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  5. Acknowledgments 1 страница
  6. Acknowledgments 10 страница
  7. Acknowledgments 11 страница

Er gab den Schein an Binding zurück.»Hören Sie«, sagte er,»ich weiß, was wir machen! Sie nehmen mein Bett und Zimmer. Ich kenn jemand in der Pension, der ein größeres Zimmer hat. Ich kann dort sehr gut schlafen. So ist uns beiden geholfen.«

Binding starrte ihn mit runden Augen an.»Aber das ist doch ganz unmöglich!«

»Im Gegenteil! Es ist das Leichteste von der Welt!«Kern nahm seinen Mantel und streifte ihn über seinen Pyjama. Dann legte er seinen Anzug über den Arm und griff nach seinen Schuhen.»Sehen Sie! Ich nehme das mit. So brauche ich Sie nicht einmal allzu früh zu stören. Ich kann mich drüben anziehen. Es freut mich, etwas tun zu können für jemand, der so viel mitgemacht hat.«

»Aber…«Binding ergriff plötzlich Kerns Hände. Es sah aus, als wollte er sie küssen.»Mein Gott, Sie sind ja ein Engel!«stammelte er.»Ein Lebensretter!«

»Ach wo!«erwiderte Kern verlegen.»Einer hilft dem andern mal aus, das ist alles. Was sollte sonst aus uns werden? Schlafen Sie gut!«

»Das werde ich! Weiß der Himmel!«

Kern überlegte einen Moment, ob er seinen Koffer mitnehmen sollte. Er hatte in einer kleinen Seitentasche darin vierzig Franken versteckt. Aber das Geld war gut versteckt, der Koffer war abgeschlossen, und er scheute sich, einem Mann, der im Konzentrationslager gewesen war, so offen sein Mißtrauen zu zeigen. Emigranten stehlen nicht untereinander.»Gute Nacht! Schlafen Sie gut!«sagte er noch einmal und ging.

Ruth wohnte auf demselben Korridor. Kern klopfte zweimal kurz an ihrer Tür. Das war das Zeichen, das sie miteinander ausgemacht hatten. Sie öffnete sofort.»Ist etwas passiert?«fragte sie erschrocken, als sie die Sachen in seiner Hand sah.»Müssen wir ausreißen?«

»Nein. Ich habe nur mein Zimmer so einem armen Teufel gegeben, der im Konzentrationslager war und ein paar Nächte nicht geschlafen hat. Kann ich hier bei dir auf der Chaiselongue schlafen?«

Ruth lächelte.»Die Chaiselongue ist alt und wackelig; aber glaubst du nicht, daß das Bett groß genug ist für uns beide?«

Kern trat rasch ein und küßte sie.»Ich stelle manchmal wirklich die dümmsten Fragen der Welt«, sagte er.»Aber glaube mir, es ist nur Verlegenheit. Es ist alles noch zu neu für mich.«

Ruths Zimmer war etwas größer als das andere. Es war, abgesehen von der Chaiselongue, ähnlich möbliert – aber Kern fand, daß es völlig anders aussah. Sonderbar, dachte er – es müssen die paar Sachen sein, die sie darin hat – die schmalen Schuhe, die Bluse, der braune Rock – wieviel Zärtlichkeit darin ist! Mit meinen Sachen sieht ein Zimmer nur unordentlich aus.

»Ruth«, sagte er,»wenn wir heiraten wollten… weißt du, daß wir das gar nicht könnten? Weil wir keine Papiere haben.«

»Ich weiß. Aber das soll unsere geringste Sorge sein. Wozu haben wir überhaupt eigentlich zwei Zimmer?«

Kern lachte.»Wegen der hohen Schweizer Moral. Unangemeldet, das geht noch – aber unverheiratet, das ist unmöglich!«

Er wartete am nächsten Morgen bis zehn. Dann ging er hinüber, um seinen Koffer zu holen. Er wollte ein paar Adressen abklappern und Binding weiterschlafen lassen.

Aber das Zimmer war schon leer. Binding war vermutlich schon wieder unterwegs. Kern öffnete seinen Koffer. Er war nicht verschlossen, das wunderte ihn. Er glaubte bestimmt, ihn abends abgeschlossen zu haben. Es schien ihm auch, als ob die Flaschen anders lägen, als er es gewohnt war. Er suchte rasch. Das kleine Kuvert in der versteckten Seitentasche war da. Er klappte es auf und sah sofort, daß sein Schweizer Geld fehlte. Nur zwei einsame österreichische Fünfschillingscheine flatterten ihm entgegen.

