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Die Geschichte belegt die Thatsache der moralischen Entzündung des Willens unwidersprechlich. Man wird einerseits nicht an der wahren und echten Vaterlandsliebe der Griechen zur Zeit der Perserkriege, andererseits nicht daran zweifeln, daß gerade ihnen das Leben besonders werthvoll erscheinen mußte; denn was fehlte diesem begnadeten Volke? Es war der einzige Zweig der Menschheit, der eine schöne glückliche Jugend hatte; allen anderen erging es wie den Individuen, die, durch irgend welche Umstände, nicht zum Bewußtsein ihrer Jugend kommen und das ihnen vorenthaltene Glück erst sterbend verschmerzen. Und gerade weil die Griechen das Leben in ihrem Lande zu schätzen wußten, mußten sie in gluthvoller Vaterlandsliebe ihre Bürgerpflicht ausüben; denn sie waren ein kleines Volk, als sie von der colossalen Uebermacht der Perser angegriffen wurden, Jeder mußte überzeugt sein, daß nur dann, wenn Jeder mit seinem Leben einstand, der Sieg möglich wäre, und Jeder wußte, welches Loos ihm eine Niederlage brachte: Fortschleppung in die Sklaverei. Da mußte sich der Wille entzünden, da mußte jeder Mund aussprechen: lieber den Tod!

Wie anders, beiläufig bemerkt, liegen die Verhältnisse heutzutage. Gewiß verliert noch ein besiegtes Culturvolk viel; aber der Nachtheil ist bedeutend kleiner als früher, und die meisten Individuen kommen gar nicht dazu, ihn zu erkennen. Dabei wirkt das zersetzende Gift des Kosmopolitismus, das, in den jetzigen Verhältnissen, nur mit der größten Vorsicht einem Volke eingegeben werden darf, wenn es günstig wirken soll.»Alle Menschen sind Brüder; wir kämpfen nicht gegen unsere Brüder; die Welt ist unser Vaterland«; so rufen die unreifsten Geister, die nicht einmal die Geschichte ihres Landes, geschweige den mühesamen Gang der Menschheit nach einem |

i195 einzigen großen, unwandelbaren Gesetze kennen, das sich in den verschiedensten Gestaltungen offenbart. Und darum trifft man jetzt so selten die echte ausdauernde Vaterlandsliebe an, die nicht verwechselt werden darf mit Rauflust oder mit dem rasch verfliegenden patriotischen Rausch. –

Ferner bewirkte der echte felsenfeste Glaube die plötzlichsten Bekehrungen. Man erinnere sich an die erhebenden Erscheinungen aus den drei ersten Jahrhunderten des Christenthums. Menschen, welche noch am Tage vor ihrer Umwandlung durch und durch weltlich gesinnt waren, schwelgten und praßten, dachten auf einmal an nichts Anderes mehr, als an das Heil ihrer unsterblichen Seele und verhauchten gern ihr Leben unter den gräßlichsten Martern. War ein Wunder geschehen? In keiner Weise! Sie hatten deutlich erkannt, wo ihr Heil lag; sie hatten erkannt, daß Jahre der Qual Nichts sind, gehalten gegen eine qualvolle Ewigkeit; daß das glücklichste irdische Leben Nichts ist gegen die ewige Seligkeit. Und die Unsterblichkeit der Seele, sowie ein Gericht, wie die Kirche es lehrte, wurde geglaubt. Da mußte der Mensch in die Wiedergeburt, da mußte sich der Wille entzünden, wie der Stein zur Erde muß. Wie er vorher prassen und ängstlich bemüht sein mußte, jeden Schmerz von sich abzuhalten, so mußte er jetzt den Armen seine Habe schenken und gehen, um zu bekennen:»ich bin ein Christ«; denn es war einfach über Nacht ein unwiderstehlich starkes Motiv in sein Wissen getreten:

Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater.

(Matth. 10.)

Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr.

(Matth. 5.)

