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IV. Zur Ethik.

V. Höhere Ansicht. | Erste Rede. Das Charakterbild Ferdinand Lassalle’s. | Zweite Rede. Die sociale Aufgabe der Gegenwart. | Dritte Rede. Das göttliche und das menschliche Gesetz. | Zehnter Essay. Das regulative Princip des Socialismus. | Der Gralsorden. | Loherangrin-Kapitel. | Ausstoßung. | I. Zur Psychologie. | II. Zur Physik. |


ii477

Spinoza und Fichte waren Beide praktische Philosophen, aber nach zwei ganz verschiedenen Richtungen. Der Eine war ein echter Weiser, der Andere hatte ganz das Zeug zu einem weisen Helden. Ein himmelweiter Unterschied; denn während der Eine sich ganz auf sich zurückzog, schwelgend in seiner gebenedeiten Persönlichkeit, wollte der Andere seine Ideale verwirklichen. Hätte Fichte gekonnt, wie er wollte, so würde die Geschichte von einem Tyrannen erzählen, der alle anderen Tyrannen ohne Ausnahme in Schatten gestellt hätte. Die Mitwelt hätte ihn verflucht wie diese, aber die Nachwelt hätte ihm in jedem Dorf ein Standbild errichtet und hätte diese Standbilder angebetet.

Le style c’est l’homme. Der Stil Spinoza’s ist abwehrend, abhaltend, der Stil Fichte’s aggressiv. Im letzteren sieht man Schwerter und Streitäxte funkeln und hört den Donner von tausend Batterien, dröhnende Kürassierattaken und entsetzliches Todesröcheln.

Wer kann Stellen wie die folgenden lesen, ohne erhaben gestimmt zu werden?

Wer hat die rohen Stämme vereinigt, und die widerstrebenden in das Joch der Gesetze und des friedlichen Lebens gezwungen? – – – Welches auch ihre Namen sein mögen: Heroen waren es, große Strecken ihrem Zeitalter vorangeeilt, Riesen unter den Umgebenden an geistiger Kraft. Sie unterwarfen ihrem Begriffe von Dem, was da sein sollte, Geschlechter, von denen sie dafür gehaßt und gefürchtet wurden; schlaflos durchsannen sie, für diese Geschlechter sorgend, die Nächte, rastlos stürzten sie sich von Schlachtfeld zu Schlachtfeld, entsagend den Genüssen, die sie wohl hätten haben können, immer ihr Leben darbietend, oft verspritzend ihr Blut. Und was suchten sie mit dieser Mühe? – – – Ein Begriff, ein bloßer Begriff von einem durch sie hervorzubringenden Zustande war es, der sie begeisterte.

(Gr. d. g. Z., 46.)

Rechne man mir nur nicht vor die Tausende, die auf Alexander’s Zuge fielen, erwähne man nicht seines eigenen frühzeitig erfolgten Todes: was konnte er denn nun, nach Realisirung der Idee, noch Größeres thun, als sterben?

(ib. 48.)

ii478 Woher der Erste den Muth bekam, dem allgemeinen und geheiligten Schreckbilde, dessen bloßer Gedanke schon lähmte, kühn in die Augen zu sehen, und zu finden, es sei nicht, und statt seiner sei nur Liebe und Seligkeit: das war das Wunder.

(ib. 54.)

Nicht ihrem Witze, sondern lediglich den von ihnen nur nicht geahnten Einflüssen der Tradition, welche sie verlachen, haben es die Spötter zu verdanken, daß sie nicht bis auf diesen Tag ihr Gesicht zerschlagen vor hölzernen Götzen, und ihre Kinder durch’s Feuer gehen lassen dem Moloch.

(ib. 54.)

Welche Kraft und welche vollendet schöne Diktion!

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Nur der Heilige ist kein Heuchler, wenn er den Ruhm verachtet. Spricht Jemand, der Weiber küßt und gern gut tafelt, verächtlich vom Ruhm oder überhaupt von der Meinung Anderer, so lügt er.

