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Aus der Schneise zwischen den Häusern löste sich eine schmale Gestalt in dunkler Lederjacke, kaum größer als Rosa. Im Sonnenschein wirkte ihre Gesichtshaut wie grobes Sandpapier.

»Mirella?«, flüsterte Rosa.

Die Hybride ging zum Körper des alten Mannes und trat ihm in die Seite. Er regte sich nicht. Zufrieden blieb sie über ihm stehen und sah zu, wie sich eine dunkle Lache um seinen Schädel bildete.

Rosa hörte ein Rascheln in ihrem Rücken, in der Gasse hinter dem Geländewagen. Sie wollte sich umdrehen und dabei ihre Gestalt verändern, als ihr ein stechender Schmerz zwischen die Schulterblätter fuhr. Sie taumelte herum, fiel zu Boden, hoffte noch, dass sie doch zur Schlange wurde, und spürte zugleich, dass ihr Wunsch unerfüllt blieb. Ihre Sicht verschwamm. Zitternd tastete sie über die Schulter nach dem, was sie getroffen hatte. Da steckte etwas, aber sie kam nicht heran.

Danai Thanassis kletterte von hinten über den BMW und blieb auf dem Dach sitzen wie eine menschengroße Spinne. Der Reifrock war verrutscht und Rosa bekam eine Ahnung der braunen, verhornten Skorpionbeine, die die Arachnida darunter verbarg. In einer Hand hielt sie eine klobige Pistole.

Lächelte sie? Rosa war zu benommen, um sicher zu sein.

»Wo ist Alessandro?«Nur ein Krächzen. Sie erhielt keine Antwort.»Was habt ihr –«

Ihr Kopf sackte kraftlos zu Boden. Über sich sah sie den blauen Himmel, dann ein Gesicht, das sich von hinten in ihr Blickfeld schob.

»Sie ist noch wach«, sagte Mirella.

Danai erwiderte etwas, das Rosa nicht verstand.

Das Blau überlagerte allmählich die Züge der Hybride. Rosa öffnete den Mund. Kein Laut drang hervor.

Wo ist er?, dachte sie dämmerig.

Wo ist

Wo

Eine Erschütterung weckte sie. Ihr Kopf zuckte nach oben, fiel zurück und krachte schmerzhaft auf harten Untergrund.

Ein ohrenbetäubendes Knirschen und Brummen wurde von metallischem Trommeln übertönt. Um sie herrschte flackerndes Halblicht, mal heller, dann wieder düster.

Sie lag auf der Ladefläche eines Kleintransporters, durch die Ritzen einer festgezurrten Plane blitzte stroboskopartig Tageslicht.

Ihre Arme und Beine waren gefesselt, nicht nur an den Gelenken, sondern eng miteinander und am Körper verschnürt. Sie lag auf dem Rücken, unmittelbar neben einem Radkasten. Aufstiebende Steinchen spritzten im Inneren gegen das Metall, was den höllischen Lärm erklärte. Der Wagen fuhr über raues Gelände und rumpelte durch Schlaglöcher. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre sie verprügelt worden, aber womöglich lag das nur daran, dass sie von den Erschütterungen umhergeworfen wurde. Wer weiß, wie lange schon.

Vorsichtig hob sie den Kopf, schaute an sich hinunter, dann zur Seite.

Und da lag er. In ihrer Brust explodierte Hitze, als müsste sie in Flammen aufgehen.

» Alessandro! «

Wie sie selbst war er fest mit einer Schnur aus Kunststoff umwickelt. Sand klebte in seinem dunklen Haar. Auch er lag auf dem Rücken, seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht angespannt.

»Alessandro?«

Er bewegte sich, aber das waren nur die Stöße des Untergrunds, das Beben des Fahrzeugs auf holpriger Piste.

Verzweifelt versuchte sie näher an ihn heranzurücken. Sie musste ihren Arm in den Fesseln verbiegen und die Finger spreizen, um seine Hand zu erreichen. Es war wie ein Stromstoß, als ihre Fingerspitzen sich endlich berührten.

