der Lexik und Phraseologie
  4. Über die Quellen linguolandeskundlicher Informationen
  5. Linguolandeskundliche (linguokulturologische) Wörterbücher
  6. Der Begriff der Sprachpersönlichkeit (selbständig, ITS)
  7. Probleme der interkulturellen Kommunikation (selbständig, ITS)
  8. Die aktuellen Kulturkonzepte der deutschen Sprache (selbständig, ITS)

 

Linguokulturologie als interdisziplinäre Wissenschaft. Das Linguokulturem

Die moderne Linguistik ist anthropozentrisch orientiert. Das heißt, der Mensch und das Wechselverhältnis von Sprache und Ku1tur stehen im Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen. Der Kul­turbegriff ist eines der wichtigsten Begriffe, ein Schlüsselwort.

Das Wort „Kultur“ ist mehrdeutig. In Fachkreisen sind über 400 Begriffsbestimmungen dieses Wortes bekannt. Für uns kommt vor allem die Grundbedeutung in frage. Im GWDS von G. Drosdowski heißt es:

a) (o. PL) Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leis­tungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwick­lung (eine weite Deutung), z.B. die menschliche K.;

b) Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem be­stimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen geisti­gen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen (eine engere Fassung des Begriffs), z.B. die abendländische, orientalische K.; die K. der Griechen, der Renaissance.

 

„Kultur“ ist vom lateinischen Verb colere abgeleitet, das zwei Bedeu­tungen besitzt: 1. pflegen, bebauen, bestellen (den Garten bestellen); 2. anbeten (поклоняться, боготворить, обожать, молиться).

Mit den Wechselbeziehungen von Sprache und Kultur befasst sich die Linguokulturwissenschaft (LK). Die LK bildete sich in Russland im letzten Jahrzehnt des 20. Jhs. heraus. An ihrem Werdegang beteiligten sich namhafte Sprach- und Kul­turforscher Ju. S. Stepanov, V. N. Telija, N. D. Arutjunova, V. V. Vorobjov, V. A. Maslova u.a. Dabei entwickelten sie weiter die bahnbrechenden (новаторские, открывающие новые пути) Ideen der russischen Wissenschaftler A. A. Potebnja, V V. Vinogradov, D. S. Lichacov, Ju. M. Lotman u.a.

Vergleichen wir drei Definitionen der Linguokulturwissenschaft:

1. Es ist eine komplexe Wissenschaftsdisziplin, die das Wechselwirken (die Interaktion) von Kultur und Sprache in ihrem Funktionieren untersucht und diesen Prozess als ganzheitliche Struktur von Entitäten (cущность) in der Einheit ihres sprachlichen und außersprachlichen (kulturellen) Ge­halts widerspiegelt (V. Vorobjov).

2. Die Linguokulturologie ist derjenige Bestandteil der Ethnolinguistik, der die Korrespondenz (Entsprechung) von Sprache und Kultur in ihrem synchronen Wechselwirken untersucht und be­schreibt (V. Telija).

3. Diese an der Schnittstelle von Linguistik und Kulturwissenschaft entstandene Disziplin, die zur Selbständigkeit tendiert, erforscht die in der Sprache widerspiegelten und festgehaltenen Kulturphänomene. Sie betrachtet historische und gegenwärtige sprachliche Fakten durch das Prisma der geistigen Kultur (V. Maslova).

Viele Begriffe der neuen Disziplin sind nicht eindeutig und nicht end­gültig definiert. Als Gegenstand der Linguokulturwissenschaft gilt die Erforschung und Beschreibung des sprachlichen Weltbildes,in dem sprachlich-kulturelle Informationen, Kulturkonzepte, Kulturphänomene in sprachlicher, verbaler Form wider­spiegelt und festgehalten sind.

Die Gesamtheit sprachlich-kultureller Informationen kann in Gestalt linguokulturologischer Felder dargestellt werden. Als Einheit eines Linguokulturfeldes wird ein Linguokulturem präsentiert, das als eine dialektische Einheit sprachlichen und außersprachlichen (gegen­ständlichen oder begrifflichen) Inhalts angesehen wird (s. Воробьёв, 1994, 31). Ein Linguokulturem verbindet Form (Zeichenkörper) und Inhalt (sprachliche Bedeutung und kulturellen Hintergrund, Assoziationskreis). Strukturmäßig können Linguokultureme verschiedenartig sein — in Form eines Lexems, einer Wortgruppe, eines Textes bzw. Diskurses (im russ.: соборность, русская идея, берёза als Symbol Russ­lands; Ordnung, Pünktlichkeit, deutsche Einheit, „Deutschlandlied“ als Hymne der BRD u. a. m.). Als Linguokultureme treten z. B. auf: verschie­dene Abfolge von Stockwerken, Etagen in Russland und Deutschland (Erdgeschoss, 1., 2.... Stock); Abzählen an den Fingern (die Deutschen beginnen mit dem Daumen, die Russen mit dem kleinen Finger); Notengebung an der Schule (eine Eins — «пятерка», «отлично») usw.