Für jeden Weltmann ist die Meinung Anderer von uns und ihre Blüthe, der Ruhm, etwas sehr Wesentliches.

Das bloße Bewußtsein, ein großer Mann zu sein, konnte einem Spinoza genügen, nicht einem Napoleon. Der Weltmann dürstet nach den Gefühlen der Menge: Ecco il Dante, che fu nell’ inferno (Seht dort den Dante, der in der Hölle gewesen ist). Es ist für ihn die berauschendste Musik. Spinoza dagegen hätte über das: Ecco lo Spinoza verächtlich gelächelt, wenn es ihn nicht gar in die Flucht getrieben hätte.

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Zwei sehr duftige Blüthen des Christenthums sind die Begriffe: Fremdlingschaft auf Erden und religiöses Heimweh. Wer anfängt, sich als Gast auf Erden zu erkennen und zu fühlen, hat die Bahn der Erlösung betreten und nun wird ihm auch sofort der Lohn für seine Weisheit: er sitzt fortan bis zu seinem Tode in der Welt, wie ein Zuschauer im Theater.

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»Zur anderen Natur werden«ist ein sehr guter Ausdruck auf ethischem Gebiete.

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ii479 Das Wort Sünde wird sich auch dann noch erhalten, wann es keine Religion mehr auf Erden giebt: dieser Begriff geht erst mit der Menschheit unter.

Sünde ist von Schuld streng zu sondern. Eine Sünde ist immer eine Schuld, aber eine Schuld nicht immer eine Sünde.

Sünde ist jede Uebertretung des göttlichen Gesetzes. Die Schuld dagegen ist Uebertretung des menschlichen Gesetzes, das nicht über, sondern unter dem göttlichen Gesetze steht.

Als die Vivia Perpetua über das gebrochene Herz ihres greisen Vaters in die Arme ihres Erlösers sank, handelte sie eminent moralisch, aber auch eminent schuldvoll. In gleicher Weise würde Einer handeln, wenn er sich dem Allgemeinen hingäbe und seine Familie deswegen verhungerte.

Besser schuldvoll als ein Sünder.

Das arme Herz muß natürlich immer die Rechnung bezahlen; aber deshalb müssen auch solche Institutionen im Staat errichtet werden, die dem Einzelnen, der es will, auch die Möglichkeit geben, sich frei von Herzensbanden zu halten.

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Trunksucht und Gefräßigkeit werden nur deshalb von der Ethik verpönt, weil sie leicht zur Sünde veranlassen. An sich widerstreiten sie dem göttlichen Gesetz nicht.

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Vom Gesichtspunkte aus, daß durch das Band der Zeugung alle gegenwärtigen Menschen in allen früheren waren, darf man behaupten, daß jeder jetzt lebende Mensch ein Mörder, ein Dieb, ein Nothzüchter u.s.w. ist. Im Budhaismus wird dies auch gelehrt. Budha bekannte, daß Blut, das er in einem früheren Lebenslauf vergossen habe, an seinen Händen klebe.

Wie mild und tolerant gegen Verbrecher stimmt eine solche Betrachtung!

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Der Weise liebt die Tugend nicht um ihrer selbst willen, wie das bekannte Schlagwort lautet, sondern ihrer Folge, des Herzensfriedens wegen. Der Weise sucht, wie der Rohe, sein Glück; er definirt nur das Glück anders, als der Rohe.

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ii480 Darf man sich wundern, daß der Glaube an das Paradies seit beinahe zwei Jahrtausenden schon die christlichen Gemüther beherrscht und jetzt noch die Masse der Muhammedaner begeistert? Das Liebste, was ein Mensch hat, kann er auf den Flügeln des Glaubens in das Paradies retten; zunächst die Hauptsache, sein liebes, theures Ich, und zwar in blendendster Form: verklärt, bedürfnißlos, contemplativ oder schwelgend, berauscht; dann alle Diejenigen, an denen sein Herz hängt: Mutter, Vater, Weib, Kinder.

Plato nannte die Hoffnung den Traum des Wachenden.