Die Atmosphäre war so erfüllt von der neuen Lehre, daß sie sogar eine geistige Epidemie hervorrief. Es drängten sich ganze Massen um das Tribunal der römischen Statthalter und erflehten den qualvollsten Tod. Wie Tertullian erzählt, rief ein Prätor einer solchen Menge zu:»Elende! Wenn ihr sterben wollt, so habt ihr ja Stricke und Abgründe«. Er wußte nicht, daß es sich um das Himmelreich handelte und dieses am leichtesten, der Verheißung gemäß, durch den Märtyrertod erlangt wurde.

Sehen wir indessen von den Märtyrern ab und betrachten die einfacheren Erscheinungen, so strahlt uns von allen Seiten die reine echte Nächstenliebe bei Menschen entgegen, aus deren Charakter sie |

i196 nicht fließen konnte. Sie waren Alle wie verwandelt, aber – das wollen wir fest halten – mit Nothwendigkeit, auf ganz natürliche Weise.

 

19.

Die moralische Entzündung des Willens ist eine Thatsache, die ich im Vorhergehenden rein immanent zu erklären versuchte. Sie ist eine Thatsache, wie die Umwandlung des normalen Zustandes einer chemischen Idee in den electrischen, wie die Umwandlung des normalen Zustandes des Menschen in den Affekt. Ich will sie die moralische Begeisterung nennen. Sie ist, wie die aesthetische, eine Doppelbewegung, aber wesentlich von ihr verschieden. Zunächst ist sie nicht, wie diese, eine zusammenhängende Bewegung, denn ihre Theile liegen in der Zeit weit auseinander. Der erste Theil, zusammengerückt, ist ein durch geniales Erkennen hervorgerufenes heftiges Schwanken des Willens zwischen Lust und Unlust, während der erste Theil der aesthetischen Begeisterung der schmerzlose aesthetische Zustand ist. Ihr zweiter Theil dagegen ist kein heftiges Ausströmen des Willens, sondern der reine Herzensfriede. Dieser Herzensfriede ist einer Steigerung fähig, was sehr merkwürdig ist. Er kann sich nämlich, unter dem fortgesetzten Einfluß der klaren Erkenntniß (also nicht durch die Unlust einer Begierde), steigern zu:

1) dem moralischen Muth,

2) der moralischen Freude,

3) der moralischen Liebe.

Das Individuum, welches in der moralischen Begeisterung steht, sie sei nun eine vorübergehende oder anhaltende, sie sei auf dem reinen Boden des Staates, oder mit Hülfe des Glaubens, oder durch den Glauben allein entstanden, hat nur das eine Ziel im Auge, wo sein wirklicher oder vermeintlicher Vortheil liegt, und für alles Andere ist es todt. So stößt der Edle, der sich an der Mission seines Vaterlandes entzündet hat, Weib und Kind zurück mit den Worten:»bettelt, wenn ihr hungrig seid«; so bricht der Gerechte lieber am Wege zusammen und verhungert stumm, als daß er seine reine, lichte Seele mit Schlechtigkeit beflecke; so verläßt der Heilige seine Mutter, seine Schwestern und Brüder, ja, er verleugnet sie und spricht:»wer ist meine Mutter und meine Brüder?«denn alle |

i197 Bande, die ihn an die Welt gefesselt hielten, sind zerrissen, und nur sein ewiges Leben hält sein ganzes Wesen gefangen.

 

20.

Wir haben gesehen, daß eine moralische Handlung darin besteht, daß sie mit den Satzungen des Staates und des Christenthums übereinstimmt und gern geschieht, und haben dabei keinen Unterschied gemacht, ob sie aus einem ursprünglich guten, oder einem entzündeten Willen entspringt. Wir haben ferner gesehen, daß sich der Wille nur an der klaren Erkenntniß eines großen Vortheils entzünden kann. Dies ist sehr wichtig und muß festgehalten werden.