(((Der Kulturbegriff umfasst zwei Aspekte: materielle und geistige Kultur. (Cicero schrieb seinerzeit: So wie der Landmann sein Feld bebaut, so bestelle der Mensch auch die Äcker seines Geistes.) In diesem Zusammenhang betrachtet man Kultur und Zivilisation, die heute als „Antonyme“ gegenübergestellt werden (s. Hansen, 2000, 12). Unter Zivilisation versteht man dabei die durch den technischen und wissenschaft­lichen Fortschritt geschaffenen und verbesserten sozialen und materiellen Lebensbedingungen (s. GWDS. Bd. 6., 2946). Kultur und Zivilisation sind also zwei Hände der Menschheit. (Früher sagte man: China ist ein Land mit alter Kultur, aber geringer Zivilisation.)

Die Linguokulturwissenschaft legt mehr Wert auf die Kultur, weil die­se geistig, symbolhaft ist, während die Zivilisation materielle Grundlagen hat. Der Kultur gehören solche Gattungen an wie My­then, Folklore, Bräuche, Riten, Gewohnheiten, Traditionen, sie werden in Formen des alltäglichen und konventionellen Verhaltens, in sprachli­chen Äußerungen fixiert.)))

Die Hauptmethode der linguokulturwissenschaftlichen Forschung ist der konsequente Vergleich der Sprachen und Kulturen. In der amerikanischen und englischen Wissenschaft wird es cross-cultural studies genannt.

Zum Verhältnis von Sprache und Kultur

Das Verhältnis von Sprache, Kultur, Nation ist ein interdisziplinäres Problem, das durch gemeinsame Anstrengungen von Philosophie und Soziologie, Ethnolinguistik und Linguokulturwissenschaft gelöst werden kann.

Die Sprache ist aufs engste mit der Kultur verbunden, Sprache durch­dringt Kultur, entwickelt sich in ihr und bringt sie zum Ausdruck. Spra­che und Kultur verschmelzen zu einer Ganzheit, die „Linguokultur“ ge­nannt werden kann.

Die Linguokulturologie orientiert sich einmal am Faktor Mensch (Kul­tur) in der Sprache, zum anderen am sprachlichen Faktor im Menschen. Die beiden Phänomene werden durch gemeinsame Eigenschaften gekennzeichnet:

1. Kultur und Sprache sind Bewusstseinsformen, die die Weltanschau­ung von Mensch und Volk abbilden.

2. Das Subjekt von Sprache und Kultur ist eine Persönlichkeit oder die Gesellschaft, die Ethn ie.

3. Die beiden haben normativen, normgerechten Charakter, sie sind mehr oder weniger verbindlich für alle Angehörigen der Sprach- und Kulturge­meinschaft.

4. Durch Sprache und Kultur wird dem Individuum und der Gemein­schaft ein Wertesystem vorgegeben.

5. Historismus und evolutionärer Charakter sind ontologische Ei­genschaften von Sprache und Kultur.

6. Sprache und Kultur, beide haben kumulative (spei­chernde) und „intergenerationale“Funktion, es wird die Verbindung von Generation zu Generation, von Epoche zu Epoche verwirklicht, (Überlieferung von Mustern, Verhaltensweisen, Werten, Ideen).

 

Bei der Erforschung der Interaktion SpracheKultur sind drei Herangehensweisen zu verzeichnen. Der erste Ansatz, vertreten durch S.Atanovskij,G.Brutjan, geht von der einseitigen Einwirkung der Kultur auf die Sprache aus (K -» S). Mit der Veränderung der Wirklichkeit ändern sich national-kulturelle Stereotype und die Sprache selbst.

Der zweite Ansatz behandelt die umstrittene Frage über die Rückwir­kung der Sprache auf die Kultur und Weltanschauung (S -»K). Aus dieser Sicht wird die linguistische Relativitätstheorie von Sapir —Whorf (Sprache bestimmt das Weltbild und die Mentalität des Volkes) erörtert, Weisgerbers Auffassung von der Sprache als Zwischenwelt zwischen Wirklichkeit und Bewusstsein diskutiert.

