Студопедия
Случайная страница | ТОМ-1 | ТОМ-2 | ТОМ-3
АрхитектураБиологияГеографияДругоеИностранные языки
ИнформатикаИсторияКультураЛитератураМатематика
МедицинаМеханикаОбразованиеОхрана трудаПедагогика
ПолитикаПравоПрограммированиеПсихологияРелигия
СоциологияСпортСтроительствоФизикаФилософия
ФинансыХимияЭкологияЭкономикаЭлектроника

Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail! 1 страница



 


Kai Meyer

 

Band 3

 

Arkadien fällt

 

Band 1: Arkadien erwacht

Band 2: Arkadien brennt

Band 3: Arkadien fällt

 

 


CARLSEN-Newsletter

Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!

www.carlsen.de

 

Copyright © Kai Meyer, 2011

Copyright deutsche Erstausgabe © 2011 by Carlsen Verlag GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency, München

Umschlaggestaltung: unimak, Hamburg

Umschlagfotos: shutterstock: © fivespots / © David Dohnal / © Tomas Sereda / © Emi Cristea; iStockphoto.com: © M-Reinhard / © andy2673 / ©heary

Umschlagtypografie: Kerstin Schürmann, formlabor

Lektorat: Kerstin Claussen

Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

Lithografie: ZienekePreprint, Hamburg

ISBN 978-3-646-92205-9

 

Alle Bücher im Internet unter

www.carlsen.de

Narben

Wären wir Narben, dann wären unsere Erinnerungen die Fäden, die uns zusammenhalten. Du kannst sie nicht zerschneiden. Wenn du das tust, dann reißt es dich entzwei.«

»Aber meine Erinnerungen tun so weh«, sagte sie.»Ich will vergessen. So vieles einfach vergessen.«

»Wie soll das gehen? Alles, was dir im Leben geschehen ist, geschieht auch heute noch. Was einmal begonnen hat, endet nicht. Da oben in deinem Kopf, da endet es nie.«

 

Abschied

Fundlings Beerdigung.

Zu heiß für einen Mittwoch im März, der Wind zu sandig, die Sonne zu grell. Das karamellfarbene Hügelland flirrte, als hätte sich die Prozession schwarzer Gestalten in eine Luftspiegelung verirrt.

Rosa versuchte die Umgebung auszublenden. Alle Empfindungen bis auf die Berührung von Alessandros Hand in ihrer. Er ging neben ihr über den Friedhof. Sie spürte seine Nähe in jeder Pore.

Zypressen waren die einzigen Bäume zwischen den Gräbern. Neben dem breiten Hauptweg erhoben sich die Gruftkapellen der reichen Großgrundbesitzer, Familien, die dieses Land einst wie Könige regiert hatten. Jetzt gehörte alles hier den Carnevares, ihre Gruft war die größte und prachtvollste. Das Tor stand weit offen.

Rosa und Alessandro gingen gleich hinter dem Sarg und seinen sechs stummen Trägern. Sie hatte ein schlichtes dunkles Kleid ausgewählt, das über ihren Hüftknochen spannte, weitmaschige Strumpfhosen und Schuhe mit flachem Absatz. Alessandros schwarzer Anzug ließ ihn älter aussehen, aber ihm standen Hemd und Krawatte besser als den meisten, die sie kannte. Vermutlich half es, dass jedes Stück maßgeschneidert war.

An der Spitze des kurzen Trauerzuges – außer ihnen nur einige Hausangestellte des Castello Carnevare, die Fundling von klein auf gekannt hatten – tauchte der Priester in den Schatten des Portals. Die Träger hoben den Sarg an goldenen Griffen in eine Maueröffnung. Fundling war kein gebürtiges Mitglied der Familie Carnevare, nur ein Findelkind von unbekannter Herkunft. Aber Alessandro hatte veranlasst, dass ihm die letzte Ehre erwiesen wurde wie einem leiblichen Bruder.