Es erhellt endlich aus dem Bisherigen, daß ein echter Christ, dessen Wille sich durch und durch an der Lehre des milden Heilands entzündet hat – also ein Heiliger – der denkbar glücklichste Mensch ist; denn sein Wille ist einem klaren Wasserspiegel zu vergleichen, der so tief liegt, daß ihn der stärkste Sturm nicht kräuseln kann. Er hat den vollen und ganzen inneren Frieden, den Nichts mehr auf dieser Welt, und wäre es das, was die Menschen als das größte Unglück ansehen, beunruhigen und trüben kann. Hierbei wollen wir auch bemerken, daß die Umwandlung zwar nur geschehen kann durch die klare Erkenntniß des großen Vortheils, daß aber, nachdem sie sich vollzogen hat, die Hoffnung auf das Himmelreich nach dem Tode ganz verschwinden kann, wie das Zeugniß»vergotteter«Menschen (wie die Mystiker sagen) deutlich beweist. Der Grund liegt zu Tage. Sie stehen in einer solchen inneren Freudigkeit, Ruhe und Unanfechtbarkeit, daß ihnen Alles gleichgültig wird: das Leben, der Tod und das Leben nach dem Tode. Sie haben an ihrem Zustand die Gewißheit, daß er gar nicht vergehen kann, und das Himmelreich, das in ihnen ist, schließt das Himmelreich, das erst kommen soll, vollkommen in sich. Sie leben unaussprechlich selig in der Gegenwart allein, d.h. im Gefühl beständiger innerer Unbeweglichkeit, wenn dies auch nur eine Täuschung ist; oder mit anderen Worten: der flüchtige Zustand der tiefsten aesthetischen Contemplation ist beim Heiligen permanent geworden, er dauert immer fort, weil Nichts in der Welt im Stande ist, den innersten Kern des Individuums zu bewegen. Und wie bei der aesthetischen Contemplation das Subjekt sowohl, als das Objekt, aus der Zeit herausgehoben sind, so lebt auch der Heilige zeitlos; |

i198 ihm ist unbeschreiblich wohl in dieser scheinbaren Ruhe, dieser dauernden inneren Unbeweglichkeit, ob sich gleich noch der äußere Mensch bewegen, empfinden und leiden muß. Und dieses Leben würde er nicht lassen:

ob er auch eines Engels Leben dafür haben möchte.

(Der Franckforter.)

Hier finde auch die Ekstase oder die intellectuelle Wonne einen Platz. Sie ist wesentlich von dem gleichmäßigen, ruhigen Frieden des Heiligen verschieden. Sie entspringt der heftigen Begierde, das Reich Gottes schon in dieser Welt zu sehen. Der Wille, durch Kasteiung und Einsamkeit in die furchtbarste Aufregung gebracht, concentrirt seine ganze Kraft in einem einzigen Organ. Er zieht sich aus dem peripherischen Nervensysteme zurück und flüchtet sich gleichsam in das Gehirn. Das Nervenleben wird dadurch auf die höchstmögliche Stufe getrieben, die Eindrücke der Sinne werden vollständig überwunden, und nun zeichnet der Geist in die Leere, wie im Schlafe, das, was der Wille so sehr zu erblicken verlangt. Aber während der Vision sind die Augen des Verzückten offen und sein Bewußtsein ist klarer und heller als je. In der Verzückung muß der Mensch die denkbar höchste Wonne empfinden, weshalb man den Zustand auch sehr treffend die intellectuelle Wonne genannt hat; aber wie theuer wird sie erkauft! Die Unlust vorher und die furchtbare Erschlaffung nachher machen sie zum kostspieligsten Genuß.

 

21.