»Er schläft«, rief eine weibliche Stimme über den Lärm hinweg.»Er hat die dreifache Dosis des Betäubungsmittels im Blut, außerdem eine ordentliche Portion von dem Serum. Er war ziemlich widerspenstig, hat herumgetobt bis zuletzt. Irgendwann hatte ich genug davon.«

Erst jetzt registrierte sie, dass es eine breite Öffnung zwischen Ladefläche und Fahrerraum gab. Rosa lag mit den Füßen in Fahrtrichtung. Über die Rückenlehne hinweg schaute Danai sie an, das wunderschöne Puppengesicht gerötet von Stressflecken. Mit all ihren Beinen konnte es auf der Rückbank nicht bequem sein.



Die Hybride hielt etwas hoch, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Dartpfeil hatte. Eines dieser Dinger musste sie mit der Pistole in Rosas Rücken geschossen haben.»Ein Kombipräparat aus Betäubungsmittel und TABULA-Serum«, sagte sie und hob mit der anderen Hand einen Injektor.»Bis wir unser Ziel erreicht haben, bekommt ihr jede Viertelstunde eine Dosis von mir. Du hast eine ziemliche Impfreaktion am Unterschenkel, fürchte ich. Eigentlich müsste es schrecklich jucken.«

Rosa spürte es, hatte aber gerade andere Probleme.

»Sieh mich nicht so an«, sagte die Hybride.»Er ist nur betäubt. Wäre ja auch schade um ihn.«

Rosas Finger lagen immer noch an seinen und das Lodern in ihrem Oberkörper ließ nicht nach. Mit einer Verwandlung hatte das nichts zu tun. Nur mit ihm. Am Ende hatte alles mit ihm zu tun, was sie sagte, was sie dachte, was sie fühlte. Sogar ihr Hass auf Danai speiste sich viel stärker aus der Angst um ihn als um sich selbst.

»Wie habt ihr mich gefunden?«, brachte sie rau hervor.

Danai deutete zum Himmel, zu einem unsichtbaren Satelliten, dann hob sie ein Laptop vom Sitz neben sich.»Wir haben dich nie aus den Augen gelassen. Das Boot, die Kirche, dein Ausflug zur Station. Wir waren immer bei dir.«

»Wohin fahren wir?«

»Kannst du dir das nicht denken?«

»Du willst uns wirklich an ihn ausliefern?«, stieß Rosa aus.»An den Hungrigen Mann? Vielleicht könnt ihr ihn töten, aber ihr werdet nie alle Dynastien –«

Danai unterbrach sie.»Lass das meine Sorge sein.«

Erneut hob Rosa den Kopf und versuchte zu erkennen, wer sich noch mit im Wagen befand. Danai war allein auf der Rückbank, aber vorne am Steuer saß Mirella.

»Wollt ihr zwei ihn allein fertigmachen?«Rosa funkelte Danai wütend an.»Toller Plan.«

»Du verstehst das nicht.«

»Er wird euch –«

»Herrgott, Rosa!«, fiel Danai ihr ins Wort und die Stressflecken leuchteten kräftiger.»Niemand hat vor, den Hungrigen Mann zu töten.«

Rosa klappte den Mund zu und starrte sie an.

»Es hätte niemals funktioniert«, sagte die Hybride.»Mein Vater war ein verbitterter alter Mann, der nicht verstanden hat, dass wir nicht gewinnen können. Er hat immer nur alles in Schwarz und Weiß gesehen, wir die Guten, die Arkadier und TABULA die Bösen. Es ist so lächerlich, wenn man nur eine Minute darüber nachdenkt.«

»Er … war?«, fragte Rosa.

Danai wich ihrem Blick aus, zögerte kurz, dann wandte sie sich ab und blickte zur Windschutzscheibe.

»Was ist passiert?«Rosa stemmte sich vergeblich gegen ihre Fesslung.»Sprich gefälligst mit mir!«

Finger umfassten ihre. Kühle Finger. Seine Finger. Sie hätte sich beinahe auf die Zunge gebissen vor Erleichterung.

»Sie sind tot«, flüsterte er, kaum hörbar in all dem Lärm.

»Wie geht’s dir?«, fragte sie leise, während sie das Gefühl hatte, ein Gummiball hüpfe in ihrer Brust auf und ab.

