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Die zauberfee

von Tom Delißen (copyright)

Der Mann in dem weißen Arztkittel deutete auf einen wohl etwa dreißigjährigen, hageren Mann, der mit hängenden Schultern und in sich zusammengesunken, planlos im Hof umherirrte.
“Das dort ist er.“ sagte er.

Der Knabe saß auf der weichen Matratze seines Bettes im Kinderzimmer.
Unsichtbar sein, jetzt, ja. Das wünschte sich der kleine Junge sehnlichst.
Die Zauberfee sollte kommen, wie so oft, und ihn herausholen Ihn für niemanden mehr zu sehen machen.
Angefangen hatte alles mit diesem Telefonanruf.
Ganz deutlich hatte er bemerkt, wie sich das Verhalten von Mama änderte. Mit einem Mal war sie fahrig geworden, verwirrt.
Drei Löffel Nesquick in die Tasse, statt der gewohnten zwei, Margarine auf der Tischdecke.
Ihre Hände mit dem Brotmesser zitternd.
“Kommt Daddy?” hatte er gefragt.
Mama hatte Angst, er spürte es.
Ihre Antwort war ein undeutliches Nicken.
Papa war nicht mehr oft daheim, in letzter Zeit. „Scheidung“ nannte sich das, so hatte man ihn aufgeklärt.
Ein Teil seines Denkens freute sich, denn Papa, wenn er nun kam, war immer ganz besonders nett zu ihm, stets hatte er ein tolles Geschenk dabei. Das letzte Mal war es ein rasiermesserscharfes, französisches Fischermesser gewesen, das er wie einen Schatz vor seiner Mutter versteckte, nicht zuletzt, weil sein Vater ihm dazu geraten hatte.
Auf der anderen Seite war da die Angst seiner Mama, der Streit, den es jedes Mal gab. Wie in den Zeiten, in denen Papa noch hier gewohnt hatte.
Wenn er nach Gastwirtschaft roch, dann fürchtete sich auch der Bub.
Er sah, wie die weißen Knöchel der Hände seiner Mutter sich gegen ihre Lippen pressten, eine winzige Träne löste sich aus dem linken Auge.
Sie schüttelte unwillig den Kopf und sah ihn mit einem verzerrten Lächeln an.
“Ja, Spatz. Dein Papa kommt uns besuchen.”
Schon kurz darauf war da das Läuten an der Tür und seine Mutter schüttete beim Aufstehen ihre Kaffeetasse um.
Der Vater schwankte, er stank nach Alkohol und hatte glasige Augen. Ohne den Kleinen zu beachten, ließ er sich, stöhnend, schwer auf einen Stuhl am Frühstückstisch fallen.
“Hallo Papa.”
“Oh Hallo, Sohnemann. Lass Mama und mich einen Moment allein.”
Er nuschelte ein wenig, kein Lallen, doch der Bub wusste, dass er sehr betrunken war. Er rutschte rückwärts von seinem Stuhl und sagte, halb zu seiner Ma, halb zu seinem Vater: “Ich gehe in mein Zimmer, spielen.”
Fragend blickte er in beide Gesichter.
“Ja, geh nur, mein Schatz.”
Er hatte sich im Kinderzimmer auf sein Bett gesetzt und bald hörte er die wütenden Schreie seines Vaters. Heute war es besonders schlimm.
Er hielt sich die Fäuste an die Ohren, steckte schließlich den Kopf unter das Kissen, doch es half nichts. Und er rief in Gedanken nach der Zauberfee, die ihn unsichtbar machen solle. Immer schon, auch früher, wenn er die wüsten Beschimpfungen, das Schluchzen seiner Mutter hörte, rief er sie, die Fee. Und sie nahm ihn mit, in ihr Reich, dorthin, wo ihn keiner sehen konnte. Und jetzt, er war sich ganz sicher, war sie gekommen. Die Streiterei klang so, als wäre sie unendlich weit entfernt. Unsichtbar. In einer anderen Welt. Er hatte das auch ausprobiert, sich in die Tür des Wohnzimmers gestellt, wo Mama und Papa saßen und sich anschrieen. Sie konnten ihn nicht sehen. Er war in sein Zimmer zurückgekehrt.
“Du verdammte Hure … das werden wir ja sehn … halt deine Fresse, jetzt rede ich …
ich schlag dir den Schädel ein, du Miststück!”
Jetzt, trotz der Fee, hörte er seine Mutter überlaut, gellend schreien.
Mit einem Satz war er auf, rannte über den Korridor in die Küche.
Sein Vater stand, in der Hand den Holzhammer für die Schnitzel, die es mittags hätte geben sollen, die Beine weit gespreizt, über dem reglosen Körper von Mama.
Der Knabe sah, dass sie aus einer Wunde am Kopf blutete. Das durfte nicht sein, das war nicht gut.
Nichts war mehr in Ordnung. Was sollte er tun?
Er liebte seinen Vater, liebte seine Mutter.

Der Kriminalbeamte sagte, beide Hände auf den Schreibtisch gestützt:
“Wir haben den Jungen neben den beiden Toten am Küchentisch sitzend gefunden.
Es sieht so aus, als hätte er zuerst die Mutter erschlagen und dann den schlafenden, stark alkoholisierten Vater erstochen.“

„Sehen Sie Ihn?“ fragte der Mann in dem weißen Kittel.
“Er glaubt er sei unsichtbar. Jedes Mal wenn ihn jemand anspricht … aber schauen Sie selbst!“
Ein glatzköpfiger Greis mit grauem Bart, er hielt einen Blechnapf in der Hand, war vor den Mann getreten, der sich für unsichtbar hielt.
Er hob seine Schale in dessen Gesichtshöhe und sagte:
“Eine Gabe, eine Gabe.“
Die dürre, zusammengesunkene Gestalt des Mannes schien zu explodieren.
Er richtete sich auf, blitzte den Glatzkopf an und schrie mit gellender Stimme:
„Du kannst mich nicht sehen. Lass mich in Ruhe. Sie sind bei den Engeln und streiten nicht mehr… und mich beschützt die Zauberfee.“ 
Dann sank er wieder in sich zusammen.

Eingabe 31 Juli 2006 | 16:07 in Prosa

 


EINER MEHR ALS 07/14 von Gordian Hense (copyright)

Die Erde ist eine Wiese. Auf der rechten Seite ragt die Maschine in den Himmel. Stahlblau, aus hartem Material ist sie. Wie ein riesiger Wolkenkratzer sieht sie aus. Kleine Gucklöcher erlauben den Menschen nach draussen zu schauen. Bei den milliarden Menschen gelingt das aber nur wenigen. Dafür gibt es zu wenige Fenster und ausserdem keine Zeit um einen Blick zu wagen.

Links, neben der Maschine auf der Wiese ist es schön grün. Gras und Blumen blühen, ein Bach plätschert vor sich hin und Berge und Täler liegen friedlich in der Sonne da. Eine wunderschöne Natur bietet sich denjenigen, wenigen Menschen die dort leben.