Die immanente Philosophie muß den Zustand des Heiligen als den glücklichsten anerkennen; aber kann sie die Ethik schließen, nachdem sie das größte Glück des Menschen beleuchtet und gezeigt hat, wie auch ein schlechter Wille, trotzdem ihm das liberum arbitrium fehlt, seiner theilhaftig werden kann? Durchaus nicht. Denn wenn auch der echte Heilige:

in einer Freiheit steht, also daß er verloren hat Furcht der Pein oder der Hölle und Hoffnung des Lohns oder des Himmelreichs,

(Der Franckforter.)

so konnte sich doch nur sein Wille entzünden an dieser Hoffnung des Lohns oder des Himmelreichs, weil es ein Fundamentalsatz der immanenten Ethik ist, den die Erfahrung immer und immer bestätigt, daß der Mensch ohne Vortheil so wenig gegen seinen Charakter |

i199 handeln kann, wie das Wasser bergauf laufen kann ohne entsprechenden Druck.

Es ist also der Glaube eine conditio sine qua non des seligsten Zustands, während sich die immanente Philosophie nur vorübergehend, um die Ethik zu entwickeln, gleichsam ihr Gebiet abzustecken, auf den Boden des Christenthums stellen durfte. Das Resultat unserer bisherigen Forschungen ist demnach, daß wir wohl den glücklichsten Zustand des Menschen gefunden haben, aber unter einer Voraussetzung, die wir nicht anerkennen dürfen, und die Ethik kann nicht eher abgeschlossen werden, als bis wir untersucht haben, ob dieser selige Zustand auch aus einem immanenten Erkenntnißgrunde fließen kann, oder ob er schlechterdings Jedem, der nicht glauben kann, verschlossen ist, d.h. wir stehen vor dem wichtigsten Problem der Ethik. Gewöhnlich faßt man dasselbe in die Frage nach der wissenschaftlichen Grundlage der Moral, d.h. ob auch Moral begründet werden könne, ohne Dogmen, ohne die Annahme eines offenbarten göttlichen Willens. Hatte St. Johannes Recht, als er schrieb:

Wer ist aber, der die Welt überwindet, ohne der da glaubet, daß Jesus Gottes Sohn ist?

(1. Epist. 5, 5.)

 

22.

Die immanente Philosophie, welche keine anderen Quellen, als die offen vor den Augen Aller liegende Natur und unser Inneres anerkennen kann, verwirft die Annahme einer verborgenen einfachen Einheit in, über oder hinter der Welt. Sie kennt nur unzählige Ideen, d.h. individuelle Willen zum Leben, die, in ihrer Gesammtheit, eine fest in sich geschlossene Collectiv-Einheit bilden.

Wir erkennen mithin auf unserem jetzigen Standpunkte keine andere Autorität zunächst an, als die von den Menschen errichtete des Staates. Sie ist mit Nothwendigkeit in die Erscheinung getreten, weil der mit Vernunft begabte Wille, nach richtiger Erkenntniß des Wesens zweier Uebel, das kleinere wählen muß. Er kann nicht anders handeln; denn sehen wir einen Menschen von zwei Uebeln das größere wählen, so haben wir uns entweder in der Beurtheilung geirrt, weil wir uns nicht in die Individualität des Wählenden versenken konnten, oder er hat nicht erkannt, daß das gewählte Uebel das größere war. Hätte er in letzterem Falle unseren |

i200 Geist gehabt, der sich über die Wahl wundert, so hätte er nicht wählen können, wie er gewählt hat. Dieses Gesetz steht so fest wie das, daß jede Wirkung eine Ursache haben muß.

Der einsichtige Mensch kann nicht wollen, daß der Staat vernichtet werde. Wer dies aufrichtig will, der will nur eine vorübergehende Außerkraftsetzung der Gesetze, nämlich so lange, als er Zeit braucht, um sich eine günstige Situation zu verschaffen. Hat er diese erlangt, so will er mit derselben Inbrunst den Schutz der Gesetze, mit der er vorher deren Suspension wollte.

Der Staat ist also für die natürlichen Egoisten ein nothwendiges Uebel, welches sie ergreifen müssen, weil es das kleinere von zweien ist. Stießen sie es wieder um, so würden sie das größere dafür in Händen haben.