Er suchte noch einmal alles durch; auch seinen Anzug, obschon er sicher war, das Geld nicht darin zu haben. Er trug nie etwas bei sich, für den Fall, daß er unterwegs abgefaßt wurde. Ruth hatte so immer wenigstens noch den Koffer und das Geld. Aber die vierzig Franken waren verschwunden.

Er setzte sich auf den Boden neben den Koffer.»Dieser Gauner«, sagte er fassungslos.»Dieser verfluchte Gauner! Ist denn so etwas möglich?«

Er blieb eine Weile so sitzen. Dann überlegte er, ob er Ruth Bescheid sagen sollte; aber er beschloß, das erst zu tun, wenn es nicht anders mehr möglich war. Er wollte sie nicht früher als unbedingt notwendig beunruhigen.

Schließlich nahm er die Listen Binders heraus und notierte sich eine Anzahl Berner Adressen. Dann packte er seine Taschen voll Seife, Schnürsenkel, Sicherheitsnadeln und Toilettewasser und ging die Treppen hinunter.

Unten traf er den Wirt.»Kennen Sie einen Mann, der Richard Binding heißt«, fragte er.

Der Wirt dachte eine Zeitlang nach. Dann schüttelte er den Kopf.

»Ich meine jemand, der gestern abend hier war. Er hat ein Zimmer verlangt.«

»Gestern abend hat niemand ein Zimmer verlangt. Ich war ja gar nicht da. Ich war bis zwölf Uhr kegeln.«

»Ach so! Hatten Sie denn Zimmer frei?«

»Ja, drei. Die sind auch heute noch frei. Erwarten Sie noch jemand? Sie können Nummer sieben haben, auf Ihrem Korridor.«

»Nein. Ich glaube nicht, daß der, auf den ich warte, wiederkommt. Er wird schon unterwegs nach Zürich sein.«

Mittags hatte Kern drei Franken verdient. Er ging in ein billiges Restaurant, um ein Butterbrot zu essen und dann gleich weiter zu hausieren.

Er blieb an der Theke stehen und aß hungrig. Plötzlich fiel ihm das Sandwich fast aus der Hand. Er hatte an einem der entferntesten Tische Binding erkannt.

Mit einem Ruck steckte er den Rest des Butterbrotes in den Mund, schluckte es herunter und ging langsam auf den Tisch zu. Binding saß allein, die Ellenbogen aufgestemmt, vor einer großen Schüssel Schweinekoteletts mit Rotkohl und Kartoffeln und aß selbstvergessen.

Er blickte erst auf, als Kern dicht vor ihm stand.»Ah, sieh da!«sagte er nachlässig.»Wie geht’s?«

»Mir fehlen vierzig Franken in meiner Brieftasche«, sagte Kern.

»Bedauerlich«, erwiderte Binding und schluckte ein großes Stück Braten hinunter.»Wirklich bedauerlich!«

»Geben Sie mir den Rest, den Sie noch haben, heraus, und die Sache ist erledigt.«

Binding trank einen Schluck Bier und wischte sich den Mund.»Die Sache ist auch so erledigt«, erklärte er gemütlich.»Oder was hatten Sie sonst vor zu tun?«

Kern starrte ihn an. Er hatte in seiner Wut bisher noch nicht daran gedacht, daß er tatsächlich nichts tun konnte. Wenn er zur Polizei ging, wurde er nach Papieren gefragt und selbst mit eingesperrt und ausgewiesen.

Er musterte Binding mit zusammengekniffenen Augen.»Keine Chance«, sagte dieser.»Sehr guter Boxer. Vierzig Pfund schwerer als Sie. Außerdem: bei Krach im Lokal Polizei und Ausweisung.«

Kern hätte im Augenblick wenig danach gefragt, was mit ihm selbst passiert wäre; aber er dachte an Ruth. Binding hatte recht: Es gab nicht die geringste Chance für ihn, etwas zu tun.»Machen Sie so was öfter?«fragte er.

