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»Nicht viel. Jemand hat mir mal davon erzählt. Von Stellen in großen Menschenmengen, die immer leer bleiben und sich durch die Massen bewegen wie etwas, das lebt. ›Wer geht in den Löchern in der Menge?‹, hat er mich gefragt. Das war alles.«

»Hatte er Moris Buch gelesen?«

»Könnte sein.«

»Bei Katastrophen dieser Größenordnung kommt es in der Regel zu Massenpaniken, zu gewaltigen Menschenbewegungen, die sich durch die Straßen der brennenden oder überfluteten Städte wälzen. Und dabei werden – jedenfalls laut Leonardo Mori – die Löcher in der Menge am deutlichsten sichtbar. ›Wer geht in den Löchern in der Menge?‹ ist ein Zitat aus seinem Buch. Mori stellt diese Frage gleich mehrfach, doch am Ende findet auch er keine befriedigende Antwort.«

»Hatte er eine Theorie?«

»Mori war kein Wissenschaftler. Letztlich war er nichts als ein sensationslüsterner Schmierfink, aber einer mit einem gewissen Talent in der Auswahl seiner Themen und mit großer Beharrlichkeit. Das Mysterium der Löcher hat ihn nie losgelassen. Er war überzeugt, dass sie keine zufälligen Erscheinungen waren, sondern lebendige Wesenheiten – so hat er sie genannt. Unsichtbare Mächte, keine harmlosen Beobachter, sondern die Verursacher all jener Katastrophen.«

Ihr fiel etwas ein, das sie als Kind im Religionsunterricht aufgeschnappt hatte.»Wie die Engel, die Gott ausgesandt hat, um Sodom und Gomorrha zu zerstören?«

»Mori war kein Christ. Soweit ich weiß, hat er nicht an Gott geglaubt. Nicht an den einen Gott. Und schon gar nicht an seine Engel.«

»Sondern?«

»Wer weiß das schon? Die Götzen der Antike vielleicht. Zeus und all die anderen auf dem griechischen Olymp. Jupiter und die Gottheiten der Römer. Letztlich sind die Mythen alle ähnlich, immer geht es um Wesen, die größer sind als wir, älter und mächtiger und ohne Gnade.«

Sie rückte sich unbehaglich auf dem Stuhl zurecht.»Mori hat wirklich geglaubt, diese unsichtbaren Wesen hätten all die Erdbeben und Vulkanausbrüche ausgelöst? Dass sie dafür verantwortlich waren?«

Der alte Mann nickte.»Und die Menschenmassen haben sie in gewisser Weise sichtbar gemacht, indem sie um sie herumgeflossen sind. So, wie sie es auch bis in die Neuzeit noch tun. Er hat Augenzeugenberichte von 1908 gefunden, die sich fast wörtlich mit anderen decken, die zwei- oder dreitausend Jahre alt sind.«Die schmalen Lippen des Antiquars wirkten jetzt blutleer.»Fest steht jedenfalls, dass Mori tot ist. Auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Und dass er zum Zeitpunkt seines Todes an einem zweiten Buch gearbeitet hat, das der nächste Schritt in seiner Beweisführung werden sollte. Ich weiß nicht, was genau es war, aber es ging wohl um etwas, das er in Die Löcher in der Menge nur angerissen hat. In seinem neuen Buch wollte er diesen Aspekt detaillierter ausführen. Er hat behauptet, dass er auf Verbindungen gestoßen sei, die bis in die Gegenwart reichen. Zu Menschen, die heute leben, mitten unter uns, und die tief in diese Geschichte verstrickt sind.«Der Blick des Antiquars wurde stechend.»Irgendetwas hatte er ausgegraben. Etwas so Aufsehenerregendes, dass jemand überzeugt war, Leonardo Mori müsse ein für alle Mal zum Schweigen gebracht werden.«

 

 

Einbruch

Ihr war schwindelig, als sie wieder ins Freie trat, in einer Hand das Katalogheft, das der alte Mann ihr gegeben hatte, in der anderen Alizas Handy. Sie musste so schnell wie möglich Alessandro anrufen.