Der Platz den die Maschine auf der Erde einnimmt ist genau so gross wie der Platz den die Wiesen und Wälder daneben einnehmen. Nur, in der Maschine leben neunzig Prozent der Menschen, die es auf der Erde gibt. Tag ein, Tag aus treten sie in den blauen, grünen und gelben Rädchen der Maschine ihre Runden, oder besser treiben die Rädchen durch ihr Gewicht und das Vorwärtslaufen an. Das müssen sie. Gibt ihnen doch die Maschine ihr täglich Brot, ihr Wasser zum leben und den Luxus den sie meinen haben zu müssen. Und, die Maschine muss wachsen. Wachsen in die Höhe, denn in die Breite geht nicht. Also treten sie alle in den Rädchen damit die Maschine wächst und noch mehr von ihnen aufnehmen kann, die wieder Rädchen drehen.

Das war schon mit den Eltern so und deren Eltern und deren Eltern. Angeblich hatten mal vor urlangen Zeiten ein paar Menschen die Möglichkeit sich zu entscheiden. Sich zu entscheiden ob sie in der Maschine bleiben wollten oder ob sie auf der Wiese neben der Maschine leben wollten. Aber den meisten schien das zu gewagt. Auf der zwar schönen Wiese wusste keiner vorher wovon er leben sollte. Wer gab ihm sein Essen? Wer gab ihm etwas zu trinken? Waren dort auch andere mit denen man Kontakt aufnehmen konnte. War man da wohlmöglich ganz alleine? Sie wussten es nicht, und bevor sie sich trauten nachzusehen, wollten sie lieber in der Maschine bleiben. In der Sicherheit. In den Regeln, da wo andere dafür sorgen das es einem gut geht.

In der Maschine wussten sie genau wie das Leben verlief. Nachdem man gelernt hatte wie die Rädchen anzutreiben sind, musste man erst einmal ein paar Jahre in den grossen Rädchen mit vielen anderen zusammen laufen. Später, wenn man älter wurde und mehr Erfahrung mit dem richtigen Gleichgewicht beim Laufen in den Rädchen hatte, wurde man in ein kleineres mit weniger Menschen angetriebenes Rädchen versetzt. Wenn man Glück hatte und sehr gut in seinem Job war könnte man auch spät an seinem Lebensende erreichen in ein eigenes Rädchen steigen zu dürfen. Das man selber steuern durfte. Natürlich nur im Rahmen der Regeln der Maschine. Und die, die waren streng.

Die Menschen auf der Wiese hatten vor Urzeiten entschieden nicht in der Maschine zu leben. Sie glaubten das ihr Leben wichtiger wäre als es an eine schnöde Maschine zu vergeben. Natürlich, die Maschine gab vielen Menschen Platz und Essen und andere Annehmlichkeiten. Das war aber nur der eine Teil. Der andere Teil der Maschine verlangt Unterwürfigkeit, Disziplin, Anpassung, Konformität und keine Kritik. Auf keinen Fall Kritik.

Sie, auf der Wiese, hatten aber bald bemerkt, das man auch dort ganz gut leben konnte. Wenn es nicht so viele Menschen gab, konnte man von dem was die Natur so bot sehr gut leben. Es musste nur ein Gleichgewicht zwischen der Anzahl der Menschen und dem was die Natur bot geben. Dann funktionierte die Sache prima. Ab und zu kamen aus der Maschine Menschen. Menschen die erkannt hatten was das für eine Maschine war. Menschen die erkannt hatten das sie die Maschine nicht brauchen um zu überleben. Das irgend jemand einmal den Menschen eingeredet hatte, sie bräuchten diese Maschine. Wahrscheinlich waren es einmal die gewesen die oben, ganz weit oben in den goldenen Rädchen ihre Runden drehten. Die auch mal aussteigen konnten. Denen die Trauben in den Mund gehängt wurden. Die Pausen machen durften wann immer sie wollten. Ihnen hatten sie das System der Maschine zu verdanken. Und so fristeten ab diesem Zeitpunkt die meisten Menschen ein erkleckliches Dasein in der Maschine mit den vielen Rädchen. Und sie wussten es nicht einmal. Sie wussten nicht das sie der Teil von 08/15 sind, nämlich 07/14, eben einer weniger. Eingabe 28 Juni 2006 | 19:36 in Prosa

DER TOD IST EINE WEISSE TAUBE von Steffi Beckmann (Copyright)

Es wird behauptet ich wäre knöchern und alt, böse und kalt. Furcht einflößend und bedrohlich für Generationen. Mich schweigend aus dem Leben zu verbannen, scheint der Menschheit die einzige Alternative auf dem Weg zu ihrer verzweifelt ersehnten Unsterblichkeit.
Meine Bedeutsamkeit für den Einzelnen kann unterschiedlicher nicht sein. Letztendlich bin und bleibe ich doch unverkennbar.

Die Reise zu dir hat vor langer Zeit schon begonnen. Der laue Abendwind atmet sanft in mein Gefieder. Er fängt sich in meinen weiten, Welt umspannenden Schwingen, trägt mich empor. Über mir nur der Horizont, grenzenlos und weit.
Vom höchsten Gipfel der Erde bis zum Mittelpunkt der Welt kann ich sehen. Das allerletzte Geheimnis offenbart sich tatsächlich nur mir, denn mein Blick reicht bis tief in menschliche Herzen. Ich erkenne die brennenden Qualen jeder einzelnen Seele. Vom Augenblick ihrer Geburt bin ich an der Seite der Menschheit, begleite sie bis zu ihrem letzten Atemzug. Allzeit bereit, denn mein ist die Welt.

Während sich der Tag dem Ende neigt und die Geschäftigkeit träge zu werden beginnt, sitze ich hier in diesem Zimmer, bei dir. Deine schwächer werdenden Sinne nehmen mich nur schemenhaft wahr. Ich frage dich ein letztes Mal: „Was darf ich für dich sein, in diesem Moment?“ Obwohl ich es doch weiß, denn du hast deine Wahl getroffen, als dein Verstand noch klar war.
Wir kennen uns seit langem, sind uns oft schmerzhaft begegnet. Unsere Wege gleichen einem verschlungenen Pfad, dessen Ende unabänderlich vorbestimmt ist. Dein ganzes Leben lang beobachtete ich dich aus respektvoller Entfernung. Es ist, als stünde die Zeit gerade in diesem Augenblick nur für uns still. Nur das surrende Geräusch des Ventilators neben deinem Bett durchsticht die Lautlosigkeit. Stunde um Stunde wache ich bereits an deiner Seite, kühle deine fiebrige Stirn, benetze deine spröden Lippen mit erquickendem Nass, sorge mich um deinen Frieden. Ich streife dir das ergraute Haar noch einmal aus der Stirn, berühre dabei zaghaft deine eingefallenen Wangen. Deine geschlossenen Lider zucken, während der Film des Lebens in farbigen Bildern lautlos an dir vorüberzieht. Du ahnst bereits meine Nähe, und doch ängstigt sie dich nicht mehr.
Du kannst ihn nicht hören, den auf- und abschwellenden Ton der dich am Leben haltenden Maschine. Periodisch kehrt er wieder, um kurz darauf zu verhallen. Du spürst nicht die Schläuche, durch die dein geschundener Körper künstlich versorgt wird. Diese letzte Bindung, die dich noch mit dem Leben verknüpft, einem seidenen Faden gleich.