»Sie haben das Schiff gesprengt«, raunte er ihr zu, noch immer nicht ganz bei Bewusstsein, fast als spräche er im Schlaf.»Danai und Mirella … sie haben die Stabat Mater in die Luft gejagt.«

Rosas Blick schwenkte von ihm zum Hinterkopf der jungen Frau auf dem Rücksitz, zu dem hochgesteckten dunklen Haar, aus dem sich Strähnen gelöst hatten und über die Schulter fielen. Sie schien noch nicht bemerkt zu haben, dass Alessandro erwacht war.

Die Nachrichtensendung. Der Hubschrauber, der über das Meer flog. Der schwarze Rauch am Horizont.

»Das Schiff«, ächzte Alessandro und schlug jetzt erst die Augen auf. Seine Lider flatterten, aber das Grün darunter glühte von innen heraus.»Sie haben Sprengladungen hochgehen lassen, um es zu versenken … Sie müssen das seit langem geplant haben, das Schiff war von oben bis unten vermint.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn.«Rosa hörte kaum ihre eigenen Worte, so infernalisch war der Krach auf der Ladefläche.»Danai hat –«

»Sie ist eine Verräterin.«Seine Stimme gewann ein wenig an Kraft.»Sie hat Kontakt zum Hungrigen Mann aufgenommen … Er hat ihr versprochen, sie aufzunehmen, sie zu einem vollwertigen Mitglied der Dynastien zu machen. Wer weiß, was noch … Kein Versteckspiel mehr, kein Davonlaufen, nicht mehr dieser geheime Krieg gegen TABULA. Sie wollte keine Ausgestoßene mehr sein. Ihr Vater hat das nicht verstanden. Sie hat sich als Arkadierin gesehen und er war eben nur ein Mensch …«

Rosas Blick irrlichterte von ihm zu Danai und wieder zurück.»Er hat ihr vertraut«, flüsterte sie.

Aber hätte sie es nicht ahnen müssen? Sie hatte Danai in New York gesehen, in Michele Carnevares Club. Wer in den Dream Room kommt, sieht Dinge, die es anderswo nicht gibt, hatte er gesagt. Raubtieraugen im Schatten der Separees. Verwandlungen nach Mitternacht. Danai war freiwillig zu den Arkadiern gegangen, sie hatte sich dort wohlgefühlt. Sie wollte sein wie sie.

»Mirella und sie haben mich letzte Nacht heimlich von Bord gebracht«, sagte er,»nachdem sie in Moris Unterlagen den Lageort von Lykaons Grab gefunden hatten. Sie brauchten etwas, damit der Hungrige Mann sie ernst nimmt. Sie wollten ihn mit ihrem Wissen beeindrucken. Und dann haben sie in sicherer Entfernung den Auslöser gedrückt. Ich hab’s gesehen, Rosa … Die Explosionen auf allen Decks, die Feuer … Brennende Hybriden, die über Bord gingen. Ein paar der Amphibien sind vielleicht davongekommen, aber der Rest …«

Sie wollte seine Hand mit ihren Fingern umschließen, aber so nah kam sie nicht an ihn heran. Erneut wurden sie durchgeschüttelt, nur ihre Blicke ließen einander nicht los.

Sie hätte ihn so gern geküsst.

Nie hatte sie einen Gedanken daran verschwendet, wie es sein würde, unterwegs zur eigenen Hochzeit zu sein.

Jetzt wusste sie es.

 

Königsgrab

Der Wagen fuhr bergab durch enge Kurven. Das Licht in den Ritzen der Plane hatte sich rötlich gefärbt, es wurde Abend. Ein kräftiger Windstoß schlug mit einem Knall gegen die Seite des Transporters, beulte die Abdeckung nach innen und brachte den Wagen ins Schlingern.

Einmal hielten sie kurz an, Mirella sprach mit jemandem vor dem Seitenfenster. Die Plane wurde einen Spaltbreit geöffnet, ein Mann sah herein, nickte und ließ sie weiterfahren.

Auf die Serpentinen folgte eine lange Gerade. Schon vor einer Weile war die Straße besser geworden, sie rollten jetzt über ebenen Asphalt. Allein der Wind machte Mirella zu schaffen, mehrfach musste sie scharf gegen die Böen ansteuern.