Sie eilte zurück zu dem Brunnen, an dem sie schon auf dem Hinweg vorbeigekommen war, setzte sich auf die Stufen und wählte aus Alizas Nummernliste das Handy ihrer toten Schwester Saffira aus. Alessandro nahm nach dem ersten Klingeln ab.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Sicher.«Seine Sorge ließ sie lächeln.»Ich war nur in einem Buchladen. «

»Während halb Sizilien nach dir sucht.«

Der kleine Platz, an dessen Rand der Steinbrunnen stand, war bis auf Rosa menschenleer. Dennoch rückte sie auf der kreisförmigen Stufe um den Brunnen, bis sie an der Rückseite saß. Durch ihre Sonnenbrille blickte sie auf eine fensterlose Hauswand. Im Flüsterton erzählte sie ihm alles, was sie von dem Antiquar erfahren hatte.



»Lass uns mal spekulieren«, sagte er, nachdem sie fertig war.»Mori hat also dieses Buch über die Löcher in der Menge geschrieben. Aus irgendeinem Grund gerät es im Gefängnis in die Hände des Hungrigen Mannes, der beschließt, Mori müsse der Richtige sein, um für ihn mehr über die Geschichte der Arkadischen Dynastien herauszufinden. Der Hungrige Mann behauptet, er sei die Wiedergeburt des arkadischen Königs Lykaon, aber wir wissen beide, dass das Unfug ist. Er ist nichts als ein größenwahnsinniger capo, der die Mythen der Arkadier ausnutzt, um wieder an die Macht zu kommen. Richtig?«

»Dass Mori für ihn gearbeitet hat, ist aber nur eine Vermutung.«

»Ganz sicher hat Mori seine Nase zu tief in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen. Er war kein Politik- oder Wirtschaftsjournalist, darum kann ich mir nicht vorstellen, dass er über irgendwelche Geschäfte der Cosa Nostra gestolpert ist. Es muss mehr dahinterstecken, sonst hätte mein Vater ihm ein paar menschliche Killer auf den Hals gehetzt und nicht die Malandras. Dass Mori von Harpyien umgebracht worden ist, kann eigentlich nur eine Warnung gewesen sein – eine Warnung meines Vaters an die anderen Arkadier, an den Hungrigen Mann oder sonst wen. Jemand muss mit Mori über die Dynastien geredet haben. Was er in irgendwelchen alten Büchern gefunden hat, kann nicht genug gewesen sein, um ihn gleich ermorden zu lassen.«

»Noch mehr Spekulationen«, wandte Rosa ein.

»Mein Vater bekommt Wind von Moris Nachforschungen und beschließt, seinem Treiben ein Ende zu machen. Vielleicht um dem Hungrigen Mann zu schaden, falls Mori für ihn gearbeitet hat, vielleicht auch nur, um das Geheimnis der Dynastien zu wahren. Die Harpyien töten Mori und seine Frau und schaffen Fundling zu meinen Eltern. Später beginnt Fundling, sich für seine Herkunft zu interessieren, erfährt, dass das Hotel in Agrigent nie abgebrannt ist, und stößt dabei auf die Geschichte vom verschollenen Kind der Moris. Heimlich sammelt er immer mehr Informationen, erst nur über die beiden, danach auch über die Themen, die Mori beschäftigt haben. Nachdem Fundling aus dem Koma erwacht und die Richterin ihn in Sicherheit gebracht hat, bittet er darum, dass sie ihn in genau diesem Hotel einquartiert, wo er«– Alessandro stockte –,»na ja, was auch immer macht.«

»Was auch immer.«Rosa stöhnte und ließ sich mit dem Rücken gegen die Einfassung des Brunnens sinken.»Wenn wir genauer wissen wollen, was passiert ist, müssen wir einen Blick in Moris Buch werfen. Vielleicht bringt uns das weiter.«

»Oder aber Mori hat sich die wirklich interessanten Dinge für das zweite Buch aufgehoben, das, an dem er gearbeitet hat, als er umgebracht wurde.«

»Wir werden ja sehen.«

Alessandro schwieg einen Moment.»Du willst noch mal in den Laden und das Buch stehlen?«

»Fällt dir was Besseres ein?«

Seine Antwort ging in verrauschtem Getöse unter.