Der Staat verlangt nur Aufrechterhaltung des Staatsvertrags, strenge Erfüllung der eingegangenen Verpflichtung, nämlich die Gesetze zu achten und den Staat zu erhalten. Wir dürfen annehmen, daß so gut wie kein Mensch diese Pflichten gern erfüllt; denn selbst der Mensch mit einem guten Herzen wird nicht immer redlich gegen seine Mitmenschen handeln und meistens ungern dem Staate zahlen, sowie unwillig seiner Militärpflicht genügen, wenn ihn nicht unüberwindliche Neigung zum Soldatenstand zieht. Wir wollen indessen vorsichtig zugestehen, daß es Menschen giebt, die von Natur aus von unverbrüchlicher Redlichkeit sind und ihr Vaterland aufrichtig und von Herzen lieben. Sie geben Jedem das Seine gern und bringen gern dem Staate die Opfer, welche er zu seiner Erhaltung von ihnen fordern muß. Ihr Friede – ihr Glück – wird demnach durch alle diese Handlungen nicht gestört. Wir scheiden sie aus und beschäftigen uns jetzt mit jenen, welche nur aus Furcht vor Strafe und mit dem größten Widerwillen den Staatsgesetzen sich unterwerfen. Sie haben keinen Frieden in sich und sind unglücklich vor den Gesetzen. Ihr Charakter zieht sie nach dieser Richtung und die Gewalt nach jener. So werden sie hin- und hergezerrt und stehen Qualen aus. Fallen sie auf die Seite der Gewalt, so opfern sie mit grollendem Herzen; folgen sie dagegen ihrer Neigung, weil das angedrohte Uebel durch Reflexion (Wahrscheinlichkeit, nicht entdeckt zu werden) kraftlos wird, so schweben sie, nach vollbrachter That, in Furcht vor Entdeckung und werden ihres Gewinns nicht froh. Wird gar das Verbrechen entdeckt und trifft sie die Strafe, so quält |

i201 das Gewissen in unerträglicher Weise, und gegen den Zwang und die endlose Kette von Entbehrungen stürmt ohne Ruhe das freiheitsbedürftige Herz an: erfolglos und unglücklich.

Nun gehen wir weiter und denken uns, daß viele solcher Menschen, die nur aus Furcht vor Strafe gehorsam sind, sich an der klaren Erkenntniß ihres Vortheils entzünden. Wir sehen einstweilen davon ab, daß der erkannte Vortheil der Redlichkeit, wie er aus einer Betrachtung, wie die oben angestellte, hervorspringen könnte, so gut wie nicht wirken kann. Sehr schön drückt dies St. Paulus in dem Satze aus:

Das Gesetz richtet nur Zorn an; denn wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Uebertretung. Derhalben muß die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen.

(Röm. 4, 15. 16.)

Wir sehen ferner davon ab, daß der erkannte Vortheil des Staatsschutzes heutzutage gleichfalls den Willen nur höchst selten entzünden kann und nehmen an, daß die Entzündung überhaupt zu Stande komme.

Auf diese Weise haben wir, mit Absicht auf die Gesetze, glückliche Menschen im Staate: Gerechte durch natürliche Anlage und Gerechte durch erleuchteten Willen. Ja wir wollen so weit gehen und annehmen, es gäbe nur Gerechte in unserem Staate. In diesem Staate leben mithin alle Bürger in Uebereinstimmung mit den Gesetzen und werden durch die Forderungen der staatlichen Autorität nicht unglücklich. Jeder giebt Jedem das Seine, aber auch nicht mehr. Es herrscht volle Redlichkeit im ganzen Verkehr; Niemand betrügt; Alle sind ehrlich. Kommt aber ein hungriger Armer zu ihnen und verlangt ein Stückchen Brod, so schlagen sie die Thüre vor ihm zu, mit Ausnahme Derjenigen, welche barmherzig sind; denn würden diese nicht geben, so würden sie ja gegen ihren Charakter handeln und unglücklich sein.