Mit Rosa und Alessandro betrat Iole die Grabkapelle. Sie hatte das sommerliche Weiß, das sie sonst so gern trug, gegen ein dunkles Kostüm eingetauscht. Iole war wunderlich, zu verschroben für ihre fünfzehn Jahre, aber sie wurde von Tag zu Tag hübscher. Ihr kurzes schwarzes Haar umrahmte ein grazil geschnittenes Gesicht, in dem riesige Augen wie Kohlestücke ruhten. Gedankenverloren zeichnete sie mit der Fußspitze ein kleines Herz in den Staub auf dem Marmorboden.

Der Priester begann seine Grabrede.

Seit Tagen wusste Rosa, dass dieser Augenblick kommen würde. Dieses Dastehen und Warten auf den Moment, an dem sich die Endgültigkeit der Ereignisse nicht mehr verleugnen ließ. Sie wollte wütend sein auf die Ärzte, die nicht erkannt hatten, dass Fundling aus dem Koma erwachen und die Kraft besitzen könnte, sich ohne Hilfe aus dem Bett zu ziehen. Auf die Krankenschwestern, die ihn nicht sorgfältig genug beobachtet hatten. Sogar auf die Männer, die ihn schließlich gefunden hatten, nicht weit von der Klinik entfernt, aber tief genug in einer Felsspalte, dass die Suche nach ihm ganze zwei Tage gedauert hatte.



Sie hätte jetzt gern mit Alessandro gesprochen. Mit einem Mal hatte sie Angst, ihn vielleicht niemals wieder hören zu können, weil doch alles so verdammt vergänglich war; war denn das hier nicht ein weiterer Beweis dafür? Erst vor kurzem hatte sie ihre Schwester Zoe verloren und ihre Tante Florinda. Und nun auch noch Fundling. Wer garantierte ihr, dass Alessandro nicht der Nächste war? Und sie standen hier und verschwendeten Zeit.

Der Priester sprach ein letztes Gebet vor dem Grab in der Mauer. Anschließend traten sie einzeln vor, um Abschied zu nehmen.

Rosa kam gleich nach Alessandro an die Reihe. Sie versuchte, sich an etwas zu erinnern, das sie mit Fundling verband, einen Moment, etwas Persönliches, das er zu ihr gesagt hatte.

Was ihr einfiel, war ausgerechnet das, was sie nie verstanden hatte: Hast du dich schon mal gefragt, wer in den Löchern in der Menge geht?

Warum dachte sie ausgerechnet jetzt daran? Weshalb nicht an sein Lächeln – hatte sie ihn überhaupt jemals lächeln sehen? – oder an seine traurigen braunen Augen?

Sie sind immer da. Unsichtbar um uns herum. Nur die Menge macht sie sichtbar.

Sie presste ihre Fingerspitzen an die Lippen und berührte das kühle Holz des Sargs. Es fühlte sich richtig an. Etwas unbeholfen, aber richtig.

Iole legte ein Foto von Sarcasmo, Fundlings schwarzem Mischlingshund, auf den Sargdeckel. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen und verließ mit Rosa und Alessandro die Kapelle. Rosa nahm sie nach kurzem Zögern in den Arm. Das Mädchen legte den Kopf an ihre Schulter. Der Stoff des schwarzen Kleides wurde unter Ioles Wange feucht und warm.

Alessandros Finger drückten Rosas Hand ein wenig fester.»Da drüben.«Er nickte nach links zu drei Gestalten hinüber, die weitab von allen anderen im Schatten einer Zypresse standen.»Sind die wahnsinnig geworden, hier aufzutauchen?«

Durch den Steinwald aus Grabkreuzen und Statuen sah Rosa eine kleine Frau, deren kurzes Haar kaum den Kragen ihres hellbraunen Mantels berührte. Auf ihrer Brust blitzte etwas. Rosa erinnerte sich an einen aufklappbaren Anhänger. Sie hatte die Richterin Quattrini nie ohne ihn gesehen.

Die Frau erwiderte ihren Blick über die Distanz. Ihre beiden Assistenten und Leibwächter, Antonio Festa und Stefania Moranelli, flankierten sie. Unter den offenen Lederjacken der beiden waren die Gurte ihrer Schulterhalfter zu erkennen.

»Was wollen die hier?«Feine schwarze Härchen wuchsen aus Alessandros Kragen am Hals hinauf.