Folge mir für den Wimpernschlag eines vergehenden Augenblickes bis in die Ewigkeit. Fein gesponnene Erinnerung hüllt dich ein wie eine wärmende Decke. Wir wandern gemeinsam über den schmalen Pfad, entlang deines Hauses in Richtung See.
Seit Beginn deines Seins ist dies dein Lieblingsplatz. An keinem anderen Ort warst du glücklicher oder einsamer als hier. Das Gras zu unseren Füßen ist mit Tau bedeckt, einem Teppich aus Diamanten gleich. Dein Gang ist unbeschwert, du spürst keinen Schmerz. Suchend blickst du die Straße entlang und ahnst doch deinen Weg, mehr als du ihn kennst. Warme Sonnenstrahlen schmeicheln deinem Gesicht, ohne es zu verbrennen. Ein Windhauch verfängt sich in deinem Haar, legt es verspielt um deine Schultern. Dort, sieh nur! Lächelnd winkt dir der Mann, den du liebtest zu. Er kommt näher. Du spürst seine Hand, so wie damals, als er dich zum ersten Mal zart berührte. Sein Kuss lässt dein Herz schneller schlagen. Wie groß deine Sehnsucht nach ihm ist, selbst jetzt! Viel zu kurz war die euch gemeinsam geschenkte Zeit. Deine Tränen behieltest du für dich, als er vor Jahren von dir ging. Kein einziger Laut der Klage drang über deine Lippen.
Nun droht er abermals zu entschwinden, zerfließend wie schmelzender Schnee entgleitet er deinem Blick. Lass ihn los! Bleibt er für dich doch immer unvergessen. Halte nicht an, schau dich nicht um, geh einfach weiter!
Siehst du dort – das Kind? Lachend fliegt es auf seiner Schaukel den Wolken entgegen. Immer höher und höher. Erkennst du es? Ja, geh zu ihm. Die Kleine sehnt sich danach. Nur einen winzigen Moment durftest du deine Tochter in den Armen halten, sie mit deiner mütterlichen Liebe umgeben, für sie sorgen. Einen atemlosen Augenblick mit ihr gemeinsam auf der Straße des Lebens gehen. Dann war ihr junges Leben beendet, viel zu schnell und unerwartet. Noch immer spürst du den Druck ihrer kleinen Finger in den Innenflächen deiner Hände. Du trägst keine Schuld. Niemand hätte es verhindern können. Ihre Zeit war gekommen, viel eher als die deine. Hörst du das Lied, das dir deine Mutter immer vor dem Einschlafen sang? Genau wie damals dringt es nun an dein Ohr. Mit melodischem Klang in ihrer Stimme verströmte sie ihre Liebe, verschenkte sie an dich. Sie gibt dir immer noch Geborgenheit, so wie früher. Erinnerst du dich? Geh, geh unbesorgt darauf zu! Sieh nur, ihr Lächeln. Es wärmt dich. Wie lange hast du darauf verzichten müssen? Oft hast du es dir in deinen Erinnerungen vorgestellt.
Erschrick nicht! Der Mann dort wird dir nichts tun, nicht mehr. Er bereut längst, was er dir angetan hat, als du ihn noch „Vater“ nanntest. Vergib ihm! Ihr habt beide genug gelitten. Jeder sein eigenes Leben lang. Er weiß es inzwischen, darum nimm seine Hand als Geste der Versöhnung. Dann wird auch er beruhigt weiterziehen können.
Komm, es ist nun nicht mehr weit. Fast sind wir am Ziel. Nur einen Moment noch.

Der See liegt in kupfernem Abendrot. Schau, wie friedlich es hier ist. Sanft kräuselt sich das Wasser, bricht sich an seinen weiten Ufern. Es umspült deine nackten Füße. Deine Hand taucht hinab, um nach vergangenen Träumen zu greifen. Eine angenehme Schwerelosigkeit umgibt dich. Bist du bereit? Die untergehende Sonne weist mit ihren Strahlen den Weg. Es ist dein Weg!
Lass deine Traurigkeit zurück und werde frei. Breite deine Arme aus, reiche mir deine Hand und fliege mit mir. Leicht wie eine Feder im Wind.

Gleich bleibend die Frequenz der Herz-Lungen-Maschine. Unbemerkt von den Lebenden erheben sich zwei weiße Tauben vom Fenstersims empor in die Lüfte, um in den Wolken, allem Weltlichen entrückt, zu tanzen.

Eingabe 15 August 2005 | 8:23 in Prosa


DER GROSSE COUP von Michael Kuss (Copyright)

„Du nervst mich!” hatte er gesagt und sich die vierte Büchse Bier aus dem Kühlschrank geholt. “Eines Tages werde ich es dir schon zeigen!” Er fläzte sich vor den Fernseher, klickte von RTL über den Sportkanal und flippte das Bier auf. Sie klappte das Bügelbrett zusammen.

“Du willst mir doch nicht erzählen, dass du nicht mal einen Gelegenheitsjob finden kannst!” sagte sie und verstaute seine gebügelten Hemden im Schrank. “Dein Bruder hat sich sogar aufs Fahrrad gesetzt, ist rüber in die Villengegend gefahren und hat Haus für Haus abgeklappert und nach Arbeit gefragt; – Gartenpflege, kleine Hausreparaturen, Wege säubern, – alles Mögliche!” Sie schaute ihn geringschätzig an. Er wird seinen Hintern nie hoch kriegen und eines Tages wird sie mit Willi auf und davon gehen und diese Hanswurst sich selbst überlassen’.

“Ich hab’ keine Ahnung von Gärtnerei! Oder soll ich vielleicht den Reichen ihre Scheiße wegkehren?!” Er zielte und warf geschickt die leere Bierbüchse in den Müllbehälter. “Und mein Bruder Willi! Wenn ich das schon höre! Willst dich wohl an ihn heranmachen! Ihr hängt ja schon dauernd zusammen!“
„Ich will gar nichts!” wich sie aus. “Ich will nur, dass du endlich Geld ins Haus bringst! Wie, das ist mir völlig egal…!”
“Soll ich vielleicht ‘ne Bank überfallen…?” schrie er sie an.
“Großmaul!” sagte sie resigniert. “Bei dir reicht der Mut nicht mal für ‘ne Salami im Supermarkt! Er hatte die volle Bierbüchse in die Ecke geknallt und war wie eine Furie aufgesprungen. “Ich werd’s dir zeigen!” schrie er. Er rannte ins Schlafzimmer, suchte in ihrer Wäsche ein Paar Nylons und steckte sie ein. Unter dem Bett angelte er die Gaspistole hervor. Er knallte die Haustür zu und fuhr mit dem Motorrad weg. `Wieder ‘mal seinen Anfall’, dachte seine Frau. ‘Soll mir recht sein! Wenn er nur nachher Ruhe hält und nicht randaliert!’