»Ich lebe davon. Und wie Sie sehen, gut.«

Kern erstickte fast vor ohnmächtiger Erbitterung.»Geben Sie mir wenigstens zwanzig Franken zurück«, sagte er heiser.»Ich brauche das Geld. Nicht für mich. Für jemand anders, dem es gehört.«

Binding schüttelte den Kopf.»Ich brauche das Geld selbst. Sie sind billig davongekommen. Sie haben für vierzig Franken die größte Lehre empfangen, die es im Leben gibt: nicht vertrauensselig zu sein.«

»Das stimmt.«Kern starrte ihn an. Er wollte gehen, aber er konnte nicht.»Ihre ganzen Papiere… das war natürlich alles Schwindel!«

»Denken Sie an, nein!«erwiderte Binding.»Ich war im Konzentrationslager.«Er lachte.»Allerdings wegen Diebstahls bei einem Gauleiter. Seltener Fall!«

Er langte nach dem letzten Kotelett, das noch in der Schüssel lag. Im nächsten Moment hatte Kern es in der Hand.»Machen Sie ruhig Skandal«, sagte er.

Binding grinste.»Ich denke nicht daran! Ich bin ziemlich satt. Lassen Sie sich einen Teller bringen und nehmen Sie von dem Rotkohl dazu. Ich bin sogar bereit, Ihnen ein Glas Bier zu spendieren!«

Kern erwiderte nichts. Er war an der Grenze, sich zu prügeln, mit allem, was ihm in die Hand gekommen wäre. Rasch drehte er sich um und ging, das erbeutete Kotelett in der Hand. An der Theke ließ er sich etwas Papier geben, um es einzupacken. Das Servierfräulein sah ihm neugierig zu. Dann fischte es zwei Gurken aus einem Glase.»Hier«, sagte sie.»Etwas dazu.«

Kern nahm auch die Gurken.»Danke«, sagte er.»Danke vielmals.«Ein Abendessen für Ruth, dachte er. Verdammt und verflucht, für vierzig Franken!

An der Tür drehte er sich noch einmal um. Binding beobachtete ihn. Kern spuckte aus. Binding salutierte lächelnd mit zwei Fingern der rechten Hand.

HINTER BERN BEGANN es zu regnen. Ruth und Kern hatten nicht mehr genug Geld, um die Eisenbahn bis zum nächsten größeren Ort zu nehmen. Sie besaßen zwar noch eine kleine eiserne Reserve, aber die wollten sie erst in Frankreich angreifen. Ungefähr fünfzig Kilometer weit nahm ein vorüberkommendes Auto sie mit. Dann mußten sie zu Fuß gehen. Kern traute sich nur selten, in den Dörfern etwas zu verkaufen. Es fiel zu sehr auf. Sie schliefen im selben Ort immer nur eine Nacht. Sie kamen abends spät, wenn die Polizeibüros schon geschlossen waren, und gingen morgens, ehe sie wieder geöffnet wurden. So waren sie immer schon aus dem Ort heraus, wenn das Anmeldeformular zur Gendarmerie gegeben wurde. Binders Liste versagte für diesen Teil der Schweiz; sie enthielt nur die größeren Städte.

In der Nähe von Murten schliefen sie in einer leeren Scheune. Nachts prasselte ein Wolkenbruch hernieder. Das Dach war schadhaft, und als sie erwachten, waren sie bis auf die Haut naß. Sie versuchten, ihre Sachen zu trocknen, aber sie konnten kein Feuer machen. Alles war feucht, und sie fanden nur mit Mühe einen Fleck, wo es nicht durchgeregnet hatte. Sie schliefen eng aneinandergedrückt, um sich zu wärmen, aber ihre Mäntel, mit denen sie sich zudeckten, waren zu naß; – sie wachten vor Kälte wieder auf. So warteten sie bis zum Morgengrauen, dann brachen sie auf.

»Das Gehen wird uns warm machen«, sagte Kern.»Irgendwo werden wir in einer Stunde auch schon etwas Kaffee kriegen.«

Ruth nickte.»Vielleicht kommt die Sonne durch. Dann werden wir rasch trocken sein.«

Aber es blieb den ganzen Tag über kalt und böig. Regenschauer jagten über die Felder. Es war der erste sehr kalte Tag des Monats, die Wolken hingen faserig und tief, und nachmittags prasselte ein zweites schweres Wetter hernieder. Ruth und Kern warteten es in einer kleinen Kapelle ab. Es war sehr dunkel, und nach einer Weile begann es zu donnern, und Blitze zuckten durch die bunten Glasscheiben, auf denen Heilige in Blau und Rot Spruchbänder über den Frieden des Himmels und der Seele in ihren Händen hielten.