»Sie beobachten nur.«Rosa hoffte, dass sie sich nicht irrte. Als sie Alessandro in die Pathologie begleitet hatte, um Fundlings Leichnam zu identifizieren, war es zu einem heftigen Streit zwischen ihm und der Richterin gekommen. Sie wisse doch genau, wie Fundling gestorben sei, hatte er Quattrini angefahren. Welchen Sinn habe es da gehabt, den Toten zu obduzieren?»Ihn zu zerfleddern wie ein gekochtes Huhn«, hatte er gesagt.

Unter dem Rand des Lakens, mit dem die Rechtsmediziner Fundling bedeckt hatten, war das obere Ende der Wunde zu sehen gewesen. Sie hatten seinen Brustkorb geöffnet und wieder zugenäht. Dabei lag doch auf der Hand, wie er gestorben war. Fundling hatte sich aus der Klinik geschleppt – wie ihm das nach fünfmonatigem Koma gelungen war, wusste niemand so genau – und war in die Felsspalte gestürzt. Dort hatten ihn ausgerechnet Polizisten gefunden.

Rosa hatte eine Weile dabei zugehört, wie Alessandro und die Richterin sich über den Toten hinweg angeschrien hatten, dann war sie wortlos gegangen. Er hatte sie auf dem Parkplatz eingeholt und war so in Rage gewesen, dass die Streiterei dort draußen weitergegangen war, ohne Quattrini. Rosa und er brüllten einander nicht an, das taten sie nie. Aber beide kannten den Tonfall des anderen gut genug, um zu wissen, wann aus einer Meinungsverschiedenheit ein ernstes Problem zu werden drohte.

Mittlerweile war die Auseinandersetzung vergessen. Aber dass Quattrini und ihre Assistenten ausgerechnet während Fundlings Trauerfeier auftauchten, schien er nicht hinnehmen zu wollen.

Als er sich anschickte, zu der Richterin hinüberzugehen, hielt Rosa ihn zurück.»Tu das nicht.«

»Ich bin der capo der Carnevares. Meine Leute erwarten von mir, dass ich mir das nicht bietenlasse.«

»Wenn du sie beeindrucken willst, setz von mir aus einen größeren Hut auf als sie. Aber lass dich nicht auf so einen Blödsinn ein.«

Iole baute sich vor den beiden auf.»Hört auf zu streiten, oder ich tue so, als ob ich in Ohnmacht falle. Vielleicht schreie ich auch ein bisschen.«Dunkle Bahnen aus verlaufener Wimperntusche trockneten auf ihren Wangen.

Rosa nahm sie in den Arm.

Alessandro wuschelte Iole mit einem leisen Seufzen durchs Haar, gab Rosa einen Kuss in den Nacken und ergriff wieder ihre Hand.»Machen wir, dass wir hier wegkommen.«Das Pantherfell zog sich wieder unter seine Kleidung zurück.

Wenig später erreichten sie das Friedhofstor. Mehrere Fahrzeuge parkten auf dem kleinen Vorplatz. Eine staubige Piste führte in Serpentinen den Hügel hinab. Aus dem Tal stieg der zarte Geruch von Lavendel auf.

Ein wenig abseits stand der Helikopter der Alcantaras; mit ihm war Iole von der Isola Luna eingeflogen worden. Auf dem öden Vulkaneiland im Tyrrhenischen Meer wohnte sie jetzt gemeinsam mit Rosa, ihrer Lehrerin Raffaela Falchi und der Juristin des Clans, Cristina di Santis. Die junge Anwältin hatte mit Elan die Arbeit des ermordeten Avvocato Trevini übernommen. Nach der Zerstörung des Palazzo Alcantara hätte Rosa aus dem gewaltigen Immobilienbesitz ihrer Familie alle möglichen Luxusvillen auswählen können, aber sie mochte die Insel. Außerdem war sie ein Geschenk von Alessandro. Er verbrachte dort viel Zeit mit ihr, sie sahen sich jetzt öfter als zuvor.

Rosa fasste Iole sanft an den Schultern.»Kommst du klar?«

Das Mädchen nickte.»Ich werde gar nicht mehr aufhören Sarcasmo zu knuddeln.«

Rosa gab ihr einen Kuss auf die Stirn.»Morgen bin ich wieder bei euch.«

Iole nickte, dann ging sie zum Hubschrauber hinüber. Der Pilot legte seine Zeitung beiseite und ließ den Motor an. Mit einem Winken verabschiedete er sich von Rosa.