Der dritte Ansatz gründet sich auf die Idee von wechselseitiger Bezie­hung von Sprache und Kultur (S <-> K). Sprache ist integ­rierter Bestandteil der Kultur, das wichtigste Werkzeug ihrer Aneignung. Sie manifestiert spezifische Wesenszüge der nationalen, ethnischen Mentalität, Sprache ist Bedingung, Produkt und Vermittlerin der Kultur. Andererseits ist Kultur in die Sprache eingebettet denn sie ist als Ganzes in Texten fixiert.

Die linguolandeskundliche Klassifikation der Lexik und Phraseologie

Aus linguolandeskundlicher Sicht lassen sich drei lexikalische Schichten unterscheiden:

1) äquivalenzlose (nichtäquivalente) Lexik;

2) Wörter mit national-kulturellem lexikalischen Hintergrund („Hintergrundlexik“ — фоновая лексика);

3) konnotativ markierte Lexik (s. Verescagin, Kostomarov).

I. Zur äquivalenzlosen Lexik der Sprache (L1) gehören die Wörter, die keine vollständigen oder partiellen Äquivalente im Lexikon der anderen Sprache (L2) haben. Das heißt nicht, dass diese Wörter, Wendungen nicht übersetzbar sind, denn die betreffenden Begriffe werden durch Umschreibun­gen, grammatische Konstruktionen oder direkte Entlehnungen ausge­drückt.

Äquivalenzlose Wörter sind geografische Namen, Namen von Institu­tionen und Organisationen, Bezeichnungen von Realien, d. h. politische, wirtschaftliche, historische, gesellschaftliche Sachverhalte. (Realien sind einmal Gegenstände und Erscheinungen selbst, die in kultureller Hinsicht relevant, bedeutsam sind, zum anderen sind es entsprechende Namen und Benennungen als sprachliche Zeichen. Sie sind unmittelbar ver­bunden mit Geschichte, Kultur, Wirtschaft, Sitten und Bräuchen, mit dem Alltagsleben des Landes.)

Eine Reihe von Realienbegriffen aus der BRD von heute und gestern:

Bundestag, Bundeskanzler, Bundesland, die neuen Bundesländer, Bundesbürger (Ossi, Wessi), Bundeswehr, Gastarbeiter, Wirtschaftswunder, Wende; Realien aus der DDR-Zeit (jetzt sind sie Historismen) – Jugendweihe (праздник совершеннолетия, 14 лет), Volkskammer, Thämann-Pionier, SED, FDJ, LPG u. a. Als Realien gelten solche Gegenstän­de der Kultur wie Nationalgerichte: Eisbein, Hackepeter, Kassler/Kasse­ler, Ochsenschwanzsuppe, Pfannkuchen, Plinsen, Stolle(n), strammer Max, Eintopf; Trachten: Lodenmantel, Dirndlkleid (баварское национ летнее платье) u. a.m.

Eine ganze Menge Realien bilden Namen von Städten, Ortschaften und Gegenden, Straßen und Plätzen, Theatern, Museen, Denkmälern, historischen Bauwerken und Kulturstätten, die oft Symbolcharakter ha­ben, da sie in ihrer Gesamtheit das „Deutschlandbild“ prägen:

das Brandenburger Tor (als Wahrzeichen Berlins und Symbol der deutschen Einheit), Unter den Linden, die Museumsinsel, Alex(anderplatz), Friedrichstadt­palast, Kurfürstendamm, „Berliner Ensemble“, Gedächtniskirche; die Dresdener Gemäldegalerie, der Zwinger, das „Blaue Wunder“ (Brücke über die Elbe); die Sächsische Schweiz; die Leipziger Messe, die Thomaskirche, das Gewandhaus(orchester), Deutschlands Tor zur Welt (Hamburg), deutsche Finanzmetropole (Frankfurt am Main), das grüne Herz Deutschlands (Thüringen).

Weltliche, kirchliche, religiöse Feste und Feiertage und entsprechen­de Sachverhalte liefern auch eine beträchtliche Anzahl von äquivalenzlo­sen Begriffen, die zur deutschen Lebensweise gehören:

Bergfest, n — Fest, das von einer Gemeinschaft veranstaltet wird, nachdem die Hälfte der gemeinsam zu verbringenden Zeitspanne vorüber ist; (половина срока): die Kursteilnehmer, Kinder im Ferienlager, Soldaten feierten B.; Mutter­ tag, m — öffentlicher Ehrentag für die Mütter, zweiter Sonntag im Mai; Okto­berfest, nоктябрьские народные гуляния (в Мюнхене).