Kern fühlte, daß Ruth zitterte.»Ist dir sehr kalt?«fragte er.

»Nein, nicht sehr.«

»Komm, wir gehen etwas umher, das ist besser. Ich habe Angst, daß du dich erkältest.«

»Ich erkälte mich nicht. Laß mich nur etwas so sitzen.«

»Bist du müde?«

»Nein. Ich möchte nur einen Augenblick noch so sitzen.«

»Willst du nicht doch lieber umhergehen? Nur ein paar Minuten? Man soll in nassen Sachen nicht so lange sitzen. Der Steinboden ist zu kalt.«

»Gut.«

Sie gingen langsam durch die Kapelle. Ihre Schritte hallten in dem leeren Raum. Sie gingen an den Beichtstühlen vorbei, deren grüne Vorhänge sich in der Zugluft bauschten, um den Altar herum, zur Sakristei und zurück

»Bis Murten sind es noch neun Kilometer«, sagte Kern.»Wir müssen sehen, daß wir vorher unterkommen.«

»Neun Kilometer können wir noch ganz gut schaffen.«

Kern murmelte etwas.

»Was sagst du?«fragte Ruth.

»Nichts. Ich verfluche nur einen gewissen Binding.«

Sie schob ihre Hand unter seinen Arm.»Vergiß es! Das ist am einfachsten. Ich glaube, es hört auch schon auf zu regnen.«

Sie gingen hinaus. Es tröpfelte noch, aber über den Bergen stand ein mächtiger Regenbogen. Er überspannte das ganze Tal wie eine riesige bunte Brücke. Hinter den Wäldern, zwischen den zerborstenen Wolken, stürzte ein Schwall gelbweißen Lichts über die Landschaft. Sie konnten die Sonne nicht sehen; sie sahen nur das Licht, das wie ein leuchtender Nebel hervorbrach.

»Komm«, sagte Ruth.»Jetzt wird es besser.«

Abends kamen sie an einen Schafstall. Der Hirt, ein älterer, schweigsamer Bauer, saß vor der Tür. Zwei Schäferhunde lagen neben ihm. Sie stürzten den beiden bellend entgegen. Der Bauer nahm die Pfeife aus dem Mund und pfiff sie zurück. Kern ging auf ihn zu.»Können wir die Nacht hier schlafen? Wir sind naß und müde und können nicht weiter.«

Der Mann sah ihn lange an.»Es ist ein Heuboden oben«, sagte er dann.

»Das ist alles, was wir brauchen.«

Der Mann sah ihn wieder eine Zeitlang an.»Geben Sie mir Ihre Zündhölzer und Ihre Zigaretten«, sagte er schließlich.»Es ist viel Heu da.«

Kern gab sie ihm.»Sie müssen die Leiter drinnen emporklettern«, erklärte der Bauer.»Ich schließe den Stall hinter Ihnen ab. Ich wohne im Ort. Morgen früh lasse ich Sie dann heraus.«

»Danke. Danke vielmals.«

Sie kletterten die Leiter hinauf. Oben war es halbdunkel und warm. Nach einer Weile kam der Bauer. Er brachte ihnen Weintrauben, etwas Schafkäse und dunkles Brot.»Ich schließe jetzt ab«, sagte er.»Gute Nacht.«

»Gute Nacht. Und vielen Dank.«

Sie horchten, bis er unten war. Dann zogen sie ihre nassen Sachen aus und legten sie auf das Heu. Sie kramten ihre Nachtsachen aus den Koffern und fingen an zu essen. Sie waren sehr hungrig.

»Wie schmeckt es?«fragte Kern.

»Wunderbar.«Ruth lehnte sich an ihn.

»Wir haben Glück, was?«

Sie nickte.

Unten schloß der Bauer ab. Der Heuboden hatte ein rundes Fenster. Sie hockten sich daran und sahen den Bauern fortgehen. Der Himmel war klar geworden. Er spiegelte sich im See. Der Bauer ging langsam über die abgemähten Felder, mit dem bedächtigen Schritt von Menschen, die der Natur täglich nahe sind. Außer ihm war niemand zu sehen. Er ging allein über die Felder, und es schien, als trüge er auf seinen dunklen Schultern den ganzen Himmel.