Noch ehe die Hybride den Wagen zum Stehen brachte, wusste Rosa, wo sie sich befanden. Mirella stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Plane im Heck. Obwohl die Sonne gerade unterging, wurde Rosa nach den Stunden im Halbdunkeln von der Helligkeit geblendet. Hinter Mirella standen mehrere Gestalten.

Danais Reifrock raschelte, als sie sich von der Rückbank ins Freie schob. Vor ein paar Minuten hatte sie ihnen weitere Injektionen in die Unterschenkel gegeben. Das Jucken wurde allmählich zu einem schmerzhaften Stechen und Brennen.

»Holt sie da raus«, sagte jemand.

Männer in teuren Anzügen stiegen auf die Ladefläche und luden Rosa und Alessandro aus wie verschnürte Pakete. Sie wurden auf warmen Asphalt gelegt, auf den vor nicht allzu langer Zeit die Sonne geschienen hatte. Jetzt stand sie als feurige Halbkugel über einer Anhöhe und tauchte den Himmel in Schlieren aus Violett und Rot.

Rechts und links der zweispurigen Straße verlief eine Brüstung. Dahinter öffnete sich der Abgrund, erst in weiter Ferne waren wieder Berge zu sehen. Der Wind fauchte scharf durch die Gitterstreben und presste die Anzüge eng an die Körper der Männer.

Der Staudamm von Giuliana.

Die Straße führte über einen Grat aus grauem Beton, mehr als hundertfünfzig Meter über dem Talgrund. Der Wagen hatte in der Mitte der Staumauer angehalten. Bis zu den Enden waren es in beiden Richtungen mindestens dreihundert Meter, viel zu weit zum Davonlaufen – selbst wenn ihre Beine nicht stundenlang von engen Fesseln abgeschnürt worden wären. Wahrscheinlich würden sie sich kaum aus eigener Kraft auf den Füßen halten können.

Eigentlich hatte Rosa angenommen, dass man sie direkt in die Ruinen des Dorfes bringen würde. Das aufgestaute Wasser des Sees war abgelassen worden, hatte Alessandro gesagt. Falls das Grabmal des Lykaon sich wirklich hier befand, so wie das aus Moris Unterlagen hervorzugehen schien, dann musste es jetzt freigelegt sein. Sie erwartete etwas wie eine archaische Gruft, Säulenkammern mit verstaubten Wandreliefs. Der Legende nach war das Grab ein Bauwerk von atemberaubender Größe gewesen und hatte die Arbeitskraft eines ganzen Volkes über Jahrzehnte hinweg in Anspruch genommen. Was immer davon noch übrig war, nahm es in Rosas Vorstellung mit den Pharaonengräbern im Tal der Könige auf, mit den Dschungelpyramiden der Mayas.

Alessandro war anzusehen, dass er mit den Nachwirkungen seiner Bewusstlosigkeit zu kämpfen hatte. Ihr selbst ging es ähnlich, auch ohne das Betäubungsmittel im Blut. Vielleicht lag es an den Mengen des Hybridenserums, die Danai ihnen unterwegs gespritzt hatte.

Die Männer hatten sie auf die Seite gelegt. Als sie erneut versuchte, durch Bewegungen die engen Fesseln zu lockern, trat Danai in ihr Sichtfeld.

»Lass das.«Thanassis’ Tochter wirkte nervös.

»Du zitterst ja«, sagte Rosa.»Ziemlich erbärmlicher Auftritt für eine Mörderin deines Kalibers.«

Danai erwiderte nichts, stattdessen landete Mirellas Fuß in Rosas Seite. Der Tritt nahm ihr für Augenblicke den Atem, sie schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende.

Ein wölfisches Knurren erklang, dann leise Worte in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.»Weg von ihr, Schlange!«

»Tu, was er sagt, Mirella«, verlangte Danai.

Sogar zusammengekrümmt und mit Schmerzen im ganzen Oberkörper verspürte Rosa Genugtuung, als Mirella eilig ein paar Schritte zurück machte.