Wir haben mithin in unserem Staate nur eine beschränkte Moralität; denn alle Handlungen, die in Uebereinstimmung mit den Gesetzen sind und gern geschehen, haben moralischen Werth und sind nicht bloß legal. Der Barmherzige aber handelt nicht moralisch, wenn er die Nothleidenden aufrichtet, so wenig wie der Hartherzige illegal handelt, wenn er den Armen vor seiner Thüre verhungern läßt; denn es ist kein Gesetz vorhanden, welches Wohlthätigkeit |

i202 befiehlt und es ist eine der Bedingungen für eine moralische Handlung, daß sie mit dem Gesetze übereinstimme. Natürlich kann auch der Barmherzige nicht illegal handeln, wenn er den Dürftigen unterstützt. Seine Handlung hat überhaupt keinen besonderen Charakter, sondern trägt nur den allgemeinen egoistischen. Er folgt lediglich seinem geläuterten Egoismus, verstößt gegen kein Gesetz und ist glücklich.

Gegen diese Auseinandersetzung lehnt sich unser Inneres auf, und wir fühlen, daß sie falsch sein müsse. Dies ist jedoch auf unserem jetzigen Standpunkte keineswegs der Fall. Was in unserem Gefühl wirkt, ist entweder Barmherzigkeit, oder Spuk aus unseren Lehrjahren; denn wenn wir uns auch noch so sehr emancipirt von allen Vorurtheilen dünken, so tragen wir doch Alle, mehr oder weniger, Ketten des Glaubens, Ketten theurer Erinnerungen, Ketten liebevoller Worte aus verehrtem Munde. Auf unserem jetzigen Standpunkte aber darf nur die kalte Vernunft sprechen und sie muß sprechen wie oben. Es kann sich später eine andere Lösung herausstellen: jetzt ist es unmöglich. Die Autorität der Religion existirt nicht für uns, und an ihre Stelle ist noch keine andere getreten. Wäre es nicht eine offenbare Thorheit, wenn sich der Hartherzige zu Gunsten des Armen beschränkte, d.h. gegen seinen Charakter handelte, ohne zureichendes Motiv? Ja, wäre es denn überhaupt nur möglich? Und wie sollte eine barmherzige That moralisch sein ohne den Willen eines allmächtigen Gottes, der die Werke der Nächstenliebe gebietet?

Aus diesem Grunde würden wir auch einen Irrweg einschlagen, wollten wir die Barmherzigkeit, oder den Zustand, in den fremdes Leid den barmherzigen Willen versetzt: das Mitleid, zur Grundlage der Moral machen. Denn wie dürften wir uns anmaßen zu dekretiren: barmherzige Thaten, Thaten aus Mitleid sind moralische Thaten? Ihre Unabhängigkeit von einer gebietenden Autorität würde gerade verhindern, daß sie es sein können. Hätte nicht Jeder das Recht, unser unverschämtes Dekret umzustoßen? Und was wollten wir dem Hartherzigen oder Grausamen antworten, wenn er mit dem ganzen Trotze seiner rebellischen Individualität uns früge:»wie könnt ihr, ohne die Annahme des allmächtigen Gottes, sagen, daß ich unmoralisch handle? Ich behaupte mit demselben Rechte, daß barmherzige Thaten unmoralisch sind.«Seid aufrichtig! Könntet |

i203 ihr ihm antworten, ohne euch auf den Boden der christlichen oder überhaupt einer Religion zu stellen, welche die Nächstenliebe im Namen einer anerkannten Macht gebietet?

Wir müssen also einstweilen dabei bleiben, daß in unserem gedachten Staate barmherzige Thaten nicht moralisch sein können, weil keine Macht sie gebietet und Handlungen nur dann moralischen Werth haben, wenn sie gern geschehen und mit einem Gesetze übereinstimmen.