Er fuhr rastlos durch den Ort, kippte sich im Anker noch zwei Pils rein und schmiedete Pläne. Eine Bank überfallen! Rein und zwei Geiseln die Knarre vorhalten, die Nylons über den Kopf und der Kassiererin einen Zettel hinschieben: ‘Das ist ein Überfall! Kein Alarm! Keine Polizei! Alle Banknoten hier in den Plastiksack! Sonst gehen die Geiseln hopps!’

Er wurde nachdenklich. Musste es gleich eine Bank sein? Warum nicht eine kleine Post-Filiale hier irgendwo bei uns in der Nachbarschaft?! Ja! Das war die Lösung! Die waren noch schlecht abgesichert und auf dem flachen Land konnte er sich besser aus dem Staub machen als in den Straßen der nahen Großstadt! Mit dem Geld würde er…, zunächst ein neues Auto! Dann Sachen packen und ab in den Süden. Ohne Sabine! Eine Nervensäge! Am Mittelmeer gibt es Weiber wie Sand am Meer! Spanien, große Freiheit! Mein Bruder Willi? Ein Hungerleider! Ein Hinterstuben-Poet ohne Ideen, ohne Initiative! Er, Hans, würde es allen zeigen und vor allem Sabine! Sie würde ihn nicht mehr Großmaul nennen! Es wird zu spät sein! Wer Geld hat, kann bestimmen! Geld schafft Ansehen! Er trank aus, suchte das Kleingeld zusammen, zahlte und fuhr über die Dörfer.

Um Fünf klingelte der Streifenwagen an Sabines Tür. “Ihr Mann hat einen Raubüberfall verübt und ist schwer verletzt!”
„Das darf nicht wahr sein!“ sagte Sabine. „Also doch…!“ Ihre Irritation schien mir echt zu sein.
“Wo…, was…, – eine Bank?” fragte Sabine meine Kollegin.
“Eine Bank?” Die junge Polizistin grinste beinahe ironisch. “Ja! eine Bank! Drüben im Stadtpark hat er auf ‘ner Parkbank einer Oma die Handtasche weggerissen. Bei der Flucht ist er mit dem Motorrad an einen Baum gefahren. Jetzt liegt er in der Notaufnahme vom Kreiskrankenhaus!”

Eingabe 24 Juni 2005 | 8:23 in Prosa

 

Brief an das schluchzende Mädchen von Urte Skaliks (Copyright)

Hallo, du kleines Mädchen. Ich mache mir große Sorgen, wie es dir wohl heute geht. Als ich dich gestern Abend im Nachbarhause so herzzerreißend schluchzen und klagen hörte, konnte ich es zuletzt nicht mehr aushalten und bin über die Straße zu eurem Haus hinübergegangen. Ich kannte dich ja nur vom seltenen Sehen und wußte zuerst noch nicht einmal, daß du es warst, die da schluchzte. Es war nur, daß da ein Kind über eine so lange Zeit so furchtbar weinte und daß ich es sogar in Gefahr glaubte.
Im ersten Stock stand das bunt beklebte Fenster deines Kinderzimmers, das zum Parkplatz hinausgeht, auf Kippe, und ich hörte dich jetzt viel lauter. Verstehen konnte ich aber nicht, was du zu deiner Mutter sagtest, unter lautem Weinen, anklagend, verzweifelt, dich verteidigend. Meine Hallo-Rufe habt ihr nicht gehört, jedenfalls kam niemand ans Fenster. Nur unten war plötzlich ein sehr braun gebrannter junger Mann auf seiner Terrasse. Auf meine Frage, was denn wohl los sei, ob wohl jemand Hilfe brauche, meinte er nur: “Die Eltern sind aber zu Hause” und ging gleich wieder hinein. Bloß nicht hingucken, bloß nicht einmischen.
Ich stand und rief noch ein paarmal, und du hast weiter geschluchzt und verzweifelt geredet. Mehrmals hörte ich dazwischen eine, wie mir schien, ruhige Frauenstimme zu dir sprechen. Wenigstens wird hier wohl doch keiner mißhandelt, niemand schreit das Kind an, dachte ich mir, zögerte wieder, horchte. Nur einmal glaubte ich einen halben Satz zu verstehen, den du sagtest: “Aber ich hab doch gar nichts davon gewußt…”. Nochmal Hallo und Hallo, aber keiner kam ans Fenster. Ich konnte mich nicht entschließen zu klingeln, weil ich sonst niemand in eurem Haus kenne. Mir wurde allmählich sehr kalt, und ich ging schließlich wieder zu mir.
Kurz darauf ließ es mir doch wieder keine Ruhe, und ich wollte anschellen und fragen, ob ich helfen könnte. Ich zog mir etwas Wärmeres an und ging noch einmal über die fast schon dunkle Straße und schaute vom Parkplatz aus zu deinem Fenster hinauf. Inzwischen hatte jemand das Licht im Zimmer angemacht, ich hörte aber jetzt nichts mehr. Und entdeckte plötzlich auf eurem Balkon deine kleine Gestalt, volles Gesichtchen, dunkle Haare.
Hier hat vorhin ein Kind so furchtbar geweint – warst du das wohl? Und du nicktest und begannst wieder zu schluchzen, so klein und so allein da oben hinter der gelb-weiß gestreiften Balkonverkleidung. Das tut mir so schrecklich leid für dich. Du horchtest auf, du hast heftig geschluckt. Es geht dir jetzt ein kleines bißchen besser? Nicken und Hmhm. Etwas später: Kann ich dir irgendwie helfen? Kopfschütteln. Wir kennen uns ja vom Sehen. Nicken. Ich wohne ja da drüben. Du wußtest es. Wir haben uns früher einmal gesprochen, als der kleine türkische Junge von nebenan so angegeben hat. Wenn du mal über was reden möchtest, könntest du mich vielleicht mal besuchen kommen? Du nicktest. Und die ganze Zeit hast du noch laut geschluckt und mit deinen Tränen gekämpft und hast zur Seite geschaut über den Parkplatz hinweg zum kleinen Bauernhaus.
Und niemand, und da kam niemand, der dich in den Arm genommen hätte. Und ich hätte nicht das Recht dazu gehabt. Und ich wagte es nicht, bei euch zu klingeln. Dabei ging es dir noch gar nicht wirklich wieder gut, dabei hättest du noch so viel Trost gebraucht, dabei warst du so schrecklich, so herzzerreißend tapfer, kleines Mädchen.