»Was ist da los bei dir?«, fragte sie alarmiert.

»Aliza. Sie randaliert hinten im Transporter. Das macht sie schon, seit du weg bist.«

»Kann jemand sie hören?«

»Hier ist weit und breit keiner. Sie wechselt laufend die Gestalt – gesund kann das nicht sein. Aber sie hat Ausdauer, das muss man ihr lassen. Wenn du zurück bist, müssen wir sie loswerden, ob dir das gefällt oder nicht. Sie macht uns nichts als Ärger.«

Diese Diskussion wollte sie nicht schon wieder mit ihm führen, schon gar nicht am Telefon, darum wechselte sie das Thema und sagte, dass sie bis zum Abend in Ibla bleiben würde. Sobald der alte Mann seinen Laden verließ, wollte sie versuchen, das Buch herauszuholen. Der Weg zurück zum Transporter würde fast eine Stunde dauern, und es lohne nicht, erst dorthin und später wieder in die Stadt zu laufen. Insgeheim aber fürchtete sie vor allem, dass Alessandro sie umstimmen könnte.

»Mir gefällt das nicht«, sagte er.»Ich wäre lieber bei dir.«

»Einer von uns muss bei Aliza bleiben. Und die Chancen, in den Laden reinzukommen, sind als Schlange viel besser als für einen Panther.«

»Versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst.«

»Und du auf dich. Aliza ist immer noch gefährlich.«

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, wog Rosa das Telefon unschlüssig in der Hand, dann schob sie es in ihre Hosentasche. Noch ein paar Stunden, bis es dunkel wurde. Sie musste sich irgendwohin zurückziehen, wo niemand sie erkennen konnte.

Sie wandte den Blick zum Himmel über der Altstadt. Nirgends Vögel, keine Eulen. Falls Aliza die Wahrheit gesagt hatte und die anderen Malandras nach ihnen suchten, waren sie ihnen zumindest noch nicht nach Ragusa gefolgt.

Mit gesenktem Blick streifte sie durch die Straßen und fand schließlich einen Park. Zwischen einigen Büschen legte sie ihre Kleidung ab, wurde zur Schlange und rollte sich hinter einem Stein zusammen.

Sie schlief, bis der Abend dämmerte.

Der alte Mann schloss die Ladentür ab und zog ein Gitter vor. Mit schlurfenden Schritten entfernte er sich bergab, in einer Hand eine lederne Aktentasche, in der anderen einen Stoffbeutel voller Bücher. Rosa – jetzt wieder Mensch, mit zerwühltem blonden Haar und zerknitterter Bluse – wartete ab, bis er hinter der nächsten Biegung verschwunden war. Dann näherte sie sich dem Eckhaus, in dem sich der Laden befand.

Nach einem letzten prüfenden Blick die Straße hinunter bog sie in die enge Gasse neben dem Laden. Die Fenster im Erdgeschoss des Gebäudes waren vergittert und die des hinteren Zimmers mit den kostbaren Sammlerausgaben lagen so hoch über dem Boden, dass sie nicht mal einen Blick hineinwerfen konnte.

Nach zwanzig Metern stieß sie auf eine Holztür, die wohl auf einen Hinterhof führte. Sie war von innen mit einer Kette und einem Vorhängeschloss gesichert. Darüberklettern konnte sie nicht, weil die Mauer zu hoch war. Unter der Tür aber gab es einen Spalt, vermutlich für die Katze der Nachbarin.

Vorsichtig schaute sie in alle Richtungen, entdeckte niemanden in der Gasse und verwandelte sich. Aus dem zusammengesunkenen Kleiderhaufen schlängelte sie sich durch den Spalt.