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Es ist durchaus nebensächlich, ob Einer auf dem Wege zur Erlösung ein Liedchen trällert oder den Kopf hängen läßt: das hängt von der Farbe der Individualität ab, welche erst im Tode verblaßt. Die Hauptsache ist der Gang auf dem Wege zur Erlösung.

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Alle Seligkeit, aller Frieden, alles Schöne, alles Herrliche, was die Menschen dem Paradiese angedichtet haben – was war es Anderes als eine Herausstellung dessen, was sie in guten Stunden in sich empfanden?

Darum lerne dich schätzen, o Individuum! Denn auch Alles, was du der Allmacht Gottes zusprichst, weil es so hoch und hehr, und so gewaltig in dir lebt, das ist dein durch eigene Kraft gesteigertes Gefühl.

»Gefühl ist Alles!«(Goethe.)

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Nicht Dante ist die poetische Blüthe der romanischen Völker, sondern Calderon. Der Katholicismus Dante’s ist frostig, oberflächlich, Lippentheologie; der des großen Spaniers glühend, tief, Gottesdienst mit dem Herzen. Giebt es tiefere Aussprüche als die Stellen im»Standhaften Prinzen«:

So muß in den ird’schen Schranken

Jeder an sich selbst erkranken,

Bis er seinen Tod gewinnt.

Und:

Warte nicht, daß kund dir thu’

Andere Krankheit noch, da du

Deine größte Krankheit bist.

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ii481 Schopenhauer’s Philosophie ist anzusehen als die Brücke, die das Volk aus dem Glauben in die Philosophie hinüberträgt. Sie ist deshalb eine That nicht nur in der Geschichte der Philosophie selbst, sondern in der Geschichte der Menschheit. Die Bausteine zu dieser Brücke sind aber aus seiner Ethik genommen und das Ganze heißt: Individuelle Erlösung durch das Wissen. Hierdurch wird dem Willen des gemeinen Mannes ein zureichendes Motiv und ein Gegenstand gegeben, den er so liebend erfassen kann wie der Budhaist die selige Gewißheit, nicht wiedergeboren zu werden, der Muhammedaner die Hoffnung auf die Freuden des Paradieses, der gläubige Christ die Verheißung des Himmelreichs.

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Des Lebens Räthsel ist außerordentlich einfach; und dennoch gehörte die höchste Bildung und die größte Erfahrung dazu, um es zu errathen, so wie auch stets diese Bedingungen erst bei Demjenigen erfüllt sein müssen, der die Lösung für richtig anerkennen soll.

Darum Bildung, gleiche Bildung für Alle und Alle!

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Die Lehre von der Verneinung des individuellen Willens zum Leben ist die erste philosophische Wahrheit und auch die einzige, mit welcher wie mit Glaubenssätzen Massen bewegt und entzündet werden können.

Aber eben deswegen darf sie auch nicht der exklusive Besitz nur weniger bevorzugter Einzelner verbleiben, die, in glücklicher Beschaulichkeit und individuellem Genügen hoch über dem Treiben und Getümmel des Lebens stehend, gleichsam auf des Tempels Zinnen die Wacht des Geistes über dem»sicheren Schatze«halten, indeß die große Menge der»Enterbten«, – der thatsächlich und wirklich»Enterbten«! – stumpfen oder vergeblich verlangenden Blickes vor der verschlossenen Pforte eines Unbegriffenen steht, das ein Stein für sie bleibt, auch wenn ein Edelstein, wie der Fund des Diamanten vom verhungernden Hühnchen.

Sie muß allen Mühseligen und Beladenen, die darnach dürsten, mit milder Hand und ohne Unterschied den Trost der Erlösung darreichen; sie muß Allgemeingut werden; sie muß als das Süßeste und Herrlichste, was die»Allerhöchste Kraft«für die Menschheit erringen konnte, aus dem Tempel der Wissenschaft hinausgetragen |

ii482 werden auf die Höhen der Berge: Allen sichtbar, Jedem greifbar und erreichbar, damit an ihrem Lichte sich die Nacht, die»langsam aus den Thälern weicht«, zum hellen Tag entzünde.