Am nächsten Tag war die Jalousie deines Zimmers um halb zwölf noch nicht wieder hochgezogen. Ich dachte, du schliefest dich nun einmal richtig aus, denn eure Ferien hätten begonnen. Aber in der Stadt sah ich dann Kinder, die eben erst aus der Schule kamen, denn erst heute ist der letzte Schultag gewesen. Heute muß es Zeugnisse gegeben haben. Ob du vielleicht nicht in die Schule mußtest, weil du etwa nicht versetzt worden bist? Früher war das so, daß man es vorher erfuhr und nicht zu kommen brauchte. War es vielleicht das, was euch gestern so gequält hat?
Und wenn es das wäre, dann laß dir aber nicht einreden, du seiest dumm. Du hast mir einmal etwas sehr Kluges erzählt, damals, als ich die kleine verlassene Katze gefunden hatte. Weißt du noch, über den kleinen Angeber? Du wußtest, daß er immer so auf seinem Kinder-Rädchen herumrast und sich hinwirft und so laut schreit. Hilfe schreit er, einfach so, und dann denkt er sich noch Geschichten aus, was er alles habe, und das hat er aber gar nicht? Er habe auch eine kleine Katze, hat er uns erzählt, und bei dir hat er behauptet, außerdem habe er noch einen Adler. Und du wußtest von selber, daß das gar nicht stimmt. Weißt du noch?
Aber d u hast nicht um Hilfe gebeten, und dabei hättest du sie so nötig gehabt. Kinder sind oft so schrecklich allein, ich glaube sogar, auch der kleine Angeber.
Abends war deine Jalousie immer noch geschlossen. Ich sehe auch sonst keine Bewegung hinter euren Fenstern. Seid ihr inzwischen vielleicht schon längst in Urlaub gefahren? Es stehen nicht alle Autos auf dem Parkplatz. Ich behalte euer Haus im Blick und werde einfach trotzdem klingeln, wenn wieder jemand zu Hause ist. Und ich werde deiner Mutter sagen, daß ich mir Sorgen gemacht habe, und fragen, wie es dir jetzt geht. Und dann könntest du kommen und ein bißchen mit den Katzen spielen.

Eingabe 29 Dezember 2004 | 9:23 in Prosa


EIN UNBEZAHLBARER HAUPTGEWINN von Heidi Muell (Copyright)

Voller Erwartung bestieg ich die Chessna – und klopfte mir selber auf die Schulter, weil ich so schlau gewesen war, an dem Preisausschreiben teilzunehmen.
Denn ich hatte ihn gewonnen, den Freiflug – und ich war ja so aufgeregt! Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Flugzeug betrat.
Die Motoren heulten auf, die Chessna rollte auf die Startbahn, gab Gas und hob sachte ab in den Himmel. Es war unbeschreiblich schön – wir flogen über meine Heimatstadt und ich sah alles aus meiner erhabenen Perspektive…. erkannte meine alte Schule, den großen Supermarktcenter, die Autobahn. Wie winzig die Autos doch von hier oben aussahen – alles schien so unwirklich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie der eine Autofahrer sich gleich ärgern würde, weil hinter der Kurve ein langer Stau auf ihn wartete… aber mich, mich konnte dieser Stau nicht jucken! Dann überflogen wir das Waldstück, in dem ich so viele Spaziergänge mit meinen Eltern und später meinem Freund unternommen hatte. Es sah so klein aus von hier oben – und doch waren wir da unten oft Stunden lang unterwegs gewesen.
Plötzlich machte das Flugzeug ein eigenartiges Geräusch und gab einen Ruck. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass wir uns plötzlich im raschen Sinkflug befanden. Ich hatte Angst vor dem Tod. Dann ein Aufprall. Ich sah auf einmal alles aus der Vogelperspektive: wie die Chessna abstürzte, wie ich heraus geschleudert wurde, wie ich auf einer harten Grasfläche lag, mit einer Decke zugedeckt. Eigenartiger Weise konnte ich hören, was die Menschen neben mir dachten, ich konnte die Angst meiner Mutter spüren, obwohl sie gar nicht am Unfallort war. Dann wanderte ich zusammen mit vielen anderen Menschen auf einem Weg. Dieser Weg war steinig und schlängelte sich einen Berg hoch. Wir hatten alle Öllampen und einen Behälter mit Öl dabei und sollten acht geben, dass diese Lampen auch bis zu unserem Ziel brannten. Das Brennen der Lampen und der Öl-Vorrat standen in direktem Zusammenhang mit unserer Liebe zu Gott. Gott – ich hatte wohl geglaubt an einen Gott während meines bisherigen Lebens, aber mich nie mit Bibel oder Kirche näher beschäftigt. Auf dem Weg wurde jeder von uns an seiner schwächsten Stelle geprüft. Nur wer Gott wirklich bedingungslos liebte, hatte die Kraft, die ihm gestellten Aufgaben zu meistern. Vielen war es zu mühsam, sie ließen in ihrer Liebe nach, das Öl reichte nicht aus und ihre Lampen erloschen. Am Ende des Weges kamen wir an einem Haus an, und es brannten nur noch ein paar vereinzelte Lampen. Wir wenigen saßen dann in dem Haus im Keller bei Kerzenlicht und verschlossenen Fenstern und Türen. Draußen tobte es schlimm und ich hatte Angst. Gott hatte uns aufgetragen unter keinen Umständen Fenster oder Türen zu öffnen. So sollten wir drei Tage und drei Nächte ausharren, bis es draußen wieder still geworden war. Als der „Sturm“ vorbei war und wir uns nach draußen wagten schien die Sonne. Es war strahlend hell und warm und alles war klar. Aber die Harmonie, der Frieden und die Liebe, von der wir erfasst wurden, waren unbeschreiblich. Nach unserer langen Wanderung und der Zeit im Keller waren wir in eine von Liebe erfüllte Welt hinausgetreten. Gleichzeitig fühlte ich den starken Willen, wieder aufzuwachen – aber es gelang mir nicht. Da fühlte ich, wie mein Körper wie durch einen Strudel nach unten gezogen wurde, es gab abermals einen dumpfen Aufprall. Zunächst hielt ich alles für einen Traum. Ich dachte, ich würde zuhause im Bett liegen und hätte einen Alptraum. Immer noch spürte ich die Decke auf mir, welche die Illusion auslöste, im Bett zu liegen. Doch ein Traum? An meinem Kinn kitzelte etwas, ich schmeckte Blut…. nein, es war kein Traum.
“Wir haben sie wieder!” hörte ich die erregte Stimme eines Arztes über mir.
Ein Gedanke ließ mich nie mehr los, und das wird der Grund sein, warum ich unbedingt zurück wollte: Du hast deine Aufgabe noch nicht erfüllt und es ist für andere Menschen wichtig, dass du auf der Erde bleibst. Der gewonnene Freiflug hatte mir mehr geschenkt, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Eines Tages werde ich zurückkehren in die Liebe, in das Licht und die Harmonie, die ich für einen kurzen Augenblick erfahren durfte.