Sie saßen am Fenster, bis die farblose Stunde vor der Nacht alles Licht grau machte. Das Heu wuchs hinter ihnen im Spiel der Schatten zu einem phantastischen Gebirge. Sein Geruch mischte sich mit dem Geruch von Torf und Whisky, den die

Schafe ausströmen. Sie konnten sie durch die Bodenluke sehen; – undeutliches Gewimmel von flockigen Rücken mit vielen kleinen Lauten, das allmählich ruhiger und stiller wurde.

Am nächsten Morgen kam der Bauer und schloß den Stall auf. Kern ging hinunter. Ruth schlief noch. Ihr Gesicht war gerötet, und sie atmete hastig. Kern half dem Bauern die Schafe austreiben.

»Können wir wohl einen Tag hierbleiben?«fragte er.»Wir wollen Ihnen gern dafür helfen, wenn es geht.«

»Zu helfen ist da nicht viel. Aber Sie können ruhig hierbleiben.«

»Danke.«

Kern erkundigte sich nach Adressen von Deutschen in der Stadt. Der Ort stand nicht auf Binders Liste. Der Bauer nannte ihm ein paar Leute und beschrieb ihm, wo sie wohnten.

Kern ging nachmittags, als es dunkel wurde, los. Er fand das erste Haus sehr leicht. Es war eine weiße Villa, die in einem kleinen Garten lag. Ein sauberes Hausmädchen öffnete die Tür. Es führte ihn sofort in einen kleinen Vorraum, anstatt ihn draußen stehenzulassen. Gutes Zeichen, dachte Kern.»Ist Herr Ammers zu sprechen? Oder Frau Ammers?«frage er.

»Einen Augenblick.«

Das Mädchen verschwand und kam dann wieder. Es führte ihn in einen Salon mit neuen Mahagonimöbeln. Kern wäre fast gefallen, so glatt war der Boden gebohnert. Auf allen Möbeln lagen Spitzendecken.

Nach einer Minute erschien Herr Ammers. Er war ein kleiner Mann mit weißem Spitzbart und sah teilnahmsvoll aus. Kern entschloß sich, von den zwei Geschichten, die er auf Lager hatte, die wahre zu erzählen.

Ammers hörte ihm freundlich zu.»Also Sie sind ein Emigrant ohne Paß und ohne Aufenthaltserlaubnis?«sagte er dann.»Und Sie haben Seife und Haushaltssachen zu verkaufen?«

»Ja.«

»Gut.«Ammers erhob sich.»Meine Frau kann sich Ihre Sachen einmal ansehen.«

Er ging hinaus. Nach einiger Zeit kam seine Frau herein. Sie war ein ausgeblichenes Neutrum mit einem Gesicht von der Farbe zu lange gekochten Fleisches und blassen Schellfischaugen.

»Was haben Sie denn für Sachen?«fragte sie mit zimperlicher Stimme.

Kern packte seine Dinge aus. Es war nicht mehr allzuviel. Die Frau suchte hin und her, sie betrachtete die Nähnadeln, als hätte sie nie vorher welche gesehen, sie roch an der Seife und probierte die Zahnbürste auf dem Daumen; – dann fragte sie nach den Preisen und beschloß endlich, ihre Schwester zu holen.

Die Schwester war eine Zwillingsausgabe der Frau.

Der Spitzbart Ammers mußte, so klein er war, ein eisernes Regiment im Hause führen, denn auch die Schwester war wie ausgelöscht und hatte eine geduckte, ängstliche Stimme. Die Blicke beider Frauen gingen alle Augenblicke zur Tür. Sie zögerten und zauderten, so daß Kern endlich ungeduldig wurde. Er merkte, daß die Frauen sich doch nicht entschließen konnten, und packte seine Sachen zusammen.»Vielleicht überlegen Sie es sich bis morgen«, sagte er.»Ich kann ja noch einmal wiederkommen.«

Die Frau sah ihn wie erschrocken an.»Wollen Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?«fragte sie dann.