Der Hof war winzig, gerade groß genug für ein altes Fahrrad und einen zusammenklappbaren Wäscheständer. Hoch über ihr waren Leinen gespannt, auf denen tropfende Laken hingen. Es gab zwei Hintertüren. Eine war vergittert und führte in den Laden, die andere ins Nachbarhaus. Dort brannte Licht hinter einem Fenster im ersten Stock. Der Himmel war noch nicht pechschwarz, aber die letzte Helligkeit reichte kaum bis in diesen ummauerten Winkel der Altstadt. Von irgendwoher drang verzerrte Musik aus einem Radio.

Rosa schob ihren Schlangenschädel zurück durch den Spalt und zerrte mit dem Maul ihre Kleidung von der Gasse auf den Hof. Sie hoffte inständig, dass nicht gerade jetzt die Nachbarin aus dem Fenster schaute und die bernsteinfarbene Riesenschlange unter ihrer Wäsche entdeckte.

Eine kurze Untersuchung zeigte ihr, dass die Hintertür des Ladens mehrfach gesichert war. Blieb nur das kleine Fenster, gleichfalls vergittert und gut zwei Meter über dem Boden.

Langsam ringelte sie sich an einer der Eisenstangen vor der Tür aufwärts. Oben angekommen stieß sie den Schädel schräg zum Fenster hinüber und zog von dort mit aller Kraft den Rest ihres Reptilienleibes nach. Schließlich lag sie eng verschlungen auf dem Fenstersims zwischen Scheibe und Gitterstäben. In der Hoffnung, dass das Radio den Lärm übertönte, presste sie ihren Schuppenleib, so fest sie nur konnte, gegen das Glas. Es zersprang und fiel mit klirrendem Getöse ins Innere.

Eine Weile hielt Rosa still und erwartete, dass eine Alarmanlage losjaulen oder die aufgebrachte Nachbarin erscheinen würde. Erst als es ruhig blieb, glitt sie durch das zerbrochene Fenster ins Innere, erreichte den Boden, lauschte noch einmal auf verdächtige Laute und wurde zum Menschen.

Nackt stand sie im düsteren Hinterzimmer. Durch die kleinen Fenster zur Gasse fiel schwacher Dämmerschein, gerade genug, um das Rund der Lesepulte auszumachen. Bei jedem Schritt befürchtete sie, irgendeine Lichtschranke zu passieren oder verborgene Sensoren im Boden zu berühren.

Sie fand das Buch und knipste die kleine Lampe über dem Pult an. Nach einem letzten Blick auf die Gittertür zum Korridor schlug sie Die Löcher in der Menge auf.

Es war ein gebundenes Buch, gedruckt auf hochwertigem Papier und, soweit sie das beurteilen konnte, ohne jeden Makel. Zaghaft beugte sie sich vor und atmete ein. Es roch neu, so als wäre es nie zuvor aufgeschlagen worden.

Auf der ersten Seite standen Moris Name, der Buchtitel und das Erscheinungsjahr. Außerdem war ganz unten mit einem kleinen Schriftzug der Verlag vermerkt, Hera Edizioni, RG. Die beiden Großbuchstaben standen für Ragusa. Natürlich: Hybla Hera, die Stadt der Sikuler. Hera Edizioni.

Auf der nächsten Seite fand sie im Impressum die Verlagsadresse.

Es war diese hier. Das Haus, in dem sie sich befand.

Und da begriff sie, dass sie vor einigen Stunden mit dem Verleger selbst gesprochen hatte. Der alte Mann hatte Leonardo Mori persönlich gekannt.

Ihre Fingerspitzen zitterten ein wenig, als sie das Inhaltsverzeichnis aufschlug. Jedes Kapitel behandelte eine historische Katastrophe, die Überschrift verwies auf den jeweiligen Ort. Wahllos las sie einige der Namen. Sodom und Gomorrha. Alexandria. Karthago. Santorin. Sizilien.

Und irgendwo dazwischen – Arkadien.

Sie blätterte weiter, überflog ein paar Sätze des Vorworts. Nicht halb so reißerisch, wie sie erwartet hatte. Dann den Anfang des Sizilien-Kapitels. Anscheinend ging es darin sowohl um Ausbrüche des Ätna wie auch um das Beben von Messina.