Eingabe 26 November 2004 | 9:23 in Prosa


DUMME ERFINDUNG von Heidi Muell (Copyright)

Es war ein schwüler Sommertag in Berlin, und ich hatte eigentlich wenig Lust meiner Arbeit nachzugehen. Mein Gelderwerb bestand darin, Briefe nach den Wohnorten ihrer Empfänger zu sortieren. Viele dieser Briefe stammten von den an der Front für Deutschland kämpfenden Soldaten.
Eines Tages erhielt ich einen Schwung Briefe, die beschädigt waren. Die Neugier packte mich und ich öffnete einige und las…. Erstaunlich, welche Erlebnisse diese Männer durchzustehen hatten, welchen Entbehrungen und Ängsten sie ausgesetzt waren. Ganz besonders fielen mir die Briefe eines bestimmten Mannes auf, an seine Mutter gerichtet und von einer auffallenden Sensibilität geprägt.
An diesem schwülen Sommertag verspürte ich eine gewisse unheilvolle Spannung, denn es war bereits eine ganze Zeit lang her gewesen, seit das letzte Mal ein Brief von ihm durch meine Finger ging. Und Krieg war eben Krieg, Front war eben Front – ein ständiger Risikoherd. Wie erleichtert war ich, als ich endlich einen Brief mit der inzwischen wohlbekannten Handschrift erspähte, und riss ihn förmlich auf.
Was darin stand, gab mir einen Stich ins Herz – Heinrich, so hieß er, war angeschossen worden und lag nun im Lazarett.
An diesem Tag wurde in mir ein Entschluss geboren.
Ich wollte diesem Mann schreiben! Aber was? Warum nicht einfach liebe Grüße aus der Hauptstadt schicken! Gedacht – getan.
Es dauerte auch gar nicht lange, da bekam ich Antwort. Er schrieb, mein unerwarteter Brief habe große Freude bei ihm ausgelöst, und gern würde er mehr über mich erfahren.
So kam es zu einem regen Briefaustausch zwischen uns. Wir verliebten uns ineinander – ohne und jemals gesehen zu haben.
Mein Muttchen freute sich für mich, wenn eine gewisse Skepsis auch nicht aus ihrem Kopf herauszutreiben war.
Heinrich konnte so wundervolle Briefe schreiben, voller Gefühl und Romantik. Ich hätte furchtbar gern ein Foto von ihm gehabt! Aber es war einleuchtend, dass ein in den Krieg ziehender Soldat selten Fotos von sich mitnimmt. Andererseits war ich auch nicht dumm. Ich hatte eine Idee. Schließlich wusste ich ja die Adresse seiner Eltern. Mein Muttchen war Handelsvertreterin, sprich sie ging von Tür zu Tür und bot diverse Waren zum Verkauf an. Meine Idee nahm konkrete Gestalt an. Ich heuerte Muttchen an, eine ganz bestimmte Straße in Berlin aufzusuchen und dort ihre Waren anzubieten.
Weil – wäre sie erst mal drinnen in dem Haus, dann konnte sie sich dort ja einmal nach einem Foto von Heinrich umschauen, das sie mir dann beschreiben konnte.
Muttchen erklärte mich zwar für komplett verrückt, ging jedoch schließlich darauf ein.
„Wir kaufen nichts!“ wurde sie an besagter Adresse freundlich aber bestimmt abzuwimmeln versucht. Ihrer in unserer Familie typischen Hartnäckigkeit war es zu verdanken, dass Heinrichs Mutter sich zum Schluss um des lieben Friedens willen bereit erklärte, sich die Waren doch wenigstens einmal unverbindlich anzuschauen.
Leider ging mein Plan trotzdem nicht auf.
Sie fand kein Foto von Heinrich – zumindest nicht in dem Raum, in dem sie ihre Ware präsentieren durfte. Und irgendwie ging ihr dann dummerweise die Fantasie aus, sich einen Grund zu überlegen, sich auch noch die anderen Räume anschauen zu dürfen. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Ungeduld noch ein Weilchen zu bezähmen, bis ich meinen Traummann in Natura sehen durfte.
„Kind, bitte denke daran, dass er das bleiben könnte – eben nur ein Traummann, der in Wirklichkeit deinen Vorstellungen vielleicht überhaupt nicht entspricht!“
Papperlapapp, davon wollte ich nichts hören – aber auch gar nichts! Jemand, der so schöne Briefe schreiben konnte, der entsprach sehr wohl meinen Vorstellungen.
Ein paar Monate zogen ins Land, der Krieg war vorbei, und endlich war der große Tag gekommen: Heinrich durfte heimkehren. Zum ersten Mal würden wir uns persönlich gegenüberstehen.
Ich war Tage vorher zappelig und konnte den Augenblick nicht mehr erwarten.
Dann schauten wir uns zum ersten Mal in die Augen.
Das war vor 56 Jahren. Gestern, am 18. September, haben wir unseren 55. Hochzeitstag gefeiert.
Postgeheimnis? Meiner Meinung nach eine sehr, sehr dumme Erfindung von sehr, sehr dummen Leuten.

Eingabe 26 November 2004 | 9:23 in Prosa

ICH BIN DEINE HEIMAT von Steffi Beckmann (Copyright)

“Ich bin deine Heimat” flüsterte er. “Geh weg”, schrie ich ihn an, “du lügst”. Blind vor Zorn wandte ich mich von ihm ab. Auf gar keinen Fall konnte es so sein, wie er sagte. Niemals. Meine Heimat ist tot. Genau wie ich. Was fiel ihm eigentlich ein, mir solch eine ungeheuerliche Lüge als Wahrheit verkaufen zu wollen?
“So beruhige dich doch”, sprach er. “Glaube und vertraue mir.” Wie konnte er nur. Mich in meinem Schmerz derart zu verhöhnen, einfach widerlich. Ich schloss meine Augen und verschloss mein Herz. Nein, auf keinen Fall wollte ich zulassen, dass er zu meiner Heimat wird. Zu sehr hatte er mich gepeinigt, verunsichert, gehetzt. Die vielen Jahre in denen ich ihm vertraute. Wieder und immer wieder. Einmal muss es ein Ende haben.
Erbost über seine allgegenwärtige Liebe zischte ich ihn an: “Was denkst du wer du bist? Wie kannst du nur behaupten ausgerechnet du wärest meine Heimat?” Gütig lächelte er und sah mich an. “Du bist hier, hier bei mir. Du hast auch heute wieder zu mir gefunden. Doch deine Suche wird hier längst nicht beendet sein.” Ich spürte wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Am liebsten wäre ich schreiend davon gelaufen. Doch ich blieb. “Wenn es so wäre, wie du sagst, wo warst du all die Jahre? Warum hast du mich nach dir suchen lassen? Du warst nie für mich da, als ich dich dringend brauchte.”
“Doch, ich war immer in deiner Nähe. Und du weißt es, sonst wärst du nicht hier”, sagte er. Fast verlor ich den Verstand. Wovon redete er? Ich hätte seine Nähe gespürt, mit Sicherheit, wenn er Recht hätte. “Komm, ich zeige es dir.” Zwar sträubte ich mich, letztendlich ging ich mit ihm. Ich wollte ihm eine allerletzte Chance geben. Oder wollte ich diese Chance für mich?