In einem Wort: sie darf nicht»Kaviar für’s Volk«bleiben, sie muß das Lebensbrod seines hungernden Herzens werden. Und hierzu war ihre Reinigung von allem Transscendenten der erste und nothwendigste Schritt.

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Die schönste Bewegung ist die Begeisterung, die Blüthe der Begeisterung die moralische Liebe.

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Die Erklärung, das Gewissen sei das Wissen von der wahren Natur unseres Charakters, ist viel zu kurz: sie deckt nicht den zehnten Theil des Gewissens. Das Gewissen ist unser Wissen schlechthin. Der Volksmund sagt sehr treffend:

Was ich nicht weiß,

Macht mir nicht heiß.

Einen Juden sticht das Gewissen, wenn er am»Schabbes«raucht, einen Christen nicht; einen Katholiken sticht das Gewissen, wenn er nicht beichtet, einen Protestanten nicht; einen orthodoxen Engländer sticht das Gewissen, wenn er am Sonntag arbeitet, einen liberalen deutschen Protestanten nicht; einen Hindu sticht das Gewissen, wenn er ein Thier tödtet, einen deutschen Jäger nicht u.s.w. Die Ersteren haben in einem bestimmten Glauben ein Wissen, welches die letzteren nicht haben, und so kommt es, daß Jene vom Gewissen wegen der gedachten Handlung belästigt werden, diese nicht.

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Es ist ganz undenkbar, daß sich der Mensch durch irgend etwas Anderes als sein Wohl bewegen lassen könne. Schenkt Jemand Millionen an Arme, so geschieht es, im besten Sinne, nur um seinem Herzen den Frieden wiederzugeben, den ihm die Vorstellung des Elends Anderer geraubt hat. Schenkt Jemand überhaupt gerne, so geschieht es nur, weil die Freude am hellsten in ihm lodert, wann Andere beglückt sind, und weil er diese helllodernde Freude in seiner Brust will, deshalb schenkt er. Welchen Fall man auch erdenken mag, immer ist es das eigene Wohl, das offen oder mit tausend Hüllen verdeckt, den Menschen zum Handeln bewegt.

ii483 Der Phrase muß überall entgegengetreten werden; am unerbittlichsten aber auf dem Gebiete der Philosophie, weil sie hier den größten Schaden anrichten kann. Man muß sie verfolgen wie ein wildes Thier: sie ist gemeinschädlich im höchsten Grade.

Die Phrase par excellence aber ist: daß die Abwesenheit aller egoistischen Motivation das Kriterium einer moralischen Handlung sei. (Kant, Schopenhauer.)

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Der Pessimismus ist eigentlich ganz unverträglich mit dem Schopenhauer’schen Idealismus; denn kann man Schopenhauer’s Ausruf:

Diese Welt beständig bedürftiger Wesen besteht blos dadurch, daß sie einander auffressen, eine Zeitlang bestehen, ihr Dasein unter Angst und Noth durchdringen und oft entsetzliche Qualen erdulden, bis sie endlich dem Tode in die Arme stürzen,

(W. a. W. u. V. II, 399.)

nicht mit den Worten widerlegen: deiner Philosophie gemäß ist das Alles ja nur Spaß? Scheinwesen können nicht leiden, wenn sie einander auffressen; Scheinwesen erdulden keine»entsetzlichen Qualen«.

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Ich habe gelehrt, daß die Bewegung des Einzelnen sowohl, als die der ganzen Welt nicht einen Kreis bilde, wie Plato und Herakleitos meinten, sondern eine Spirale.

Die höchste Bestätigung dieser Lehre liegt in der Astronomie. Die Planeten bewegen sich um die Sonne und mit der Sonne bewegen sie sich zugleich um eine andere Sonne und das giebt eine Spirale.

Auch kann man sich die Sache, um die es sich hier handelt, an einem Dampfschiff klar machen. Die Räder bewegen sich um sich selbst, sie gehen also immer im Kreis herum und dennoch geht das ganze Schiff voran.