Das Kapitel über Arkadien begann mit den Worten:

Arkadien mag in seiner wechselvollen Geschichte vieles gewesen sein, aber eines ganz sicher nicht: das Paradies auf Erden, zu dem es die Mythen späterer Generationen –

Ein Geräusch, vorne im Laden.

Rosa machte die Lampe am Lesepult aus und klappte das Buch zu, ließ aber den Finger zwischen den Seiten stecken.

Unter der Holztür am Ende des Korridors erglühte eine waagerechte Linie. Im Zimmer dahinter war das Licht eingeschaltet worden. Schlurfende Schritte. Der alte Mann war noch einmal zurückgekehrt.

Sie hörte ihn im vorderen Raum rumoren, während sie auf Zehenspitzen zurück zum Fenster schlich. Das Buch durch die zerbrochene Scheibe nach draußen zu werfen hätte ein Geräusch verursacht. Sie wollte kein Risiko mehr eingehen. Kurzerhand legte sie es aufgeschlagen auf den Boden und riss die Seiten des Arkadien-Kapitels heraus.

Die Schritte im Vorzimmer kamen näher.

Sie ließ den dünnen Papierstapel liegen und versuchte, ein Lesepult anzuheben, um es unter das Fenster zu wuchten. Es war verflucht schwer – und knarrte, als sie es wieder absetzte.

Der alte Mann im Vorzimmer blieb stehen.

Rosa wurde zur Schlange.

Die Verbindungstür flog auf. Licht flutete den Korridor hinab durchs Gitter.

Mit dem Maul schnappte sie sich das Arkadien-Kapitel, glitt am Lesepult nach oben, stieß sich ab und schnellte das letzte Stück bis zum Fenster empor. Es gelang ihr, den Kopf mit dem zerknitterten Papier durch die Eisenstäbe zu schieben. Hastig zog sie den Rest ihres Körpers hinterher.

Der alte Mann rief etwas. Seine Schritte erreichten die Tür. Schlüssel klirrten.

Rosa schob sich ins Freie und fürchtete, im Fenstergitter stecken zu bleiben, halb im Raum, halb draußen. Aber dann zog das Gewicht ihrer vorderen Körperhälfte die hintere mit sich und sie fiel in die Tiefe.

Sie hörte, wie der Mann die Tür aufstieß und ins Zimmer stürzte. Er musste sie noch gesehen haben, vielleicht sogar den Papierstapel in ihrem Schlangenmaul.

Sie kam am Boden auf, zischte, als ihr ganzes Körpergewicht ihren Schädel begrub, glitt unter den eigenen Schlingen hervor und schlängelte sich zur Hoftür. Ihre Kleider lagen noch davor. Hektisch versuchte sie, die Sachen mit dem Kopf durch den Spalt unter der Tür zu schieben, ohne dabei die Buchseiten zu verlieren.

Der Antiquar machte sich an der Außentür zu schaffen, ein Sicherheitsschloss nach dem anderen schnappte auf.

Rosa ließ die Kleidungsstücke zurück, stieß durch den Spalt auf die Gasse und jagte über das Pflaster davon, das Arkadien-Kapitel zwischen den Zähnen. In blitzschnellen Wellen wand sie sich am Fuß der Hausmauer entlang, fort von der Hoftür, fort von dem alten Mann, der als Silhouette im offenen Durchgang stand und reglos hinter ihr her in die Finsternis blickte.

 

Arkadisches Erbe

Als Rosa den Transporter erreichte, war Aliza tot.

»Was ist passiert?«

Alessandro hob abwehrend beide Hände.»Sie wollte abhauen.«

Er trug frische Kleidung, die zweite Garnitur, die sie bei dem Straßenhändler in Gela gekauft hatten. Sein Haar war nass, er musste sich so gut es ging mit Wasser aus einer der Plastikflaschen gewaschen haben.

»Und das hat dir gut in den Kram gepasst, oder?«Rosa war außer Atem, hatte nichts an und war gerade erst durch dorniges Buschwerk auf die kleine Lichtung im Berghang gestolpert. Den größten Teil des Weges hatte sie als Schlange zurückgelegt und vorher keine Ahnung gehabt, wie kräftezehrend das sein würde. Im Augenblick wünschte sie sich, alles Mögliche zu sein – Panthera, Harpyie, Hunding –, nur keine verdammte Lamia. Ohne Beine.