Die Bürger unseres gedachten Staates sind, wie angenommen wurde, Alle gerecht, d.h. sie kommen nie in Zwiespalt mit sich selbst, wenn der Staat eine Forderung, zu deren Leistung sie sich durch Vertrag verpflichteten, an sie stellt. Sie gehorchen gern und es ist deshalb unmöglich, daß die Gesetze sie unglücklich machen können.

Nun gehen wir weiter und sagen: gut; fassen wir das Leben dieser Bürger nur in seiner Beziehung zum Staate und dessen Grundgesetzen auf, so ist es ein glückliches. Aber das Leben ist doch keine Kette von nichts Anderem, als erfüllten Pflichten gegen den Staat: von unterlassenem Diebstahl, unterlassenem Mord, Steuerzahlungen und Kriegsdienst; die anderen Beziehungen wiegen entschieden darin vor. Und deshalb fragen wir: Sind unsere Gerechten auch sonst glücklich?

Diese Frage ist sehr wichtig, und ehe sie beantwortet ist, können wir keinen Schritt vorwärts in der Ethik machen. Unsere nächste Aufgabe besteht demnach darin, ein Urtheil über den Werth des menschlichen Lebens selbst abzugeben.

 

23.

Ich weiß wohl, daß alle Diejenigen, welche nur ein einziges Mal rein objektiv über den Werth des Daseins nachgedacht haben, das Urtheil des Philosophen nicht mehr bedürfen; denn entweder sind sie zur Ueberzeugung gelangt, daß aller menschliche Fortschritt nur ein scheinbarer sei, oder zu der anderen, daß das Menschengeschlecht sich thatsächlich immer durch bessere Zustände nach besseren bewege: in beiden Fällen aber wurde schmerzlich bekannt, daß das menschliche Leben in seinen jetzigen Formen ein wesentlich unglückliches sei.

Auch würde ich mich nicht dazu verstehen können, das jetzige |

i204 Leben zu prüfen. Andere haben dies gethan und haben es so meisterhaft gethan, daß für jeden Einsichtigen die Acten darüber geschlossen sind. Nur Diejenigen, welche keinen Ueberblick über das Leben in allen seinen Formen haben, oder Diejenigen, deren Urtheil ein noch zu heftiger Drang nach Leben fälscht, können ausrufen: es ist eine Lust zu leben und Jeder muß sich glücklich preisen, daß er athmet und sich bewegt. Mit ihnen soll man sich in keine Discussion einlassen, eingedenk der Worte des Skotus Erigena:

Adversus stultitiam pugnare nil est laboriosius. Nulla enim auctoritate vinci fatetur, nulla ratione suadetur.

Sie haben noch nicht genug gelitten und ihre Erkenntniß liegt im Argen. Sie werden, wenn nicht in ihrem individuellen Leben noch, so doch in ihren Nachkommen einst erwachen, und ihr Erwachen wird ein schreckliches sein.

Nicht mit dem Leben, wie es jetzt im freiesten und besten Staat dahinfließt, werden wir uns also befassen, – denn es ist verurtheilt – sondern wir nehmen den Standpunkt der erwähnten vernünftigen Optimisten ein, welche in die Zukunft blicken und der ganzen Menschheit dereinst ein glückliches Leben zusprechen, weil die reale Entwicklung immer vollkommeneren Zuständen entgegen nicht geleugnet werden kann. Wir werden mithin einen idealen Staat zu construiren und das Leben in ihm zu beurtheilen haben. Wir lassen ganz dahingestellt, ob derselbe je in der Entwicklung der Dinge liegen könne; aber es ist klar, daß wir ihn construiren dürfen, weil wir ja bestrebt sind, das Leben in einem günstigen Lichte zu erblicken.

Wir stellen uns gleich mitten in diesen idealen Staat, ohne uns mit seinem Werden zu beschäftigen.