Hand in Hand sahen Alessandro und sie zu, wie der Helikopter abhob und zu einem Punkt am wolkenlosen Himmel wurde. Aus dem Friedhofstor traten weitere Trauergäste. Die Richterin war noch nicht zu sehen. War sie mit ihren Assistenten durch einen Seitenausgang verschwunden?

»Ich hab Fundlings Zimmer durchsucht«, sagte Alessandro unvermittelt.

Während der Monate, die Fundling im Koma verbracht hatte, hatte Alessandro seine Sachen nicht angerührt. Fundlings Zimmer im Castello Carnevare war bis zuletzt verschlossen geblieben.

»Da war allerhand komisches Zeug. Ich hab’s dabei, in einem Karton im Kofferraum.«Sie hatten geplant, gleich nach der Beerdigung für einen Tag von der Bildfläche zu verschwinden, fort von allen Clans und Geschäften; vielleicht in ein Strandhotel im Südosten, auf einen gemeinsamen Tauchgang, ein Abendessen im Sonnenuntergang mit Meerblick und der vagen Ahnung von Afrika im Süden.

Langsam schlenderten sie hinüber zu ihren Wagen. Rosas anthrazitfarbener Maybach glänzte vor dem staubigen Hügelpanorama – den Maserati ihres Vaters rührte sie nicht mehr an, obwohl er wie alle Fahrzeuge der Alcantaras den Brand des Palazzo überstanden hatte.

Die Scheiben waren herabgelassen, weil niemand dumm genug war, das Auto eines Clanoberhaupts zu stehlen. Und falls jemand ihr mit Hilfe einer Autobombe einen vorzeitigen Abgang verschaffen wollte, würden ihn davon auch keine geschlossenen Fenster abhalten.

Ihr Blick fiel auf den Fahrersitz. Ein zerknüllter Zettel lag auf dem schwarzen Leder.

»Ist der von ihr?«Alessandros scharfes Ausatmen klang wie Raubtierfauchen.

Rosa nahm das Stück Papier aus dem Auto, schloss die Faust darum und ging hinter den Wagen, nutzte ihn als Sichtschutz vor den Menschen auf dem Vorplatz. Die meisten schienen es eilig zu haben, von hier zu verschwinden.

Sie glättete das Papier und überflog die wenigen Worte.

»Was will sie?«, fragte er, während sie den Zettel einsteckte.

»Sich mit uns treffen.«

»Kommt nicht in Frage.«

Sie schob herausfordernd das Kinn nach vorn.»Ist das ein Verbot?«

»Nur gesunder Menschenverstand.«

»Wenn sie persönlich hier auftaucht, muss es wichtig sein.«Er wollte ihr ins Wort fallen, aber sie legte einen Finger an seine Lippen.»Sie weiß etwas.«

»Deshalb ist sie Richterin. Sie weiß eine Menge über die Cosa Nostra.«

»Das meine ich nicht. Auf dem Zettel steht der Name eines Ortes und dass sie uns sprechen will. Und Arkadien. Mit einem Fragezeichen.«

Er starrte finster an ihr vorbei zum Friedhof.

»Sie hat das nicht von mir«, sagte Rosa.

»Das weiß ich.«

»Oder –«Sie verstummte und biss sich auf die Unterlippe.

»Was?«

»Der Hungrige Mann. Als ich bei ihm war, im Gefängnis … Es hieß, er wird nicht überwacht, auf Befehl von ganz oben. Aber vielleicht hat sie sich über die Anweisungen hinweggesetzt. Kann sein, dass sie mit angehört hat, worüber wir gesprochen haben.«

Alessandro rieb sich den Nasenrücken. Noch bevor er etwas erwidern konnte, fasste sie einen Entschluss:

»Ich rede mit ihr.«

»Nicht schon wieder.«

»Und du auch.«

Er schnaubte verächtlich.