Brennende Häuser, schreiende Frauen, weinende Kinder. All das zeigte er mir. Ich verstand nicht was er von mir wollte. “Ich sehe Tod und Verderben und all das lässt du geschehen? Du bist ein Mörder!”, schrie ich ihm zu.
“Nein”, sprach er. “Ich bin die Heimat all dessen, was du siehst. Nicht ich lasse es geschehen, ihr lasst es geschehen. Ich bin machtlos. Es betrübt mich genau wie dich, doch ich kann es nicht ändern. Schau ganz genau hin.”
“Du willst es nicht ändern”, rief ich verzweifelt. “So unternimm doch endlich etwas. Mach diesem Spuk ein Ende, ich flehe dich an”. Aus gütigen Augen sah er mich an, streifte meine Wangen und strich sanft über mein Haar.
“Du kannst es ändern. Du bist Teil all dessen und du hast die Kraft. Steh auf und glaube daran. Vertraue darauf, ich bin deine Heimat”.

Als ich bereit war meine Augen und mein Herz wieder zu öffnen, verzogen sich die Rauchschwaden der letzten Granateneinschläge. Ich erhob mich aus dem Staub der verbrannten Erde und dankte ihm, dass ich am Leben war.

Eingabe 10 Oktober 2004 | 8:23 in Prosa

 

 


SPIEL MIT DEM FEUER von Christa Schmid-Lotz (Copyright)

„Lass mich heute Abend nicht allein, Christian. Bitte!“
„Mom, ich hab ein Treffen mit meinen Kumpels. Ich kann dir doch nicht jeden Abend beim Saufen zuschauen!“
Die Flaschen und Gläser fielen klirrend um, als sie sich erhob. Schwankend stand sie vor ihm; ihr Alkoholdunst stieg ihm in die Nase.
„Du wirst schon sehen, was du davon hast. Wenn mir was zustößt, wirst du dir ewig Vorwürfe machen!“
„Ich kann nicht dauernd auf dich aufpassen. Du musst selber wissen, was du tust.“
„Du bist schlimmer als dein Vater; der hat mich auch immer nur allein gelassen!“
„Er wird seine Gründe gehabt haben.“
„Wie kannst du nur so abgrundtief böse sein? Ich hab mich für dich aufgeopfert und du guckst mich bloß noch mit den Arschbacken an!“
„Wer kann denn hier niemandem in die Augen sehen? Du fixierst doch die Wände, wenn du mit mir sprichst!“
„Das lass ich mir nicht mehr bieten. Verlass sofort mein Haus. Verschwinde!!“

Sie fiel wie ein Sack aufs Sofa und sah sich hilfesuchend nach dem Kater um.
„Komm, Peterle, wir machen es uns vor dem Fernseher gemütlich.“
Das Tier machte einen Buckel und schoss fauchend davon, als Sigrid ihre Hand nach ihm ausstreckte. Christian schlug die Haustür hinter sich zu, setzte sich hinter das Steuer seines Golfs und raste los. Er sah ihre anklagenden Augen vor sich. Ich werd noch verrückt, dachte er und öffnete die Tür der Kneipe. Stimmengewirr und Rauchschwaden schlugen ihm entgegen.
„Hi, Christian. Schön, dich mal wieder zu sehen! Lässt dich ja kaum noch blicken!“ „Hi, Steffen. Ich fahr abends Taxi, um mein Taschengeld aufzubessern. Machst du mir mal ein Hefeweizen? Und ne Runde „Feigling“ für meine Kumpels.“
Durch die Musik von „Santana“ hindurch hörte Christian ein Telefon schrillen.
Oh nein, bitte nicht, dachte er.
„Christian, deine Mutter ist am Telefon,“ hörte er Steffen rufen.
Er ging hinter den Tresen und hielt den Hörer an sein Ohr.
„Mom, was ist denn schon wieder? Du sollst mich doch nicht in der Kneipe anrufen!“
Ihre Stimme war ganz weit weg und vor Lallen kaum zu verstehen.
„Peterle ist tot. Er liegt da und rührt sich nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich möchte nicht mehr leben!“
Da war es wieder, dieses Gefühl. Tief in seinem Bauch spürte er ein Ziehen, das sich ängstlich bis zum Herzen fortsetzte und es zum Flattern brachte. Seine Hände waren feucht und wie gelähmt.
„Leute, ich hab einen Sondereinsatz. Jemand in der Taxifirma ist krank geworden. Tschau, bis dann!“
Vor der Tür atmete er tief durch. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr so schnell es ging nach Hause. Von dunklen Ahnungen bedrängt, betrat er die Wohnung. Alkoholdunst schlug ihm aus dem Wohnzimmer entgegen. Das Herz schlug ihm gegen die Brust. Würde sie …? Aber seine Mutter saß quietschvergnügt auf dem Sofa und hielt in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen das Wodkaglas. Aus dem Fernseher dröhnten Lachsalven. Peterle streckte bei seinem Anblick die Krallen aus, riss einzelne Fäden aus dem Stoff, dehnte sich und schnurrte.
„Was soll denn dieses Affentheater? Wieso holst du mich aus der Kneipe, wenn überhaupt nichts passiert ist?“
„Die Kneipe ist nichts für dich. Da lernst du bloß das Saufen und Kiffen.“
„Das Saufen? Von wem habe ich das gelernt?“
„Von deinem Vater. Der hatte doch nur Augen für Schnaps und die Hinterteile der Mädchen!“
„Und was machst du die ganze Zeit? Du stehst ihm in nichts nach – was das Saufen betrifft.“
„Wie kannst du so was sagen. Ich brauche halt ab und zu mein Entspannungsschlückchen.“
„Ja, ja, so lange, bis du völlig entspannt und scheintot daliegst!“
Sie schwieg und glotzte trübe vor sich hin.
Christian wandte sich zur Tür:“ Ich habe wenigstens keine Lust, mein Leben in diesem Loch zu verbringen. Ich geh jetzt noch auf eine Party.“
„Christian, du kannst mich doch nicht allein lassen. Ich brauch jemanden zum Reden!“
„Dann red doch mit Peterle!“