Alessandros Nerven lagen so blank wie ihre.»Scheiße, sie ist auf mich losgegangen!«

»Sie war eingesperrt. In einem Stahlkasten. Wie –«Sie verstummte, atmete tief durch und musterte ihn.»Ist dir was passiert? Bist du verletzt?«

Kopfschüttelnd winkte er ab.»Erst ist sie hinten im Wagen völlig durchgedreht und hat irgendwelche Vogelschreie ausgestoßen, die wahrscheinlich bis nach Ragusa zu hören waren. Dann ist sie plötzlich totenstill geworden. Ich hab versucht, von vorne durch den Schieber reinzuschauen, aber es war zu dunkel. Sie hat die Innenbeleuchtung demoliert. Was hätte ich denn tun sollen? Also bin ich nach hinten und hab die Tür einen Spalt geöffnet. Da hat sie mich angegriffen.«

»Du wolltest sie schon die ganze Zeit über loswerden. Und du hast genau gewusst, dass ich so schnell nicht wieder hier sein würde. Ganz toll, wirklich.«Wütend machte sie einen Schritt auf ihn zu.»Ich hab dir gesagt, dass ich bei so was nicht mitmache.«

Als er widersprechen wollte, winkte sie ab. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, die Hecktüren zu öffnen und sich den Leichnam anzusehen, erinnerte sich dann aber, dass sie noch immer splitternackt war, und ging nach vorn. Sie schleuderte die Seiten aus Moris Buch auf den Sitz und wühlte in der Reisetasche der toten Schwestern. Wenig später schlüpfte sie in ein schwarzes Stretchkleid und in Turnschuhe, die ihr mindestens eine Nummer zu groß waren. Dann leerte sie die Tasche aus, warf die arg lädierten Buchseiten hinein, dazu das Portemonnaie der Malandras, das restliche Serum und den Injektor.

Sie hörte Alessandro hinten am Transporter hantieren und ging mit der Tasche in der Hand zurück zu ihm. Die eine Seite der Hecktüren stand offen. Sie konnte nicht anders, als doch noch einen Blick hineinzuwerfen.

Panther waren beim Töten nicht zimperlich. Sie hatte schon früher mit angesehen, wie Alessandro Gegner bezwungen hatte, und es war nie ein schöner Anblick gewesen. Was aber hier im Wagen geschehen war, ließ sie zwei Schritte zurückprallen. Die Tasche fiel neben ihr ins Gras.

Alessandro war in den Laderaum gestiegen und schien nach etwas zu suchen. Die einzige Lichtquelle war ein Feuerzeug, das er im Handschuhfach gefunden hatte. Der Schein der kleinen Flamme flackerte im Abendwind aus dem Tal und erzeugte mehr Schatten als Licht.

»Was ist passiert?«

»Wonach sieht’s denn aus?«, gab er gereizt zurück.

Im Wagen stank es nach Blut, Gefieder und Schlimmerem, eine Mischung aus Schlachterei und verwahrlostem Hühnerstall.

»Sie wollte nicht aufgeben«, sagte er.»Sie war ziemlich … sauer.«

» Das hast du mit deinen Zähnen gemacht? Fuck, Alessandro, wie –«

»Vorwürfe sind jetzt wahnsinnig hilfreich, vielen Dank.«

Fröstelnd trat sie im Freien von einem Fuß auf den anderen.»Kannst du mir mal erklären, was du da tust? Du willst da drinnen doch nicht sauber machen, oder?«

»Wir können nicht mit einer Leiche und einem abgetrennten Kopf durch die Gegend fahren.«

»Suchen wir uns einen anderen Wagen. Von mir aus fahren wir mit der Bahn.«

Es tat ihr nicht leid um Aliza. Die Harpyie hatte Quattrini auf bestialische Weise umgebracht – und sie hatte es getan, weil sie dafür bezahlt worden war. Doch wieder einmal erschrak sie vor Alessandros Effizienz als Mordmaschine. Sie sah den Jungen vor sich, den sie so gernhatte, und zugleich begriff sie mit jedem Tag ein wenig deutlicher, welche Killerinstinkte in ihm steckten, sobald sein arkadisches Erbe erwachte.