In den meisten Fällen fehlen in der russischen Kultur und im Sprach­gebrauch entsprechende Denotate als Realien. Damit ist die Theo­rie von L a k u n e n (sprachlich-kulturellen Lücken) verbunden.

II. Die Wörter mit lexikalischem Hintergrund (фоновая лексика), die pragmatisches Hintergrundwissen über das Land der zu erlernenden Spra­che liefern, bilden die zweite Schicht der national-kulturell relevanten Lexik. „Hintergrundwissen“ ist eine Lehnübersetzung aus dem englischen backgroundknowledge. Diese zusätzlichen, aber wichtigen Kenntnisse sind in der signifikativen, begrifflichen Bedeutung des Wortes ent­halten. Träger des lexikalischen Hintergrundwis­sens sind nach E.Verescagin und V. Kostomarov national-kul­turelle semantische Teile (oder Seme, Bedeutungskomponenten), die den interlingualen (zwischensprachlichen) semantischen Elementen gegenü­bergestellt sind. Zwischensprachliche Äquivalente sind z. B. die Wörter: Holz-., Ziegel-, Hochhausдеревянный, кирпичный, высотный дом, zum Teil auch Fenster, Wand, Dach, aber solche russischen Wörter wie крыльцо, сени, порог sind national-kulturell markiert (weil emotional gefärbt). Übrigens sehen die Dächer in Europa (in Deutschland, Russ­land: Satteldach, Walmdach, Zeltdachдвухскатая, четырёхскатная, шатровая крыша) und in orientalischen Ländern (Flachdächer — плоские крыши) verschieden aus. Eine Lebenssituation, die in Ägypten oder Mit­telasien spielt, kann so beginnen: Die Kinder saßen und schliefen auf dem (flachen) Hausdach.

Im Fall der „Hintergrundlexik“ korrelieren zwar die Denotate (Ge­genstände, Erscheinungen) in verschiedenen Kulturen, doch sind sie nicht identisch (А =B) und rufen unterschiedliche Assoziationen hervor, die Missverständnisse und falsche Übersetzungen verursachen können.

Die festen Wortkomplexe учёная степень und „akademischer Grad“ haben bei „äußerer“ Äquivalenz einen unterschiedlichen Begriffsumfang (ihre Extension ist verschieden). In Deutschland bestehen drei akade­mische Grade: Diplomwissenschaftler (Diplomchemiker, Diplom-Ökonom u. a.), Doktor und Doktor sc./habil, im heutigen Russland und in der ehe­maligen UdSSR dagegen — nur zwei Grade: кандидат наук, доктор наук. Vom Kontext ausgehend, kann der Unterschied von kommunikati­ver Bedeutung sein. Die Äußerung „Seinen ersten akademischen Grad erlangte er mit 23 Jahren “ bedeutet nicht: *Он получил свою первую учёную степень в 23 года, die richtige Übersetzung ist: «B 23 года он закончил университет (получил диплом о высшем образовании)».

Die Wörter mit national-spezifischem lexikalischen Hintergrund sind durch verschiedene Assoziationen und Bedeutungsschattierungen gekenn­zeichnet. In ihrer denotativen Bedeutung stimmen аптека und „Apo­theke“ im Wesentlichen überein (=Verkaufs- und Herstellungsstelle für Arzneimittel). Während man im Russischen mit аптека, аптекарь die Vorstellungen von Genauigkeit und Sauberkeit verbindet (точно как в аптеке [на весах], взвешивать с аптекарской точностью, стаканы аптекарской чистоты), hat „Apotheke“ im Deutschen eine andere stabile Assoziation — (umg., scherzh.) „Geschäft mit hohen Preisen“: in dem Laden kaufe ich nicht mehr, das ist vielleicht eine A.; Apotheker, m — 2. (ugs. abwert.) Inhaber eines als teuer bekannten Geschäftes. Aber ländlich — sittlich! In den USA kann man in Apotheken Würstchen und Sandwiches, Schreibwaren und Briefmarken kaufen. Die Aufforderung Lauf in die Apotheke und be­sorge ein paar Briefmarken! wäre sinnlos für russische Leser/Hörer.