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Die Wirkung eines Motivs auf einen Charakter ist anzusehen wie eine chemische Verbrennung. Es findet ein geistiger Verbrennungsproceß statt unter Licht- und Wärmeentwicklung. Man sagt daher auch treffend: Er ist Feuer und Flamme für seine Sache. Er brennt lichterloh u.s.w.

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ii484 Die bloße Erkenntniß taugt gar nichts; denn der Geist hat gar keine Kraft. Die Erkenntniß muß in das Blut übergehen: das Urbild der Kraft. Das Blut fängt Feuer, entzündet und zerbricht, der Geist spiegelt die Flammen und Trümmer.

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Ueber Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Päderastie läßt sich gar nicht streiten. Sie ist verurtheilt. Wohl aber läßt sich darüber streiten, was der seltsamen Erscheinung zu Grunde liegt.

Schopenhauer zog das bei ihm in hoher Gunst stehende Phantom, die metaphysische Gattung, an den Haaren herbei, um das Phänomen zu erklären und irrte, wie zu erwarten war. Jede Erscheinung muß auf ihrem individuellen Lebensgrund erklärt werden.

Ich meine, daß die Päderastie unter normalen Verhältnissen nur bei absterbenden Völkern auftreten könne und zwar wäre sie als Ausdruck der unbewußten Todessehnsucht des Individuums zu charakterisiren. Weil das Individuum nicht wiedergeboren werden will, legt es instinktiv seinen Samen an einen Ort, wo er nicht aufgehen kann.

Man lese aufmerksam alle einschlägigen Stellen in den altgriechischen Werken und man wird mir Recht geben. Hie und da beschien sogar das hellste Bewußtsein den dämonischen Trieb und es wurde der Ekel gegen Kindererzeugen offen ausgesprochen.

Lykurg und Solon bestimmten gesetzlich das Verhältniß zwischen dem Liebhaber und dem Geliebten. Das Aufgehen der Individualität in der heroischen Liebe zweier Jünglinge wurde als das Herrlichste gepriesen. Die Frauenliebe galt für gemein und thierisch, die Mannesliebe dagegen für ein Geschenk der keuschen Venus Urania, weshalb auch Solon dies Geschenk den Sklaven nicht gewährte.

Stellt man sich auf den Standpunkt der Griechen, so ist die absolute Keuschheit lediglich ein besseres Mittel als die Päderastie zum selben Zweck. Vom Standpunkt unseres heutigen Wissens dagegen lassen sich beide Mittel gar nicht mit einander vergleichen. Durch die Moral sind sie radical von einander verschieden.

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Die Einbalsamirung der ägyptischen Leichen hatte ihren wahren Grund im Abscheu des Individuums, daß der Stoff seines Leibes transmigrire: Abscheu vor Stoffwanderung. Die guten Aegypter konnten natürlich nicht ahnen, daß eine Zeit kommen würde, wo man den kostbaren Stoff ihres Leibes zu technischen Zwecken verwenden werde.

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ii485 So oft ich Schopenhauer’s Abhandlung über den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens las, mußte ich an zwei Dinge denken: erstens an einen Advokaten, der eine völlig hoffnungslose Sache vertheidigt, und dann an einen Menschen, der sich fürchtet, sich aber, zitternd wie Espenlaub, die herrlichsten und kräftigsten Trostesworte sagt.

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In Hebbel’s Judith kommt folgende merkwürdige Stelle vor:

Holofernes.

Was ist der Tod?

Hauptmann.

Ein Ding, um dessen willen wir das Leben lieben.

Holofernes.

Das ist die beste Antwort, Jawohl, nur weil wir es stündlich verlieren können, halten wir’s fest, und pressen’s aus, und saugen’s ein bis zum Zerplatzen.

Holofernes hatte von seinem Standpunkte aus Recht; er war eben kein Philosoph.

Ich lasse wörtlich die Antwort des Hauptmanns:

Der Tod ist ein Ding, um dessen willen wir das Leben lieben, stehen, gebe ihr aber eine ganz andere Deutung.