»Sie weiß Bescheid«, flüsterte sie heftig.»Über uns, über die Dynastien. Willst du denn nicht hören, was sie zu sagen hat?«

Er ballte die Faust und schlug damit kurz und heftig auf das Wagendach. Leise stieß er eine eindrucksvolle Reihe von Flüchen aus.

»San Leo«, sagte sie.»Ist das ein Dorf? Sie will uns an der Kirche treffen.«

»Es gibt ein San Leo oben in den Monti Nebrodi. Das ist zwei Stunden von hier. Anderthalb, wenn wir uns beeilen.«

»Wer fährt?«

»Wer fährt schneller

Sie gab ihm einen Kuss, beugte sich noch einmal in den Wagen, zog ihren iPod aus der Halterung und schlängelte sich zurück ins Freie.

»Dein Wagen«, sagte sie.»Aber meine Musik.«

 

Die Halle der Heiligen

Sie hatten das Städtchen Cesarò lange hinter sich gelassen und folgten der kurvigen Straße höher hinauf in die Nebrodi-Berge, als Rosa sich wieder an Fundlings Sachen im Kofferraum erinnerte.

Keep The Streets Empty For Me von Fever Ray wummerte durch das Innere des schwarzen Porsche Cayenne. Die Bässe hätten gar nicht so tief sein müssen, um das sanfte Motorsurren zu übertönen.

I’m laying down, eating snow

My fur is hot, my tongue is cold.

Rosa regulierte die Lautstärke.»Was genau ist in dem Karton?«

Alessandro sah in den Rückspiegel, länger, als auf dieser einsamen Gebirgsstraße nötig gewesen wäre. Keiner war hinter ihnen.

»In all den Jahren hab ich Fundling nicht öfter als ein- oder zweimal mit einem Buch in der Hand gesehen«, sagte er.»Ich dachte immer, er liest nicht gern. Er hat viel an Autos rumgeschraubt, Dinge repariert … praktische Sachen eben. Ich hab geglaubt, jemand wie er interessiert sich nicht für Bücher.«

»Und jetzt hast du eine Bibliothek in seinem Zimmer gefunden?«

Er schüttelte den Kopf.»Da war eine Handvoll Bücher, aber das ist es nicht. Fundling hat Stapel von Katalogen gesammelt. Buchkataloge. Verzeichnisse von Antiquariaten in ganz Italien. Nicht diese Hochglanzprospekte von irgendwelchen Versandhändlern, sondern fotokopierte Preislisten, sogar ein paar handgeschriebene. Er muss Dutzende kleiner Geschäfte angeschrieben haben, damit sie ihm ihre Inventarlisten schicken.«

»Also hat er irgendwas gesucht. Ein ganz bestimmtes Buch. Oder mehrere.«

»Sieht so aus.«

»Weißt du, welches?«

»Keine Ahnung. Ich hab das meiste von seinem Kram zusammengepackt und mitgebracht. Ich dachte, wir könnten die Sachen in Ruhe zusammen durchgehen. Beim Durchblättern hab ich gesehen, dass er zig Titel angekreuzt hat, manche mehrfach eingekringelt. Vielleicht steckt irgendein System dahinter und wir finden raus, um welche Bücher es ihm besonders ging.«

»Keine Autobildbände oder so ’n Zeug?«

»Überhaupt nicht. Die paar Bücher, die rumlagen, hab ich mit eingepackt. Das sind Sachbücher über antike Katastrophen, der Untergang von Pompeji, das Ende von Sodom und Gomorrha.«

Ihre Blicke kreuzten sich, bevor er in der nächsten Haarnadelkurve wieder nach vorn schauen musste.»Atlantis?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln.»Ja, auch.«

»Du hast mir mal erzählt, dass Atlantis ein anderer Name für Arkadien war.«

»Ich hab gesagt, dass manche Leute das glauben. Beweise gibt es dafür nicht. Atlantis kann alles Mögliche gewesen sein. Keiner weiß wirklich was darüber. Und selbst wenn Arkadien und Atlantis ein und derselbe Ort waren, welche Rolle würde das heute noch spielen? Und warum sollte sich ausgerechnet jemand wie Fundling dafür interessieren? Er war nicht mal Arkadier.«

Sie war Fundling nur wenige Male begegnet. Sonderbar war er gewesen und sie hätte nicht zu sagen vermocht, warum sie ihn trotzdem anziehend fand. Er hatte nicht schlecht ausgesehen, auf eine dunkle, fast ein wenig orientalische Art; aber das war auf Sizilien mit seinen vielen nordafrikanischen Einwanderern nicht ungewöhnlich. Die Ursache für Fundlings besondere Ausstrahlung war es ganz sicher nicht gewesen.