Bei der Übereinstimmung der Hauptbedeutungen воздух. — „Luft“ ha­ben diese Wörter entgegengesetzte Vergleichsassoziationen: ты нужен мне как воздух (ich brauche dich dringend) — er ist Luft für mich (existiert für mich nicht, ich kann ihn nicht brauchen). Im Unterschied zum Wort вода hat „Wasser“ eine Zusatzbedeutung, die im Russischen fehlt: 4. wässrige Flüssigkeit, die sich im Körper bildet: das W. (der Schweiß) lief ihm von der Stirn, W. in den Beinen haben (ноги отекают); W. lassen (verhüll.) — urinieren;j-m läuft das W. im Mund zusammen (у кого-л. слюнки текут) — j-d bekommt sogleich Appetit.

Zu sprachdidaktischen Zwecken kann man die „Hintergrundlexik“ sowie die äquivalenzlosen Wörter der gleichen Thematik in Form von semantischen, lexikalisch-phraseologischen Mikrofeldern oder „F r a m e s“ zusammentragen.

Das Mikrofeld „Hochzeit“ enthält solche äquivalenzlosen Elemente“ und Einheiten wie: Polterabend, m — Vorabend der Hochzeit, an dem nach altem Brauch vor der Tür Geschirr zerschlagen wird, dessen Scherben dem Brautpaar Glück brin­gen sollen (вечеринка накануне свадьбы; мальчишник, девичник); grüne (ei­gentliche) Hochzeit — Tag der Heirat; Myrtenkranz, m — Kranz aus Myrten für die jungfräuliche Braut; Ehegelöbnis, n; Abtanzen, n (der Braut den Kranz ab­tanzen); Hochzeitsjubiläen: papierene/baumwollene H. (ситцевая свадьба) nach dem ersten gemeinsam verlebten Jahr; hölzerne H. — 5 Jahre; zinnerne H. — 6 Jahre; kupferne H. — 7 Jahre (die Frau bekommt für ihre Verdienste einen Kupferpfennig); Rosenhochzeit — nach 10-Jahren-Zusammenleben, dabei er­folgt ein Abtanzen und es wird der Frau ein Kranz mit roten Rosen abgenom­men; gläserne H. — 15 Jahre; Porzellanhochzeit — 20 Jahre, die Eheleute be­kommen neues Geschirr zum Geschenk; silberne und goldene H. — 25 und 50 Jahre (sie werden auch in Russland gefeiert); Perlenhochzeit - 30 Jahre; Rubinhochzeit - 40 Jahre (mit Perlen und Rubinen als Geschenk); diamantene H. – 60 Jahre; eiserne H. - 65 Jahre; steinerne H. (Gnadenhochzeit) - 70 Jahre.

III. Die linguolandeskundliche Relevanz der konnotativ markierten Le­xik kommt in verschiedenen sprachlichen Erscheinungen zum Ausdruck. Dem politischen Ausdruck „Tauben und Falken“ entspricht das russische «голуби и ястребы», weil mit dem Wort сокол ausschließlich positive Vorstellungen verknüpft sind (im russischen Sprachbewusstsem ist «сокол» mutig, kühn, schön, verwegen: взвейтесь, соколы, орлами). Die im Deutschen üblichen Vorstellungsverknüpfungen wie das Schwein ->• -> Glück (Schwein haben); der (Ziegen) Bock, der Pferdefuß - der Teufel; das Kamel- die Dummheit, Beschränktheit (in der ägyptischen, arabischen Kultur ist es ein Sinnbild von Schönheit); ein Fisch im Wasser -» — > Gesundheit — sind fremd für das russische Sprachbewusstsein.

Auch der Gender-Aspekt, das grammatische Geschlecht der Wörter erweckt bei Deutschen und Russen verschiedene Vorstellungen. Für die Russen ist весна ein hübsches, rotwangiges, mit Blumenkranz geschmück­tes Mädchen. Für Deutsche ist der Frühling ein junger Mann: „ Willkommen, schöner Jüngling, du Wonne der Natur“. Den Tod versinnbildlicht der Sensenmann, der Schnitter (косарь) mit der Sense: der Sensenmann hielt reiche Ernte (poet.) = viele starben. Ein Synonym für смерть ist косая, als alte Frau (ein Gerippe) mit der Sense dargestellt.