Der Mann, der gesprochen hatte, befand sich hinter ihr, irgendwo beim Wagen, und jetzt hörte sie seine Schritte auf der Straße. Aber sie lag mit dem Gesicht zu Alessandro und hätte sich niemals freiwillig von ihm abgewandt.

Seine Augen verengten sich, als er über sie hinweg zu dem Neuankömmling aufsah. In seinem Blick loderte Hass.

»Das Serum?«, fragte die Stimme in ihrem Rücken.

Danai, deren weiter Rock vom Wind an ihren verwinkelten Beinkranz gepresst wurde, deutete eine Verbeugung an.»Ich hab es ihnen alle fünfzehn Minuten gespritzt, zuletzt gerade eben erst. Sie können sich nicht verwandeln.«

»Löst ihre Fesseln bis auf die an den Händen. Und dann stellt sie auf die Füße. Das hier ist ihrer nicht würdig.«

Rosa hatte die Stimme sofort erkannt, wenngleich sie jetzt klarer klang und nicht mehr verzerrt wurde durch die Sprechanlage im Gefängnis. Sein Gesicht hatte Rosa dort nicht sehen können, eine verspiegelte Scheibe hatte sie getrennt.

Alessandro und sie wurden von den Männern auf den Bauch gerollt. Jemand zerschnitt ihre Fesseln und zog sie unter ihren Körpern hervor. Die Stricke um ihre Handgelenke blieben, aber ihre Beine waren frei. Die Fesselung hatte tief in ihre Haut eingeschnitten.

Einer der Männer zerrte Rosa auf die Füße, und wie nicht anders erwartet, sackte sie gleich wieder in die Knie. Von den Hüften abwärts spürte sie nichts mehr, selbst das Kribbeln des gestauten Blutes war verschwunden. Ebenso das Brennen der Einstiche an ihrer Wade.

Der Mann, der sie aufgerichtet hatte, hielt sie von hinten unter den Achseln fest wie eine Puppe. Alessandro wurde von zwei Kerlen gleichzeitig gepackt und sah so verbissen aus, als wollte er ihnen mit bloßen Zähnen an die Kehle gehen. Sie wurde umgedreht und stand jetzt neben ihm.

Der Sonnenuntergang in ihrem Rücken tauchte alles in ein feuriges Rot: die Sonnenbrillen der Männer und Frauen, die sich auf der Fahrbahn versammelt hatten; ihre Gesichter, glänzend vor Anspannung; sogar ihre schwarzen Anzüge und teuren Kostüme wirkten wie in Blut getaucht. Es waren vierzig oder fünfzig, viele kannte Rosa vom Sehen, darunter auch zwei ihrer entfernten Cousinen aus Mailand – zweifellos die Drahtzieherinnen des Komplotts gegen sie. Rosa fand es nur angemessen, dass sie sich nicht an die Namen der beiden erinnern konnte. Sie waren Schwestern, Enkelinnen von Costanzas Cousine. Lamien natürlich.

Der Hungrige Mann stand nicht unmittelbar hinter ihr, wie sie bisher angenommen hatte, sondern ein ganzes Stück entfernt. Ein Beweis mehr für die Macht seiner Stimme. Etwas Beschwörendes, Betörendes lag darin, und nun, da sie ihn sehen konnte, verstand sie, warum einige ihn für den wahren Lykaon hielten und nicht den geschickten Nachahmer und Manipulator erkannten, der er in Wirklichkeit war.

»Willkommen.«Er trat aus dem Schatten des Transporters und kam langsam auf Alessandro und Rosa zu.»Ich bedauere, dass man euch schlecht behandelt hat.«Ein fahles Leuchten gloste in seinen Augen, der Blick des Wolfes bei Nacht; er sah Mirella an, die ein wenig abseits stand und zusammenzuckte. Danai rückte einen Schritt von ihrer Verbündeten ab, so als fürchtete sie, das Stigma seines Vorwurfs könne auf sie selbst abfärben.