Aber war sie selbst denn anders? Sie hatte Salvatore Pantaleone getötet und erst vor kurzem Michele Carnevare. Dazu kamen die Hundinga-Söldner des Hungrigen Mannes beim Brand des Palazzo. Sie war nicht besser als er – und kein bisschen menschlicher. Es wurde Zeit, das zu akzeptieren.

»Ich setz mich da nicht mehr rein«, sagte sie.»Lass uns hier abhauen.«

Er sprang aus dem Laderaum, landete auf allen vieren – der Blutgeruch hielt einen Teil des Raubtiers in ihm wach – und stellte sich aufrecht. Sorgfältig wischte er sich die Schuhsohlen am Gras ab.

»Und wo sollen wir hin?«Ein letztes katzenhaftes Funkeln verblasste in seinen Augen.»Irgendwer wird diese Sauerei hier entdecken. Unsere Fingerabdrücke und Haare sind überall da drinnen.«

»Sie suchen uns schon wegen Mordes. Das hier wird es nicht schlimmer machen.«Sie zog das hautenge Kleid glatt und nahm die Reisetasche auf. Dann trat sie an ihm vorbei und warf die Hecktür des Transporters zu. Der Gestank hing weiterhin über der Lichtung, und sie hatte das ungute Gefühl, dass er ihnen folgen würde, ganz gleich wohin sie gingen.

Als sie sich umdrehte, stand er unmittelbar vor ihr.»Was ich gesagt habe, ist die Wahrheit«, sagte er leise.»Ich hab nicht abgewartet, bis du weg warst, um … das da zu tun. Denk so was nicht von mir. Sie hat mich angegriffen, und sie hätte mich umgebracht, wenn ich nicht schneller gewesen wäre als sie.«

Sie legte eine Hand an seine Wange und spürte, wie kalt sie war.»Ich hätte das vorhin nicht sagen sollen. Erst die ewige Warterei in der Stadt, dann die Sache mit Moris Buch. Der Antiquar hat mich gesehen, ich meine, er hat mich als Schlange gesehen – und ich hab keine Ahnung, ob das schlimm ist oder nicht. Er hat Mori gekannt, und vielleicht weiß er alles über Arkadien und über uns. Hoffentlich hält er den Mund, damit es ihm nicht genauso ergeht wie Mori.«

Er berührte ihre Hand mit seiner, und eine Weile standen sie nur da und sahen einander an.

Schließlich sagte sie:»Wenn wir unterwegs sind, erzähle ich dir, was passiert ist. Und ich will lesen, was Mori über Arkadien geschrieben hat. Aber da ist noch –«

»Iole.«

Sie nickte mit zusammengekniffenen Lippen.

»Wir können nichts tun, oder?«Seine Miene verhärtete sich wieder.»Wir sind so verdammt hilflos.«

»Wenn wir Sizilien verlassen und die Polizei davon erfährt … wenn sie uns nicht mehr hier suchen und das bis zu den Clans vordringt, glaubst du, dann ziehen sie sich von der Isola Luna zurück?«

»Vielleicht.«

Das reichte nicht. Natürlich nicht. Aber welche Alternativen blieben ihnen schon?

»Diese falschen Pässe und die Tickets«, sagte sie,»kommen wir an die ran?«

»Quattrini hat nur gewusst, dass ich welche hab anfertigen lassen. Ein paar Tage lang haben sie in einem Schließfach in Syrakus gelegen, aber da sind sie nicht mehr. Ich hab sie aus der Stadt rausgebracht. Jetzt sind sie in einem verlassenen Bauernhaus versteckt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer sie dort findet.«

Über ihnen in der Nacht erklangen Vogelschreie.

Alessandro spähte hinauf in die Finsternis.

Ein zweiter Vogel antwortete, ein dritter kreischte in den Baumkronen unten im Hang.

»Sind sie das?«, wisperte sie.