Eine Differenzierung sprachlicher Einheiten mit national-kul­tureller Spezifik kann man auch im phraseologischen Subsystem der deutschen Sprache beobachten.

nach Kanossa gehen — eine schwerfallende, aber von der Situation geforder­te Selbsterniedrigung auf sich nehmen (nach der Reise des deutschen Kaisers Heinrich IV. nach der norditalienischen Burg Canossa zu Papst Gregor VII. im Jahre 1077; dazu einen Kanossagang (demütigenden Bußgang) antreten (идти с повинной, унижаться; встать на путь унижения); der Eiserne Kanzler — Beiname Otto von Bismarcks; das Dritte Reich — Deutschland während der na­tionalsozialistischen Herrschaft von 1933 bis 1.945; Berliner Mauer — von der DDR im Aug. 1961 in Berlin errichtete Mauer, die die Flucht der Bevölkerung in den Westen verhindern sollte, ein Symbol der Spaltung Deutschlands.

nach Adam Riese — genau gerechnet; das macht nach A. R. 15.35Euro (nach dem Rechenmeister Adam Riese (1492—1559), dem Autor der ersten Rechen­bücher in deutscher Sprache); frei nach Kniggeпо правилам хорошего тона, (разг.) как в лучших домах Филадельфии (nach A. Freiherrn von Knigge (1752 — 1796), der das erste Buch über korrekte Umgangsformen schrieb); keinen / nicht einen Deut (eigentl. = niederländische Kleinmünze) — gar nicht(s): keinen/nicht einen D. wert seinне стоить ни гроша, sich keinen D. umj-n kümmernникак не заботиться о ком-л; mit j-m Fraktur reden — deutlich, ja grob seine Mei­nung sagen — (фам.) объясниться начистоту, высказать свое мнение без обиняков (Fraktur. / (полигр.) готический, „немецкий“ шрифт, в отличие от латиницы: eigtl. j-m etw. in Frakturbuchstaben aufschreiben, die wegen ihrer Eckigkeit als derb und grob empfunden wurden); das ist ein Gedanke von Schiller — это блестящая идея.

einen Korb bekommen (= abgewiesen werden) — получить отказ (при уха­живании за девушкой). Die Redensart klärt sich aus der Sitte: wenn der Werber unwillkommen war, ließ ihm die Geliebte aus ihrem Fenster einen Korb mit ei­nem schwachen Boden herab, dass er, wenn er darin hinaufgezogen wurde, un­terwegs „durchfallen“ musste (davon kommt auch „in der Prüfung durchfal­len“); dazu auch: J-m einen Korb geben, sich einen Korb holen (= eine ablehnende Antwort, eine Abfuhr).

bei j-m [tief] in der Kreide stehen/sein/sitzen (ugs.) — bei j-m (viele) Schul­den haben — (много) задолжать кому-л. Die Redewendung geht auf das früher in Gasthäusern übliche „Ankreiden“ von Schulden zurück (dazu auch: auf Krei­de leben — (ugs.) auf Kredit leben).

den Stab über j-n brechen (geh) — j-n wegen seines Verhaltens völlig ver­urteilen und sich von ihm distanzieren — вынести кому-л. окончательный \ приговор, осудить кого-л.; (ист.) приговорить кого-л. к смерти. Das Idi­om ist im altgermanischen Recht verwurzelt. Nach alter Rechtssitte wurde über dem Haupt eines zum Tode Verurteilten vom Richter vor der Hinrich­tung der hölzerne Gerichtsstab in drei Teile zerbrochen und ihm mit den Worten vor die Füße geworfen: „Nun helf dir Gott, ich kann dir nicht mehr helfen“.

der Storch hat Tante Maria ins Bein gebissen (fam., scherzh., veraltend) — sie bekommt ein Kind / hat ein Kind bekommen (russ. его в капусте нашли, в магазине купили); bei Tante M. ist der Storch gewesen. Nach früherem Kinder­glauben war der Storch ein Vogel, der die kleinen Kinder bringt. Daher die be­kannten Ausdrücke.

Als Zwischenbilanz kann man Folgendes feststellen:

im Rahmen der interkultu­rellen Kommunikation stoßen wir auf Probleme und Schwierigkeiten. Sie sind mit der Differenz zwischen den Sprachgemeinschaften im Bestand (в фонде) des Weltwissens verbunden. Dieser Differenz liegen reale, objektive Unterschiede in der Geschichte, in der sozialen und politischen Organisa­tion, im Alltagsleben, in der materiellen Existenz und Produktion ei­ner Sprachgemeinschaft (einer Nation, Ethnie) gegenüber einer ande­ren.