Der Hungrige Mann – dessen wahrer Name nicht vergessen, aber längst bedeutungslos geworden war – hatte sich kaum verändert, seit das einzige Foto geschossen worden war, das Rosa von ihm kannte. Darauf hatte er ausgesehen wie eine Mischung aus Jesus von Nazareth und dem Anführer einer Studentenrevolte. Auch heute trug er das dunkle Haar noch immer schulterlang, sein Vollbart war sauber gestutzt. Die grauen Schläfen hatte er schon auf dem Bild gehabt, das während seiner Verhaftung vor dreißig Jahren gemacht worden war. Sie hätte ihn auf Ende vierzig geschätzt, nie und nimmer auf beinahe siebzig. Es war, als wäre sein Körper in der Zelle konserviert worden.

Sie hatte einen schäumenden Irren erwartet, eine Art Hohepriester mit wallenden Roben. Wie sehr sie sich getäuscht hatte, verriet nur, dass ihr die Realität der Arkadischen Dynastien nach wie vor fremd war.

Er trug einen schwarzen Nadelstreifenanzug, ein weißes Hemd mit Seidenkrawatte und einen langen Mantel. Wäre da nicht das lange Haar gewesen, man hätte ihn für einen Geschäftsmann halten können, der jeden Moment eine Powerpoint-Präsentation starten würde.

Er schenkte Rosa ein Lächeln, das beinahe höflich wirkte. Dann trat er vor Alessandro, der sich im Griff seiner Bewacher aufbäumte und die Zähne fletschte.

»Du bist also der junge Carnevare. Wir hatten noch nicht das Vergnügen.«

»Stimmt«, entgegnete Alessandro,»wir haben eine Menge nachzuholen.«Und dabei stieß er den Kopf mit aller Gewalt nach vorn, versuchte sich von den Männern loszureißen und schnappte nach der Kehle seines Gegenübers wie ein Raubtier, das vergessen hatte, dass es in einem Menschenkörper gefangen war.

Einen Augenblick lang war der Hungrige Mann tatsächlich überrascht und musste einen Schritt zurücktreten. Er geriet nicht ernsthaft in Bedrängnis, aber keinem der Anwesenden konnte entgangen sein, dass ihn der Angriff überrumpelt hatte.

Rosa hätte Angst um Alessandro haben müssen, doch sie spürte nur Stolz und die Bereitschaft, mit ihm zu sterben.

Mirella, die wenige Meter entfernt stand, stieß ein Schlangenzischen in Alessandros Richtung aus. Rosa fand, dass die Hybride niemals zuvor so sehr wie ein Reptil ausgesehen hatte, mit ihrer höckerigen Haut im Rotlicht des Sonnenuntergangs, dem Wutlodern in ihren Augen und der angespannten Körperhaltung.

Das Knurren eines sehr alten, sehr wütenden Wolfes drang aus der Kehle des Hungrigen Mannes. Er wirbelte herum, und noch während er vorwärtsglitt, veränderten sich seine Züge. Sein Kopf verformte sich innerhalb eine Lidschlags, während sein Körper menschlich blieb, so als wollte er sich wegen dieser Kleinigkeit nicht den Anzug ruinieren.

Vielleicht sah Mirella ihn noch kommen, doch das war mit Sicherheit das Letzte, was sie wahrnahm. Seine Kiefer schnappten zu und halbierten ihren Hals mit einem einzigen Biss. Ein Blutstrahl besudelte ihn, während die Hybride noch immer aufrecht stand. Seine Hände packten sie an den Oberarmen und schleuderten sie mit ungeheurer Kraft gegen die Brüstung. Leblos kippte sie nach hinten und verschwand in der Tiefe; der Abgrund verschluckte sogar das Geräusch ihres Aufschlags.

Der Hungrige Mann drehte sich um und war augenblicklich wieder Mensch. Sein Mund war blutverschmiert, mehr noch das weiße Hemd, aber er ignorierte beides, setzte wieder sein Lächeln auf und trat vor Danai. Sie schien sich unter seinem Blick zu winden, ihre Beine traten unter dem Reifrock auf der Stelle.

»Sie war kein Teil unserer Abmachung«, sagte der Hungrige Mann zu ihr, wieder ganz ruhig, ganz sachlich.