Kern hatte lange keinen Kaffee mehr getrunken.»Wenn Sie gerade einen da haben.«

»Ja, doch! Sofort! Einen Augenblick.«

Sie schob sich hinaus, ungeschickt wie eine schiefe Tonne, doch schnell. Die Schwester blieb im Zimmer.»Ganz gut, eine Tasse Kaffee jetzt«, sagte Kern, um etwas zu sagen.

Die Schwester gluckste ein Lachen wie ein Truthahn und schwieg plötzlich still, als hätte sie sich verschluckt. Kern sah sie erstaunt an. Sie duckte sich und stieß einen hohen pfeifenden Laut durch die Nase aus.

Die Frau kam herein und stellte die dampfende Tasse vor Kern auf den Tisch.»Trinken Sie nur in aller Ruhe«, sagte sie besorgt.»Sie haben ja Zeit, und der Kaffee ist sehr heiß.«

Die Schwester lachte kurz und hoch auf und duckte sich sofort hinterher erschrocken.

Kern kam nicht dazu, den Kaffee zu trinken. Die Tür ging auf, und Ammers trat mit kurzen, elastischen Schritten ein, gefolgt von einem mißmutig aussehenden Gendarmen.

Ammers wies mit einer sakralen Geste auf Kern.»Herr Gendarm, tun Sie Ihre Pflicht! Ein vaterlandsloses Individuum ohne Paß, ausgestoßen aus dem Deutschen Reich!«

Kern erstarrte.

Der Gendarm betrachtete ihn.»Kommen Sie mit!«knurrte er dann.

Kern hatte einen Moment lang das Gefühl, als sei sein Gehirn ausgelöscht. Er hatte alles erwartet, nur das nicht. Langsam und mechanisch wie in einer Zeitlupenaufnahme suchte er seine Sachen zusammen. Dann richtete er sich auf.»Deshalb also der Kaffee und die Freundlichkeit!«sagte er stockend und mühsam, als müsse er es sich erst selbst klarmachen.»Alles nur, um mich hinzuhalten! Deshalb also!«Er ballte die Fäuste und machte einen Schritt auf Ammers zu, der sofort zurückwich.»Keine Angst!«sagte Kern sehr leise,»ich rühre Sie nicht an! Ich verfluche Sie nur. Ich verfluche Sie und Ihre Kinder und Ihre Frau mit der ganzen Kraft meiner Seele! Alles Unglück der Welt soll auf Sie fallen! Ihre Kinder sollen sich gegen Sie empören und Sie allein lassen, allein, arm, in Jammer und Elend!«

Ammers wurde blaß. Sein Spitzbart zuckte.»Schützen Sie mich!«befahl er dem Gendarmen.

»Er hat Sie noch nicht beleidigt«, erwiderte der Beamte phlegmatisch.»Er hat Sie bis jetzt nur verflucht. Wenn er Ihnen zum Beispiel: dreckiger Denunziant gesagt hätte, so wäre das eine Beleidigung gewesen, und zwar wegen des Wortes dreckig.«

Ammers sah ihn wütend an.»Tun Sie Ihre Pflicht!«fauchte er.

»Herr Ammers«, erklärte der Gendarm ruhig.»Sie haben mir keine Anweisungen zu geben. Das können nur meine Vorgesetzten. Sie haben einen Mann zur Anzeige gebracht; ich bin gekommen, und das Weitere werden Sie mir überlassen. Folgen Sie mir!«sagte er zu Kern.

Die beiden gingen hinaus. Hinter ihnen klappte die Haustür zu. Kern ging stumm neben dem Beamten her. Er konnte noch immer nicht richtig denken. Er hatte irgendwo das dumpfe Gefühl: Ruth – aber er wagte einfach noch nicht weiterzudenken.

»Menschenskind«, sagte der Gendarm nach einer Weile,»manchmal besuchen die Schafe wirklich die Hyänen. Wußten Sie denn nicht, wer das ist? Der geheime Spion der deutschen Nazipartei hier am Ort. Der hat schon allerlei Leute angezeigt.«

»Mein Gott!«sagte Kern.

»Ja«, erwiderte der Beamte.»Das nennt man Künstlerpech, was?«

Kern schwieg.»Ich weiß nicht«, sagte er dann stumpf.»Ich weiß nur, daß auf mich jemand wartet, der krank ist.«

Der Gendarm blickte die Straße entlang und zuckte die Achseln.