Die Straße verlief entlang steiler Hänge, an deren Felsen sich Kastanienbäume und knorrige Steineichen klammerten. In den Tälern unter ihnen wuchsen Wälder aus Ahorn und Buchen. Immer wieder bogen trazzere, staubige Viehwege, von der befestigten Landstraße ab und verschwanden in Schluchten oder führten in Serpentinen zu abgelegenen Gehöften. Keine schöne Vorstellung, dort nach einem Unfall um Hilfe bitten zu müssen. Zu viele schlechte Filme.

»Du brauchst nicht so schnell zu fahren«, sagte sie, als er wieder einmal eine der engen Kurven schnitt.»Wir können sie ruhig warten lassen, falls sie vor uns dort sind.«

»Ich will das hinter mich bringen. Und dann nie wieder etwas mit Quattrini zu tun haben. Wenn eine der anderen Familien erfährt, dass wir uns mit ihr getroffen haben, sind wir tot.«

Natürlich, die omertà. Das Gesetz des Schweigens. Rosa konzentrierte sich auf einen willkürlichen Punkt in der Gebirgslandschaft.»Was soll’s. Sie wären nicht die Ersten, die es darauf anlegen.«

Er verlangsamte das Tempo auf einer kurzen Geraden. Rechts von ihnen fiel der Hang steil ab. Eine Leitplanke gab es nicht, nur kniehohe Steinblöcke im Abstand von einigen Metern. Weiter unten entdeckte Rosa eine illegale Müllkippe, eine von Tausenden auf ganz Sizilien. Wahrscheinlich entsorgten dort die Bergbauern ihre Abfälle, wenn wieder einmal keine Müllabfuhr in dieser Einöde auftauchte.

Alessandro brachte den Wagen zum Stehen und wandte sich zu ihr.»Wir bringen das hier gemeinsam zu Ende, okay? Quattrini kann mir gestohlen bleiben, aber wenn du glaubst, dass du mit ihr sprechen musst, dann bin ich bei dir.«

Sie lächelte.»Um mich davon abzuhalten, Dummheiten zu begehen?«

»Wenn du etwas tust, das andere für dumm halten, dann hast du wahrscheinlich einen guten Grund dafür.«Er beugte sich zu ihr herüber und küsste sie. Ihre Hand wanderte zu seinem Hinterkopf, grub sich in sein Haar. Sie spürte die Schlangenkälte in sich aufsteigen und bekam sie unter Kontrolle. Mittlerweile hatte sie die Metamorphosen gut im Griff. Keine ungewollten Verwandlungen mehr. Meistens jedenfalls.

Schließlich legte er wieder beide Hände ans Steuer und trat aufs Gas. Gleitend und nahezu lautlos setzte sich der Wagen in Bewegung.

Sie drückte einen Knopf an der Musikanlage. Das Lied begann von neuem. Adler kreisten um die Gipfel der Monti Nebrodi, auf der Jagd nach Futter für ihre Brut.

On a bed of spider web

I think of how to change myself.

Der Porsche Cayenne bog um eine weitere Kurve. Rosa schloss die Augen.

»Da drüben«, sagte Alessandro.»Das ist es.«

Beim Anblick dieser sattgrünen Berge vergaß sie beinahe die ockerfarbene Ödnis der Carnevare-Ländereien. Es war, als wollte Sizilien an diesem Ort beweisen, dass es so fruchtbar und üppig sein konnte wie jede andere Gegend Europas.

San Leo schmiegte sich an die zerklüfteten Felsen eines beeindruckenden Bergmassivs. Die Rückseiten der äußeren Häuser gingen in eine Steilwand über und verliehen der Ortschaft die Anmutung einer mittelalterlichen Burg.