Uuml;ber die Quellen linguolandeskundlicher Informationen

Das national-kulturelle Kolorit einer Sprache ist vor allem durch Lexeme und Phraseologismen ausgedrückt. Es gibt folgende Hauptquellen linguolandeskundlichen Wissens:

1) unmittelbares Kennenlernen von Land und Volk, Aneignung von Sprache und Kultur beim Aufenthalt im jeweiligen Land;

2) belletristische, publizistische, (populär)wissenschaftliche Texte;

3) Massenmedien (Presse, Funk, Film, Fernsehen, Internet);

4) Lehr-, Unterrichts- und Nachschlagewerke (Wörterbücher, Konversationslexika, Enzyklopädien mit eingeschlossen);

5) Festhalten und Auswertung von Eindrücken, Erinnerungen, Urtei­len von Personen, die im jeweiligen Land eine gewisse Zeitperiode ver­lebt haben;

 

Linguolandeskundliche Informationen weisen drei Erscheinungsformen auf: verbale (in Worte gekleidete), nonverbale und verbal-paralinguistische. Bekanntlich untersucht die Paralinguistik sprachbegleitende Erscheinungen: Mimik, Gestik, Kinesik, Atmung u. a. Demgemäß lassen sich linguolandeskundliche Begriffe folgendermaßen klassifizieren:

1. Einheiten verbaler Kommunikation: a) Realienbezeichnungen; b) Assoziationen hervorrufende sprachliche Formen (Mikrotexte: Apho­rismen, Zitate, Phraseologismen).

2. Paralinguismen: a) Mimik; b) Gesten; c) Körperhaltungen.

3. Rituelle (verbal-paralinguistische) Begriffe: a) Sitten, Bräuche, Tra­ditionen; b) Etikette, Umgangsformen; c) Volksglauben, Aberglauben, Volks-, Bauernregeln.

 

Linguolandeskundliche (linguokulturologische) Wörterbücher

In den letzten Jahren wurde in Russland eine ganze Reihe von linguolandes­kundlichen Wörterbüchern und Nachschlagewerken veröffentlicht, die uns Realien, Kulturkonzepte, Traditionen und Wertesysteme der europäischen und anderen Völker präsentieren.

Landeskundliche Erklärungen widerspiegeln die sozial-stereotypisierte Erfahrungswelt der jeweiligen Nation. „Das Geheimnis der Nationalität jedes Volkes (um mit dem russischen Literaturkritiker W. G.Belinskij zu sprechen) liegt nicht in seiner Klei­dung und Küche, sondern in seiner Art, Dinge aufzufassen“ (übrigens eine Analogie zu W. von Humboldt).

1. Wir gehen auf drei Wörterbücher ein. Das Nachschlage­buch „Landeskundliche Realien der deutschen Sprache“ von G.I. Kulikov und V. I. Martinevskij (Minsk, 1986) ist ein erster Versuch zur Systematisierung von spezifischen Realien der deutschsprachigen Län­der (damals waren es die DDR, die BRD, Österreich, die Schweiz, Lu­xemburg, Liechtenstein). Es enthält über 4000 Wörter und Wortverbin­dungen. Dies sind geografische Namen, staatliche Institutionen, politi­sche Parteien und Massenorganisationen, historische Ereignisse, Persön­lichkeiten des politischen und gesellschaftlichen Lebens, Repräsentanten der Wissenschaft, Literatur, Kunst und Kultur, Presseorgane, Nach­richtenagenturen, Verlage, Firmen und Unternehmen, literarische und Musikwerke, literarische Gestalten, Titel, Auszeichnungen, Nationalge­richte, Gegenstände des Alltagslebens, Sehenswürdigkeiten u.a.m.

Der Wortartikel hat folgende Struktur: deutsches Stichwort, gramma­tische Information, Übersetzung ins Russische, Erläu­terung, Definition in russischer Sprache, Benennungsmotiv (innere Form):

Barbarossa Барбаросса <букв. «краснобородый»> — прозвище Фридриха I (1125 — 1190) (герм, король и император «Священ. Рим. Империи» с 1152г.). Barbarossaplan, m / Fall „Barbarossa» — кодовое наименование плана агрессив. войны фаш. Германии против СССР.

Fachwerk, n фахверк — в средневековой зап.-европ. архитектуре деревян. брусчатый остов (каркас) малоэтажных зданий, состоящий из системы стоек, раскосов и обвязок, с заполнением камнем, кирпичом, глиной (см. Fach­werkbau, -haus).

Ländler, m: лендлер — народный австр.-нем. танец (парный круговой), муз. размер ¾ или 3/8.

Weißer Sonntag: белое воскресенье — первое воскресенье после Пасхи.