»Das hilft alles nichts! Es geht mich auch nichts an. Ich muß Sie zur Polizei bringen.«Er schaute sich um. Die Straße war leer.»Ich möchte Ihnen nicht raten, zu flüchten!«fuhr er fort.»Es hat keinen Zweck! Zwar habe ich ein verstauchtes Bein und kann nicht hinter Ihnen herlaufen, aber ich würde Sie sofort anrufen und dann meinen Revolver ziehen, wenn Sie nicht stehenbleiben.«Er musterte Kern ein paar Sekunden lang.»Das dauert natürlich seine Zeit«, erklärte er dann.»Sie könnten mir vielleicht inzwischen entwischen, besonders an einer Stelle, an die wir gleich kommen, da sind allerhand Gäßchen und Ecken und von Schießenkönnen ist da nicht viel die Rede. Wenn Sie da fliehen würden, könnte ich Sie tatsächlich nicht fangen. Ich müßte Ihnen höchstens vorher Handschellen anlegen.«

Kern war plötzlich hellwach und von einer unsinnigen Hoffnung erfüllt. Er starrte den Beamten an.

Der Gendarm ging gleichmütig weiter.»Wissen Sie«, sagte er nach einer Weile nachdenklich,»für manche Sachen ist man sich eigentlich zu anständig.«

Kern fühlte, daß seine Hände naß vor Aufregung waren.»Hören Sie«, sagte er eilig,»auf mich wartet ein Mensch, der ohne mich kaputtgeht! Lassen Sie mich los! Wir sind auf dem Wege nach Frankreich, wir wollen ohnehin hinaus aus der Schweiz, es ist doch gleich, ob so oder so!«

»Das kann ich nicht!«erwiderte der Beamte phlegmatisch.»Das ist gegen meine Dienstvorschrift. Ich muß Sie zur Polizei bringen, das ist meine Pflicht. Sie können mir höchstens weglaufen, dagegen kann ich natürlich nichts weiter machen.«Er blieb stehen.»Wenn Sie zum Beispiel die Straße hier hinunterliefen, um die Ecke und dann links – da wären Sie fort, ehe ich schießen könnte.«Er blickte Kern ungeduldig an.

»Na, dann werde ich Ihnen mal jetzt Handschellen anlegen! Donnerwetter, wo habe ich denn die Dinger?«

Er drehte sich halb um und kramte umständlich in seiner Tasche.

»Danke!«sagte Kern und rannte.

An der Ecke sah er sich im Laufen rasch um. Der Gendarm stand da, beide Hände auf die Hüften gestützt, und grinste hinter ihm her.

In der nächsten Nacht erwachte Kern. Er hörte Ruth sehr hastig und flach atmen. Er tastete nach ihrer Stirn; sie war heiß und feucht. Er wagte sie nicht zu wecken; sie schlief tief, aber sehr unruhig. Das Heu roch stark, obschon Decken und grobe Tücher darübergebreitet waren. Nach einiger Zeit erwachte sie von selbst. Mit verschlafener, kindlicher Stimme verlangte sie nach Wasser. Kern holte ihr eine Kanne und einen Becher, und sie trank gierig.

»Ist dir heiß?«fragte er.

»Ja, sehr. Aber vielleicht ist es das Heu. Mein Hals ist wie ausgedorrt.«

»Hoffentlich hast du kein Fieber.«

»Ich darf kein Fieber haben. Ich darf nicht krank werden. Ich bin es auch nicht. Ich bin es nicht.«

Sie drehte sich um, schob den Kopf unter seinen Arm und schlief wieder ein. Kern lag still. Er hätte gern Licht gehabt, um zu sehen, wie Ruth aussah. Er fühlte an der feuchten Hitze ihres Gesichtes, daß sie Fieber haben mußte. Aber er besaß keine Taschenlampe. So lag er still und lauschte auf ihre hastigen, kurzen Atemzüge und betrachtete die unendlich langsam kreisenden Zeiger auf dem Leuchtzifferblatt seiner Uhr, die wie eine ferne, bleiche Höllenmaschine der Zeit durch das Dunkel schimmerte. Die Schafe unten stießen sich und stöhnten manchmal auf, und es schien Jahre zu dauern, bis das Fensterrund heller wurde und den Morgen anzeigte.