Wir lieben das Leben, weil wir den Tod wollen, und den Tod, als Weltkinder, um so schneller erreichen, also desto schneller am gewollten Ziele ankommen, je fester wir das Leben halten, es auspressen, es einsaugen bis»zum Zerplatzen.«

Das Kind des Lichts aber hat ein besseres Mittel zum Zweck als das Leben.

Dieses bessere Mittel giebt die Judith an und Hebbel zeigt dadurch, daß er zu den Dichterfürsten gehört:

Judith.

Du trotzest auf deine Kraft. Ahnst du denn gar nicht, daß sie sich verwandelt hat? daß sie dein Feind geworden ist?

Holofernes.

Ich freue mich etwas Neues zu hören.

Judith.

Du glaubst, sie sei da, um gegen die Welt Sturm zu laufen; wie, wenn sie da wäre, um sich selbst zu beherrschen?

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ii486 Gerade so wie die ganze objektive Welt, die Welt der Erscheinung, am dünnen Faden des Subjekts hängt, und mit diesem steht und fällt, hängt die ganze Menschheit als Ding an sich am Geschlechtstrieb und steht und fällt mit diesem.

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Wie sich Jeder, den ein Strolch erwürgen will, mit aller Kraft gegen den Strick wehrt, so sucht sich auch der Mitleidige mit aller Kraft vom Strick zu befreien, den fremdes Leid um seine Seele schlingt. Seines Leids will er ledig sein: das ist das enthüllte Geheimniß jeder barmherzigen That. Alle Zustände des Menschen, alle seine Thaten müssen auf dem Boden der Individualität erklärt werden – alle anderen Erklärungen sind Possen, Possen.

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»Geduld bringt Rosen«, sagt das Sprüchwort. Die Geduld, ein hohes Gut, wird Jedem zu Theil, der sich von dem Gedanken durchleuchten läßt, daß Alles in der Welt mit Nothwendigkeit geschieht. Ist die Zeit für ein Ereigniß gekommen, so tritt es ein, ob auch der Mensch die Unmöglichkeit steif und fest behaupte, weil er um sich herum nur ein geschlossenes Thal, nirgends einen Ausweg erblickt. Und gerade so tritt ein Ereigniß nicht ein, dessen Zeit noch nicht gekommen ist, ob auch der Mensch nur geebnete Wege sähe.

»Bei Gott sind alle Dinge möglich«und

»Im Frühling blühen die Bäume, im Herbst tragen sie Früchte.«

Als Budha gefragt wurde, ob ein Erlöser der Menschheit die Macht habe, seiner Lehre sofortige Wirksamkeit zu geben, antwortete er: Nein. Ob auch ein Landmann täglich das Reisfeld bewässere, dünge und sich überhaupt alle erdenkliche Mühe gebe, um die Ernte zu beschleunigen, so würde diese doch nicht vor der bestimmten Zeit eintreten können; und geradeso verhält es sich mit dem Erfolg eines Erlösers. Der Erfolg tritt zu einer ganz bestimmten Zeit ein, keine Minute früher, keine Minute später; aber zur bestimmten Zeit tritt er auch ganz unfehlbar ein.

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Wenn uns Personen irgend ein Verlangen abschlagen, so sollte man ihnen so wenig zürnen, wie einem breiten Bach, einem Felsen u.s.w., welche uns nicht erlauben, den kürzesten Weg einzuschlagen. Sie sind Hindernisse, weil wir sie vor der Welt zu Hindernissen |

ii487 machten, oder faßlicher: das Schicksal will den Umweg, den Zeitverlust, und deshalb müssen die armen Personen hartherzig gegen uns sein. Also: Herr N. N. ein breiter Bach, Herr X. ein Berg, Herr Y. eine Ueberschwemmung u.s.w.

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Ein einziges Wort hat oft dieselbe Wirkung, die scharfe Messer und Aexte haben: eine absolut trennende Wirkung. Deshalb zähme Jeder seine Zunge und ihr alter ego, die Stahlfeder.