»Ich habe ihre Hilfe gebraucht«, begann Danai kleinlaut,»aber es tut mir leid, wenn –«

»Psst«, machte er sanft, leckte sich das Blut von den Lippen und berührte Danais Wange sanft mit den Fingerspitzen.»Du bist jetzt eine von uns, Danai Thanassis. Geh hinüber zu deinen neuen Schwestern und Brüdern.«

Er machte eine einladende Bewegung in die Richtung einer Gruppe von Männern und Frauen, die am Rand des Pulks standen, Außenseiter sogar unter ihresgleichen. Die Vertreter der Arachnida-Dynastie.

Zögernd trat Danai nach vorn. Bei jedem Schritt schien sie einen Angriff des Hungrigen Mannes zu erwarten. Aber er ließ sie passieren und blickte ihr nach, bis sie sich zu ihren Artgenossen gesellte. Ganz sicher hatte sie sich ihre Aufnahme in den Clan nicht derart unzeremoniell und abweisend vorgestellt. Falls nur dies ihr Lohn für den Verrat an den Hybriden war, so mochte ihr gerade dämmern, dass der Handel nicht so vorteilhaft war wie erhofft. Die anderen musterten sie voller Abneigung, vor allem den Reifrock. Doch ehe sie ihrer Missbilligung Ausdruck verleihen konnten, wies der Hungrige Mann sie zurecht.

»Danai Thanassis gehört nun zu euch«, erklärte er in scharfem Ton,»und ihr werdet sie behandeln wie eine wahre Tochter eures Clans.«

Der älteste Arachnid, ein weißhaariger, spindeldürrer Greis mit hoher Stirn und winzigen Augen, verbeugte sich in Richtung des Hungrigen Mannes, dann trat er auf Danai zu, nahm zuvorkommend ihre Hand, als hätte er sie gerade zum Tanz aufgefordert, und bat sie an seine Seite. Andere Arachnida wichen zurück, aber der Clanführer stieß ein Zischen aus, das wie Spucken klang, nicht nach Worten oder Tierlauten.

Rosa wehrte sich gegen die Umklammerung ihres Bewachers. Allmählich spürte sie ihre Glieder wieder, aber an Davonlaufen war nicht zu denken, zumal sie an beiden Enden des Staudamms Straßensperren erkennen konnte; eine dieser Blockaden hatten sie vorhin passiert. Dort standen auch die abgestellten Fahrzeuge der capi.

»Ihr fallt auf eine Farce herein«, rief Alessandro so laut, dass alle es hören konnten,»ein verstaubtes Ritual, das nichts mehr zu bedeuten hat. Das alte Arkadien wird davon nicht wiederauferstehen. Dies hier ist das einundzwanzigste Jahrhundert. Unsere Familien hatten genug Mühe damit, den Einfluss der Cosa Nostra über hundert Jahre aufrechtzuerhalten. Und da wollt ihr etwas zum Leben erwecken, das vor Jahrtausenden untergegangen ist?«

Seine Worte waren sorgfältig gewählt und ebenso an die Oberhäupter der Clans wie an den Hungrigen Mann gerichtet. Alle Augen waren ihm zugewandt und er schien sich im Klaren darüber zu sein, dass dies seine einzige Chance bleiben würde, zu ihnen allen zu sprechen. Einer der Männer, die ihn festhielten, machte Anstalten, ihn zum Schweigen zu bringen, aber der Hungrige Mann schüttelte den Kopf.

»Alessandro Carnevare ist ein Panthera von hoher Geburt«, sagte er. Mirellas Blut glänzte auf seinen Zügen wie frische Kriegsbemalung.»Er soll offen sprechen.«

Alessandro riss sich von seinen Bewachern los. Ein wenig schwankend, aber aus eigener Kraft stand er mit dem Rücken zu den beiden Männern, ihrerseits capi zweier Clans aus Trapani. Es gab keine Handlanger an diesem Ort, jeder, der zur Erneuerung des Konkordats eingeladen worden war, hatte einen führenden Posten inne oder gehörte zur engsten Verwandtschaft eines Familienoberhaupts.