Ruth erwachte.»Gib mir Wasser, Ludwig.«

Kern reichte ihr den Becher.»Du hast Fieber, Ruth. Kannst du eine Stunde allein bleiben?«

»Ja.«

»Ich laufe nur in den Ort, um etwas gegen Fieber zu holen.«

Der Bauer kam und schloß auf. Kern sagte ihm, was los war. Der Bauer machte ein saures Gesicht.

»Da muß sie wohl ins Krankenhaus. Hier kann sie dann nicht bleiben.«

»Wir wollen sehen, ob es bis mittags nicht besser wird.«

Kern ging trotz seiner Furcht, dem Gendarmen oder jemand von der Familie Ammers zu begegnen, in den Ort zu einer Apotheke und bat den Apotheker, ihm ein Thermometer zu leihen. Der Assistent gab es ihm, als er das Geld dafür hinterlegte. Kern kaufte noch eine Röhre Arkanol und lief dann zurück.

Ruth hatte 38,5 Grad Fieber. Sie schluckte zwei Tabletten, und Kern packte sie in seiner Jacke und ihrem Mantel ins Heu. Mittags stieg das Fieber trotz des Mittels auf 39 Grad.

Der Bauer kratzte sich den Kopf.»Sie braucht Pflege. Ich würde sie an Ihrer Stelle ins Krankenhaus bringen.«

»Ich will nicht ins Krankenhaus«, sagte Ruth heiser und leise.»Ich bin morgen wieder gesund.«

»Das sieht nicht so aus«, sagte der Bauer.»Sie sollten in einem Zimmer liegen und nicht hier auf dem Heuboden.«

»Nein, hier ist es warm und gut. Bitte, lassen Sie mich hier liegen.«

Der Bauer ging nach unten, und Kern folgte ihm.»Weshalb will sie denn nicht fort?«fragte der Bauer.

»Weil wir dann getrennt werden.«

»Das macht doch nichts. Sie können doch auf sie warten.«

»Das kann ich nicht. Wenn sie im Krankenhaus liegt, wird man sehen, daß sie keinen Paß hat. Vielleicht wird man sie behalten, obschon wir nicht Geld genug haben; aber hinterher wird die Polizei sie an eine Grenze bringen, und ich weiß nicht, wohin und wann.«

Der Bauer schüttelte den Kopf.»Und Sie haben nichts getan? Nichts ausgefressen?«

»Wir haben keine Pässe und können keine bekommen, das ist alles.«

»Das meine ich nicht. Sie haben nicht irgendwo etwas gestohlen oder jemand betrogen oder so etwas?«

»Nein.«

»Und trotzdem jagt man hinter Ihnen her, als wäre ein Steckbrief auf Sie ausgeschrieben?«-»Ja.«

Der Bauer spuckte aus.»Das verstehe, wer kann. Ein einfacher Mann versteht es nicht.«

»Ich verstehe es«, sagte Kern.

»Es kann eine Lungenentzündung geben, da oben, wissen Sie das?«

»Lungenentzündung?«Kern sah ihn erschrocken an.»Das ist unmöglich! Das wäre ja lebensgefährlich!«

»Natürlich«, sagte der Bauer.»Deshalb rede ich doch mit Ihnen.«

»Es wird eine Grippe sein.«

»Es ist Fieber, hohes Fieber, und was es wirklich ist, kann nur ein Arzt sagen.«

»Dann muß ich einen Arzt holen.«

»Hierher?«

»Vielleicht kommt einer. Ich will nachsehen, ob es einen jüdischen im Adreßbuch gibt.«

Kern ging wieder zurück in den Ort. In einem Zigarettenladen kaufte er zwei Zigaretten und ließ sich das Telefonbuch geben. Er fand einen Arzt, Doktor Rudolf Beer, und ging hin. Die Sprechstunde war zu Ende, als er kam, und er mußte über eine Stunde warten. Er beschäftigte sich damit, Zeitschriften und Magazine anzusehen; er starrte auf die Bilder und konnte nicht begreifen, daß es Tenniswettkämpfe gab und Empfänge und halbnackte Frauen in Florida und fröhliche Menschen und daß er hilflos dasaß und daß Ruth krank war.


Дата добавления: 2015-10-16; просмотров: 53 | Нарушение авторских прав


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