Er umfaßt»Alles, was Menschengesicht trägt«, er umfaßt die ganze Menschheit. Es giebt keine Kriege mehr und keine Revolutionen. Die politische Macht ruht nicht mehr in bestimmten Klassen, sondern die Menschheit ist ein Volk, das nach Gesetzen lebt, an deren Abfassung Alle mitgewirkt haben. Das sociale Elend ist erloschen. Die Arbeit ist organisirt und drückt keinen mehr. Der Erfindungsgeist hat sämmtliche schweren Arbeiten auf Maschinen abgewälzt und die Leitung derselben raubt den Bürgern nur wenige Stunden des Tages. Jeder, der erwacht, kann sagen: der Tag ist mein.

i205 The whips and scorns of time,

The oppressor ’s wrong, the proud man ’s contumely,

— — — —, the law ’s delay,

The insolence of office, and the spurns

That patient merit of the unworthy takes.

(Shakespeare.)

(Der Zeiten Spott und Geißel,

Des Mächt’gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen

— — — — des Rechtes Aufschub,

Der Uebermuth der Aemter, und die Schmach,

Die Unwerth schweigendem Verdienst erweist –)

alles Dieses ist getilgt.

Die Armuth ist von der Erde, wo sie entsetzliches Unglück Jahrtausende lang anrichtete, entflohen. Jeder lebt ohne Sorgen um des Leibes Nothdurft. Die Wohnungen sind gesund und bequem. Keiner kann mehr den Anderen ausbeuten, denn um den Stärkeren sind Schranken gelegt, und den Schwächeren schützt die Gesammtheit.

Wir nehmen also an, daß die mißlichen politischen und socialen Verhältnisse, deren Betrachtung so Viele zur Ueberzeugung führte, daß das Leben der Mühe darum nicht werth sei, sämmtlich zum Wohle jedes Menschen geordnet seien. Wenig Arbeit, viel Vergnügen: das ist die Signatur des Lebens in unserem Staate.

Zugleich nehmen wir an, daß die Menschen, im Laufe der Zeit, durch Leiden, Erkenntniß und allmähliche Entfernung aller schlechten Motive, maßvolle und harmonische Wesen geworden sind, kurz, daß wir es nur noch mit schönen Seelen zu thun haben. Sollte wirklich noch irgend etwas in unseren Staate sein, was die Leidenschaft oder den Seelenschmerz erregen könnte, so findet das erregte Individuum bald sein Gleichgewicht wieder und die harmonische Bewegung ist wieder hergestellt. Das große Unglück, dem leidenschaftliche Charaktere nicht entrinnen können:

The heart-ache, and the thousand natural shocks

That flesh is heir to,

(Shakespeare.)

(Das Herzweh und die tausend Stöße,

Die uns’res Fleisches Erbtheil –)

auch Dieses ist von der Erde verschwunden.

Der überspannteste Anbeter des Willens zum Leben wird eingestehen müssen, daß in Anbetracht, daß der Mensch nicht ganz frei |

i206 von Arbeit sein kann, da er essen, sich kleiden und wohnen muß eine bessere gesellschaftliche Ordnung und Wesen, welche die Bedingungen zu einem besseren Leben in sich trügen, nicht möglich sind; denn wir haben allen Menschen eine edle Individualität gegeben und vom Leben Alles fortgenommen, was man als nicht wesentlich damit verbunden ansehen kann.

Es verbleiben mithin nur vier Uebel, die durch keine menschliche Macht vom Leben getrennt werden können: Wehen der Geburt, sowie Krankheit, Alter und Tod jedes Individuums. Der Mensch im allervollkommensten Staate muß mit Schmerzen geboren werden, er muß eine kleinere oder größere Anzahl von Krankheiten durchmachen, er muß, wenn ihn nicht

in der Jugend Kraft

Die Norne rafft, (Uhland)

alt, d.h. körperlich siech und geistig stumpf werden; schließlich muß er sterben.


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