»Alizas Geschrei muss sie hergelockt haben.«Er wirbelte herum und folgte mit den Augen einer Bewegung über den Bäumen.»Die werden gleich hier sein.«

Sie rannten los.

 

Florindas Furcht

Sie nahmen den Trampelpfad, den Rosa heraufgekommen war, erreichten eine Straße und folgten ihr bis zu einem kleinen Parkplatz. Dahinter erhoben sich die ersten Häuser von Ragusa Ibla.

Vom Berghang her erklang zorniges Vogelkreischen, selbst hier unten im Tal war es noch erschreckend laut.

»Sie haben Aliza gefunden.«Alessandro nahm Rosa die Reisetasche ab und warf sie sich im Laufen über die Schulter. Es war nicht viel darin, aber ohne sie fühlte sie sich schneller und flinker.

Sie liefen eine Gasse hinauf, dann eine breite Treppe. Im gelbstichigen Schein einer Straßenlaterne standen drei Taxis. Alle waren verlassen. Rosas Hände zitterten viel zu sehr, als dass sie sich zugetraut hätte, einen der Wagen zu knacken. Außerdem hatten sie kein Werkzeug.

Aus dem Eingang einer kleinen Bar trat ein Mann und biss gerade in ein getoastetes Weißbrot mit heißem Gemüse. Er nuschelte etwas, schluckte hinunter und fragte noch einmal:»Braucht ihr ein Taxi?«

Sie nickten.

»Kann ich erst aufessen?«

»Wenn wir im Wagen warten können«, sagte Alessandro. Rosa unterdrückte den Impuls, erneut zum Himmel aufzuschauen.

Der Fahrer hielt kurz inne, blickte an ihnen vorbei zu der Treppengasse, runzelte die Stirn.»Okay«, sagte er, entriegelte mit der Fernbedienung die Türen und gab ihnen einen Wink.»Ich brauch nur ’ne Minute.«

Wenig später verließen sie Ibla und fuhren ins moderne Zentrum von Ragusa. Das Taxi bog auf einen runden Platz voller Bauzäune mit Konzert- und Werbeplakaten. Palmen raschelten im Wind. Der Bahnhof befand sich auf der anderen Seite, ein unscheinbares, zweistöckiges Gebäude. Die Zeiger einer Uhr auf dem Dach standen auf kurz nach halb elf.

»Wenn ihr euch beeilt –«, begann der Fahrer, als er den Wagen zum Stehen brachte.

»Danke.«Alessandro reichte ihm einen Schein, während Rosa schon ausstieg.

Sie hatte das Gefühl, leicht geduckt laufen zu müssen. Doch falls die Harpyien ihnen gefolgt waren, zeigten sie sich nicht. Nur eine Handvoll Menschen war vor dem Bahnhof zu sehen, die meisten mussten eben angekommen sein und beeilten sich, von hier fortzukommen. Keine einladende Gegend.

»Schnell!«Alessandro nahm sie bei der Hand. Nach einem letzten Blick zum Nachthimmel betraten sie die Bahnhofshalle. Mit einem Dach über dem Kopf fühlte sich Rosa ein wenig sicherer, aber das verging, als sie die Tauben sah, die auf dem Boden der Bahnhofshalle nach Nahrung suchten – und alle im selben Moment die Köpfe hoben und ihnen entgegenblickten.

Rosa drohte zu stolpern, als sie an den Tieren vorüberliefen. Sie erinnerte sich an Florindas unerklärliche Furcht vor Vögeln. An die verbrannten Nester im Brunnen des Palazzo Alcantara.

»Der fährt gleich los«, rief Alessandro.

Draußen auf dem ersten Gleis führte ein Schaffner gerade die Pfeife zum Mund.

Sie rannten durch die Glastüren auf den Bahnsteig. Der Schaffner wandte ihnen den Rücken zu. Keuchend erreichten sie den Zug und stürzten in den erstbesten Waggon. Als Alessandro die Tür hinter ihnen schloss, ertönte der Pfiff. Eine zweite Tür schlug, irgendwo weiter hinten. Der Zug setzte sich in Bewegung.


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