Alessandro schien jetzt absichtlich am Hungrigen Mann vorbeizublicken, so als stünde er gleichwertig vor den anderen, nicht wie jemand, der eine Erlaubnis zum Reden brauchte.»Wir alle haben dafür gekämpft, die Werte der Cosa Nostra, die Ehre unserer einen großen Familie zu erhalten«, rief er.»Sie ist es, die unser Leben bestimmt, unseren Alltag, all das, was uns etwas bedeutet – und nicht eine Handvoll Legenden aus einer Zeit, über die wir nichts wissen. Die Cosa Nostra hat sich immer dadurch ausgezeichnet, nach außen hin den Schein zu wahren. Das hat unsere Familien stark gemacht, darum beneiden uns die Organisationen auf der ganzen Welt. Wollt ihr das alles aufs Spiel setzen – und wofür? Was wollt ihr in Zukunft sein? Männer und Frauen mit gewaltigem Vermögen und der Aussicht, euren Reichtum weiter zu vergrößern? Oder ein Rudel wilder Tiere, das früher oder später gejagt und zur Strecke gebracht werden wird? Unsere Vorfahren sind auf Scheiterhaufen verbrannt, an Kreuze genagelt und in den Kerkern der Inquisition zerfleischt worden. Ist es das, was ihr wollt? Sizilien, Italien, Europa – das sind nicht mehr die Länder irgendwelcher Barbaren wie zu den Zeiten des wahren Lykaon.«Erst dabei sah er den Hungrigen Mann wieder an und setzte hinzu:»Des einzigen Lykaon!«

An die Familienoberhäupter gewandt fuhr er fort:»Damals war es für die Arkadier leicht, sich hinter dem Aberglauben der Leute zu verstecken. Die Menschen haben Wesen wie uns gefürchtet und ihnen hat der Mut gefehlt, mit aller Macht zurückzuschlagen. Aber heute? Wie lange wird es dauern, ehe man versucht, uns auszurotten, wenn wir uns wieder aufführen wie Bestien? Ihr alle wisst, mit welcher Härte die Justiz gegen unsere Geschäfte vorgeht. Wir haben überlebt, weil wir einigen unserer Gegner etwas zu bieten hatten. Bestechung und Verschwörung haben die Cosa Nostra vor dem Untergang bewahrt. Ihr alle habt Regierungsmitglieder geschmiert, habt Richter und Staatsanwälte in eure Villen eingeladen, um sie auf eure Seite zu ziehen. Aber Geschäfte, auch illegale, sind etwas anderes als Massenmord. Ihr wollt wirklich wieder als Raubtiere jagen und Menschen reißen? Wie wollt ihr das auf Dauer geheim halten? Und womit wollt ihr unsere Feinde zu Freunden machen? Sie mögen sich von euch kaufen lassen, solange es um Immobilien geht oder Waffen oder Drogen. Aber sie werden euch zu Grunde richten, wenn ihr vor den Schulen ihrer Kinder jagt und Blut auf ihren Straßen vergießt. Womit wollt ihr sie dann besänftigen? Mit einem Stück rohem Fleisch auf ihrem Teller?«

Unruhe erwachte in den Reihen der versammelten Arkadier, aber noch wurde kein Murren daraus, schon gar keine Auflehnung.

Der alte Arachnid, an dessen Seite Danai noch immer sehr verloren und in sich zusammengesunken stand, schüttelte langsam den Kopf.»Schöne Worte, mein Junge. Aber eben nur das: nichts als Worte. Arkadien ist nicht untergegangen, weil unsere Vorfahren sich vor Bürokraten gefürchtet haben. Arkadien ging zu Grunde am Größenwahn von Panthera und Lamien und – weil sie versucht haben, sich gegenseitig zu übertreffen.«

Dafür erntete er Einspruch aus den Lagern der Carnevares und Alcantaras, von all jenen, die Rosa und Alessandro ans Messer geliefert hatten.

Der Arachnid winkte ab.»Zuvor jedoch haben sie Arkadien den Frieden gebracht und deshalb sind wir hier. Um dieses Bündnis zu erneuern und zugleich dem Hungrigen Mann unseren Respekt zu zollen. Das neue Arkadien wird das Beste aus beiden Epochen verbinden, die Entschlossenheit Lykaons und die Macht der vereinten Dynastien. Darum sage ich: Das Opfer soll vollstreckt werden. Wenn die Cosa Nostra überleben will, dann muss sie aus der Kraft Arkadiens schöpfen. Der Kreis wird sich schließen für einen Neubeginn.«


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