Ich erinnere an die Worte des Apostels Jacobus:

Die Zunge, das unruhige Uebel voll tödtlichen Giftes,

(Kap. 3, 8.)

und an den wunderschönen Spruch des weisen Jesus Sirach:

Bläsest du in das Fünklein, so wird ein großes Feuer daraus; speiest du aber in das Fünklein, so verlischt es; und beides kann aus deinem Munde kommen.

(Kap. 28, 14.)

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Wäre es in unsere Macht gegeben, das Wohl und Wehe aller fühlenden Wesen mit Ausnahme derjenigen Menschen, welche in der Unbeweglichkeit des Herzensfriedens stehen, abzuwägen, so würden wir zu dem überraschenden Resultat kommen, daß sich bei allen diesen Wesen eine und dieselbe Differenz ergiebt.

Der Melancholiker empfindet die höchste Freude, aber auch das entsetzlichste Weh.

Die Juden würden sagen: Wir haben Alle Abraham zum Vater. Warum sollte er das eine Kind mehr geliebt haben als das andere?

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Wenn uns die Last unserer Sorgen niederdrücken will, so fasse man sie als Wegweiser auf einem Wege auf, der uns zur Ruhe und zum Frieden führt. Sie verlieren alsdann sofort die Hälfte ihrer Schwere: Probatum est.

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Die Gleichgültigkeit aller Derjenigen, welche der Welt entsagt haben, gegen Geschichte und Politik hat ihren Grund darin, daß diesen Menschen gar Nichts durch die Menschheitsentwicklung gebracht werden kann, was sie nicht schon besäßen.

Und so ist es bereits vor dreitausend Jahren gewesen.

ii488 Wäre eine individuelle Erlösung nur in und mit der ganzen Menschheit möglich, so würden wir erst kurz vor der universalen Erlösung das Bedürfniß nach Erlösung empfinden. Die Natur ist nicht grausam. Sie ließ mit dem Selbstbewußtsein zugleich die Möglichkeit auftreten, sich von Schmerzen zu erlösen. Was sind thierische Schmerzen neben menschlichen Schmerzen? Und wer brächte es über’s Herz, dem Feuer Selbstbewußtsein zu geben, wenn er es vermöchte?

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Das ist die größte Wohlthat der asketischen Resignation, daß ihr die intellektuelle folgt und alle speculativen Fragen allen und jeden Reiz verlieren.

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Das hypostasirte Schicksal ist Gott. Faßt man nun das Schicksal auf als hinführend zur ersehnten Ruhe, dem Glück der Vernichtung, so ist Gott allgütig; als das widerstrebende Individuum zerbrechend und zerstoßend, und hinstoßend zu diesem Glück, so ist Gott allmächtig; als Continuität der ersten Bewegung, so ist er allweise.

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Der Stolz ist etwas ganz Anderes als der Hochmuth. Ersterer ist die Waffe eines adeligen Gemüths; letzterer der Ausfluß einer brutalen Gesinnung. Namentlich der Melancholiker zeigt Stolz, d.h. er wird hart, erstarrt vor unsympathischer Berührung. Wenn es sein muß, läßt er seine Seele nach innen verbluten. Einen edlen Melancholiker hat noch kein Mensch besiegt. Er zieht sich, auf’s Aeußerste bedrängt, in den innersten Kern seiner süßen, herrlichen, himmelhochjauchzenden und zum Tode betrübten Individualität zurück: der Mund bleibt stumm, bis das Auge bricht; dann ein Seufzer nur: es war der einz’ge Laut.

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Friedrich der Große war von der Vernichtung durch den Tod ganz durchdrungen. Er starb sans crainte ni espoir, ruhig, gelassen, friedlich, wie Weise sterben.

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Wohl Dem, der sagen kann: Ich fühle mein Leben in Uebereinstimmung mit der Bewegung des Weltalls oder, was dasselbe ist: ich fühle, daß mein Wille in den göttlichen Willen geflossen ist. Es ist der Weisheit letzter Schluß und die Vollendung aller Moral.

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III. Zur Aesthetik.| V. Zur Politik.

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