2. Das linguolandeskundliche Wörterbuch, das Deutschland gewidmet ist, heißt: «Германия: Страна и язык. Landeskunde durch die Sprache», verfasst von Dina G. Malzeva (M., 1998)., Das Wörterbuch behandelt rund 1700 Realien­begriffe aus der Geschichte, Kultur, Literatur, Geografie Deutschlands. Das Material ist nach dem thematischen Prinzip aufgebaut. Die Realien wer­den den 25 Sachbereichen zugeordnet: geografische Lage und Klimaverhältnisse, Pflanzen- und Tierwelt des Landes; Geschichte, Sitten und Bräuche, alte Legenden, Symbolik der Zahlen und Farben; Feste und Feiertage, Religion und Kirche; Industrie, Technik, Handel, Wissenschaft, Militärwesen im Spiegel der Sprache; Baukunst und Städtebau, Schule und Universität, Sprache und Schrift; Kleidung, Küche,Spiele, Volkstänze; national-spezifische Gesten, Eigennamen, Aphorismen, deutsche Volkslieder, Werke der schönen Literatur.

Das Wörterbuch ist eine Art Enzyklopädie des deutschen Lebens.

Einige Stichproben: zum Thema „Hochzeit“ gehören nicht nur Be­nennungen von Jubiläen (hölzerne, kupferne, gläserne, diamantene usw. Hochzeit), sondern auch Sprichwörter, Aphorismen, Volksglauben, Re­geln: Die Hochzeiten werden in der Stille gefeiert, der Lärm fängt in der Ehe an. Frühe Hochzeit, lange Liebe (vgl. Jung gefreit, nie gereut oder:... immer gereut). Man kann nicht auf zwei Hochzeiten zugleich tanzen.

Die Lieblingszeit für Hochzeiten ist Pfingsten. Hochzeiten werden meist freitags oder samstags gehalten. Die Volksweisheit belehrt: Wer am Donnerstag heiratet, dem donnert’s in die Ehe (vgl. в мае жениться — век маяться).

Aus der Gender-Sicht ist „Guter Rath“ zu beherzigen (принять, во внимание, к сердцу, запомнить; vom unbekann­ten Verfasser):

Präge dir beim Streite Zankt das femininum

Böser Eheleute mit dem maskulinum

Nur die Regel ein: musst du neutrum sein.

Zur Symbolik der Zahlen: die „Drei“ hat von alters her die symbolische Bedeutung von Vollendung, Abgeschlossenheit, Vollständig­keit. Eine wichtige Handlung wird dreimal vollzogen: dreimal wird etwas bekannt gemacht; dreimal wird ein Lebehoch ausgebracht; mit drei Ham­merschlägen auf den Grundstein spricht man bestimmte Wünsche aus; dreimal muss man an Holz klopfen; drei Hände Erde ins Grab werfen; die dreimalige Salve wird abgegeben bei der Beisetzung des gefallenen Soldaten.

Die „Drei“ versinnbildlicht Glück: Dreizahl — Glückszahl. Die Zahl „drei“ ist auch in Phraseologismen und Sprichwörtern oft gebraucht: Al­ler guten Dinge sind drei (Бог троицу любит); Man muss dreimal messen, ehe man einmal schneidet (Семь раз отмерь, один раз отрежь), drei Kreuze hinter j-m machen — (разг. фам.) облегчённо вздохнуть после ухода кого-л. — соответ. жест за спиной уходящего). Das Wörterbuch von D. Malzeva ist eine attraktive und unterhaltsame Lektüre.

3. Das linguolandeskundliche Wörterbuch „Österreich“ von N. V. Muravljova enthält über 4000 Realienbezeichnungen und umfasst solche Sachbereiche wie Bräuche, Feste, Traditionen, Besonderheiten der Lebens­weise der Österreicher, Kultur und Kunst, Bildung und Wissenschaft, das politische System, Wirtschaft, Sozialpartnerschaft, Sozialversicherung, Per­sonalien, historische Ereignisse, Sehenswürdigkeiten. Am Ende des Buches wird die Wörterbuchkonzeption begrün­det.

 

Als Spiegel von Spra­che und Kultur erfüllen die Wörterbücher fünf soziale Funktionen:

1. informierende (sie vermitteln uns gespeicherte Kenntnisse);

2. kommunikative (sie halten die Gebrauchsbedingungen der Wörter und ihre Kombinierbarkeit fest);

3. normative (durch Wörterbücher wird die Sprache normiert, kodifiziert);

4. kumulative (speichernde);

5. kulturelle, kulturell orientierende Funktion.

 

Beim Zusammenwirken aller Funktionen überwiegt doch im linguolandeskundlichen Wörterbuch die kumulative Funktion.

 


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