Von einem gepflasterten Platz mit Steinbrunnen lenkte Alessandro den Cayenne in eine Gasse zwischen hohen Hauswänden. Kaum ein Mensch war zu sehen. An einigen Türen wehten Vorhänge aus bunten Plastikschnüren im Luftzug des vorüberfahrenden Wagens. Selbst die Holzbank vor der einzigen Bar des Ortes war leer; eigentlich hätten hier die alten Männer des Dorfes versammelt sein müssen.

Sie durchquerten das schattige Häusergewirr und verließen San Leo wieder. Nach ein paar Hundert Metern entdeckten sie die Kirche, die sich abseits der Ortschaft zwischen schroffen Felsen erhob. Die Zufahrt war gut ausgebaut. Dahinter gab es eine zweite, breitere Straße, die den nächsten Berghang hinabführte.

Auf dem Vorplatz war eine Tafel befestigt mit Informationen zur Heilwasserquelle, der die Kirche ihren Standort verdankte. Hinter dem Gotteshaus erhob sich eine Art Lagerhalle mit Rolltor.

Vor der Kirche parkte ein schwarzer BMW mit getönten Scheiben, eines der Dienstfahrzeuge der Richterin. Stefania Moranelli lehnte mit verschränkten Armen an der Karosserie und blickte ihnen entgegen. Sie war eine schmale junge Frau, sicher noch keine dreißig. Das lange schwarze Haar hatte sie an manchen Tagen zum Pferdeschwanz gebunden, heute aber floss es offen über ihre abgewetzte Lederjacke. Sie war auf herbe Weise attraktiv, mit ausgeprägten Wangenknochen und drahtigem Körperbau.

Die Richterin selbst und ihr zweiter Begleiter waren nirgends zu sehen.

»Deine Freundin hält sich jedenfalls an kein Tempolimit«, maulte Alessandro, als fühle er sich in seiner Ehre gekränkt, weil Quattrinis Leute ihn abgehängt hatten.

»Wenn sie sich auf Gesetze beruft, passt es dir nicht«, entgegnete Rosa lächelnd,»aber wenn sie sie bricht, ist es dir auch nicht recht.«Sie streichelte seine Hand und stieg aus. Er folgte ihr, schien es aber kurz darauf zu bereuen, als Stefania Moranelli ihre Waffe zog.

»Die Hände auf das Wagendach«, forderte sie.

»Na, toll«, sagte er, folgte aber der Aufforderung und verbrannte sich prompt die Handflächen an dem sonnenerhitzten Metall.

Rosa war ziemlich sicher, dass der Befehl nicht ihr galt, aber damit Alessandro sich nicht noch schlechter fühlte, streckte auch sie die Arme nach vorn und hielt die Hände über das Dach des Wagens. Die Leibwächterin klopfte Alessandro ab, bemerkte dann den Blick, den Rosa ihr zuwarf, und verstand. Sie kam herüber und unterzog auch Rosa einer flüchtigen Durchsuchung.

»Okay«, sagte sie schließlich.

»Danke«, flüsterte Rosa ihr mit halb abgewandtem Kopf zu, so dass Alessandro nicht sehen konnte, wie sich ihre Lippen bewegten.

Über Stefanias Gesicht huschte ein Lächeln. Sie deutete über den Vorplatz.»Die Richterin erwartet euch an der Quelle hinter der Kirche.«

Alessandro blickte düster zu den Gebäuden hinüber.»Warum ausgerechnet hier?«

»Sie kommt her, um zu beten. Einmal die Woche.«

»Um zu –«Er brach mit einem Kopfschütteln ab. Als er Rosa ansah, zuckte sie die Achseln. Sie hatte nicht gewusst, dass Quattrini so gläubig war. Ging sie ja auch nichts an, fand sie.

Stefania blieb bei den Fahrzeugen, während Rosa und Alessandro den stillen Vorplatz überquerten. Von den Felsen hinter der Kirche stieg mit einem empörten Kreischen ein Adler auf. Die Bergwinde heulten in Spalten und Klüften.

An der Rückseite der Kirche nahm Antonio Festa sie in Empfang. Er hatte das Haar millimeterkurz rasiert. Eine Narbe begann unterhalb seines linken Auges und setzte sich auf Höhe der Braue fort. Seine rechte Hand ruhte unter seiner Jacke am Schulterhalfter. Rosa grüßte ihn knapp, Alessandro schwieg. Der eisige Blick zwischen ihm und dem Leibwächter klärte die Fronten.

Hinter der Kirche befand sich ein zweiter Platz. Rechts wurde er durch die Mauer der Lagerhalle begrenzt, links durch das Gotteshaus; seine Stirnseite endete an einer Felswand. Aus einem Steinbecken in Brusthöhe plätscherte Bergquellwasser in ein größeres Becken am Boden. Davor kniete die Richterin, hatte die Hände gefaltet und den Blick gesenkt. Sie sprach ihr Gebet zu Ende, erhob sich und kam herüber. Alessandro reagierte kühl, aber höflich auf die Begrüßung. Rosa hoffte, dass es ihnen gelang, dieses Treffen zivilisiert über die Bühne zu bringen.

Quattrini wies ihren Leibwächter an, draußen zu warten, dann führte sie Rosa und Alessandro durch einen Seiteneingang ins Innere der Lagerhalle. Festa sah nicht glücklich darüber aus, dass seine Schutzbefohlene mit den beiden allein sein wollte. Aber er fügte sich ihrem Befehl, zog demonstrativ die Waffe und ging hinaus, um die Zufahrtswege im Auge zu behalten.

In der Halle roch es nach Sägespänen und Farbe. Unter Bahnen aus klarer Plastikfolie standen riesige Heiligenfiguren aus Holz und Pappmaché, aufgereiht wie eine schweigende Kompanie. Die meisten waren auf sänftenähnlichen Konstruktionen errichtet worden, manche bis zu drei Meter hoch, mit zum Himmel gewandtem Leidensblick und gefalteten Händen. Schon vom Eingang aus sah Rosa den gekreuzigten Heiland in mehrfacher Ausführung und vier Muttergottesfiguren, mal mit, mal ohne Kind; die meisten anderen erkannte sie nicht, vermutlich lokale Heilige, die die tiefgläubigen Menschen Siziliens während ihrer alljährlichen Mysterienprozessionen durch die Straßen trugen. Rosa hatte noch keinen dieser Festtage miterlebt, kannte sie nur aus Berichten im Fernsehen und aus Erzählungen. Tausende Menschen schoben sich dann im Gefolge der Statuen durch die geschmückten Gassen der Städte und Dörfer.

»Ziemlich eindrucksvoll, nicht wahr?«Quattrini führte die beiden tiefer in die Halle der Heiligen.»Hier werden die Prozessionsfiguren aller umliegenden Ortschaften aufbewahrt.«

»Warum in San Leo?«, fragte Rosa.

»Wegen der Quelle. Ihrem Wasser wird seit Jahrhunderten eine heilende Wirkung nachgesagt. Vor Jahren war der Papst persönlich in San Leo und hat den Ort und seine Kirche geweiht. Seitdem reißen sich alle Nachbargemeinden darum, ihre Figuren hier lagern zu dürfen. Dafür nehmen sie sogar die langen Transportwege durch die Berge in Kauf. Für den Ort ist das eine gute Einnahmemöglichkeit.«

»Hilft es denn?«, wollte Alessandro wissen.

»Was?«

»Das Wasser. Deswegen kommen Sie doch her. Sagen Sie nicht, Sie hätten es nicht schon ausprobiert.«

Falls sein Tonfall Quattrini ärgerte, ließ sie sich nichts anmerken.»Ein paar Tropfen Wasser allein sind nicht genug, um eine Seele vor dem Fegefeuer zu bewahren. Nicht meine, nicht deine.«Ihre Hand berührte den Anhänger auf ihrer Brust.

»Warum sind wir nun hier?«Rosa hatte keine Lust auf einen weiteren Streit der beiden. Die Szene im Leichenschauhaus war ihr lebhaft genug in Erinnerung.»Sie haben mein Gespräch im Gefängnis abgehört, oder? Falls der Hungrige Mann –«


Дата добавления: 2015-11-04; просмотров: 26 | Нарушение авторских прав







mybiblioteka.su - 2015-2024 год. (0.034 сек.)







<== предыдущая лекция | следующая лекция ==>