Das zweite Mal an diesem Abend schlug er die Tür hinter sich zu. Er fuhr zu dem Haus, wo eine Party für jedermann angesagt war, mischte sich unter das Volk, trank, tanzte, redete, lachte, knutschte mit einem Mädchen und begann allmählich, die Situation daheim zu vergessen. Da klingelte das Telefon. Sein Herz rutschte in die Hose.
Ihre Stimme klang ganz dünn und verzweifelt. Sie keuchte.
„Christian, ich habe ein Röhrchen Schlaftabletten geschluckt. Alle sind so böse zu mir, niemand hat mich lieb.“ Ihre Stimme überschlug sich fast: „Ich kann dieses Leben….“
Ein Röcheln, dann war die Leitung tot. Er zögerte. Und wenn nun doch … Er legte auf und bestellte einen Krankenwagen. Es hatte keinen Sinn mehr, länger hier zu bleiben. Christian verließ ungesehen die Party und fuhr noch einmal nach Hause. Der Krankenwagen stand mit Blaulicht vor der Tür.
„Haben Sie uns gerufen?“
„Ja, meine Mutter hat einen Selbstmordversuch unternommen! Kommen Sie schnell.“
Als sie ins Wohnzimmer kamen, sahen sie Sigrid mit verdrehten Augen vor dem Sofa liegen.
Erbrochenes klebte auf dem Teppich, es roch sauer und scharf. Die Sanitäter fassten sie an Armen und Beinen und wollten Sie auf die Trage legen. Da wurde sie plötzlich wieder ganz lebendig.
„Was geht hier vor?“, kreischte sie, „kann man nicht mal mehr in Ruhe sein Schnäpschen trinken?“
„Wir bringen Sie ins Krankenhaus. Da wird man Ihnen helfen.“
„Ich brauch kein Krankenhaus. Mein Sohn sorgt gut für mich.“
„Dann tut es uns leid. Gegen ihren Willen können wir Ihre Mutter nicht wegbringen.“
Als sie allein waren, sah sie ihn mit einem triumphierenden Lächeln im aufgeschwemmten Gesicht an. Aus dem Mund rann ihr der Speichel.
„Mom, Du bist verrückt. Du machst mich verrückt! Ich halte es keine Sekunde mehr aus!“
„Du biss mein Sohn, Du hass mich lieb…“
„Ich fahre jetzt zu Daniel und komm nicht mehr zurück!“
Rums, die Tür war zu.
Daniel sah besorgt aus, als er ihm öffnete.
„Sie macht dich wirklich kaputt. Du kannst erst mal bei mir wohnen, bis du was Richtiges gefunden hast.“
Christian ließ sich in einen Sessel gleiten und nahm dankbar das Bier, das Daniel ihm hingestellt hatte. Da schrillte das Telefon. Daniel bedeutete ihm, sitzen zu bleiben.
„Sie sagt, sie steht auf dem Fenstersims. Mit dem Handy in der Hand. Sie erpresst dich, und sie wird dich immer weiter erpressen, solange sie lebt.“„Aber wir können doch nicht einfach gar nichts tun!“

„Ich werde für dich hinfahren.“
Christian nickte schwach und nagte an seiner Unterlippe.
Er hörte den Wecker überlaut ticken.

Nach etwa einer Stunde kam Daniel zurück. Er hatte ein Grinsen in den Mundwinkeln.
„Was ist passiert?“
„Als ich zu eurem Haus kam, schaute sie aus dem Fenster, das Glas neben sich. Als sie mich sah, rief sie unflätig: `Was wollen Sie denn hier, ich hatte doch meinen Sohn bestellt!’
‚Der hat sich jetzt ausgehampelt,’ sagte ich. ‚Sie können ihr Schnapstheater woanders abziehen!“
„Und dann? Was hat sie dann gemacht?“
„Dann kam das Wodkaglas aus dem Fenster geflogen. Danach die Flasche. Hat mich um Haaresbreite verfehlt.“
„Und dann? Jetzt spann mich doch nicht so auf die Folter!“
„Dann kam sie selbst heraus, im Nachthemd, mit Pantoffeln an den Füßen. Sie trug einen Korb mit Flaschen, alle voll, wackelte zum nächsten Abfalleimer, schüttete den Schnaps hinein und zündete ihn an. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, drehte eine missglückte Pirouette, verbeugte sich tief und übergab sich dabei. Den Kopf in die Höhe gereckt, die Brust herausgedrückt, marschierte sie würdevoll zurück ins Haus.“

Eingabe 30 September 2004 | 8:23 in Prosa

FLUCHT NACH VORNE von Christa Schmid-Lotz (Copyright)

Dimitri hat mir erzählt, dass ein Fremder ins Dorf gekommen sei, ein Deutscher. Es kann nichts Gutes zu bedeuten haben.
Die Dunkelheit fällt schnell herab, wie immer hier im Süden. Nachdem der letzte Fischer gegangen ist, drücke ich Dimitri ein paar Euro für das Thunfischsteak in die Hand und gehe in Richtung meiner Strandhütte. Es ist so finster, dass ich mir den Weg mit der Taschenlampe suchen muss. Etwas Glitzerndes liegt im Sand. Der Schreck lähmt mich vom Scheitel bis zur Sohle: es ist Martins silbernes Feuerzeug. Es lag neben ihm auf dem Tisch, immer an derselben Stelle, und er zündete sich seine Zigaretten damit an, die Hände schützend um die Flamme gelegt. Zitternd greife ich danach, es brennt wie Feuer in meiner Hand. Mit letzter Kraft laufe ich zum Meer und werfe es in hohem Bogen hinein.
Mit einem leisen Schmatzen ist es verschwunden.

Ich schließe die Tür, ziehe mich aus, versuche zu schlafen. Mir ist heiß, ich werfe das Bettzeug auf den Boden, streiche mir über den schweißnassen Bauch. Alles hatte ich hinter mir gelassen, war mit Bus und Zug, Flugzeug, Schiff und Eselskarren in dieses Land gekommen, hatte die etwas träge, selbstverständliche Lebensart dieser Menschen in mich aufgesogen, hatte versucht, sie zu imitieren. Doch der Albtraum war nicht zu überwinden gewesen. Immer wieder kochte die Vergangenheit hoch, so sehr ich mich bemühte, das Licht dieser Landschaft, die Heiterkeit ihrer Menschen in mich eindringen zu lassen. Ich bin müde vom Treiben der Welt, sitze wie gelähmt am Wegesrand. Wohin ich auch gehe, diese Bilder in meinem Kopf sind da. Es ist mir nicht gelungen, sie auszulöschen, so sehr ich auch gerannt und gefahren bin.
Als ich endlich im Zug saß, kam ich etwas zur Ruhe. Es waren alte Waggons aus der früheren DDR, fast meinte ich, die Lokomotive schnaufen zu hören. Und die Fenster konnte man auch noch öffnen. Der Fahrtwind blies mir die krausen Gedanken weg. Ich bin frei, dachte ich, jetzt kann mir nichts mehr passieren. In dem Land, in das ich fuhr, waren wir glücklich gewesen, in einer Zeit, als das Leben noch lebenswert war. Meine Lider werden schwer. Plötzlich falle ich in ein Loch, meine Füße zucken. Bumm! Hastig richte ich mich auf. Mein Herz rast. Jemand hat ans Fenster geklopft, hat versucht, die Tür zu öffnen! Ich springe aus dem Bett, ziehe mir das Kleid über den Kopf. Die Läden klappern. Es ist der Wind, denke ich. Vorsichtig öffne ich die Tür. Wolken ziehen schnell vorüber, die abendliche Brise hat sich zu einem Sturm ausgewachsen. Mit weichen Knien gehe ich hinaus, höre die Grillen durch das Tosen und das nun lautere Donnern der Brandung hindurch, sehe die Schatten der Pinien über den Strand zucken. Der Sturm zerrt in meinen Haaren. Jetzt sehe ich es: eine Gestalt steht am Rand des Waldes und schaut zu mir herüber. Ich renne zurück ins Haus. Mein Herz schlägt bis zum Hals, meine Hände zittern. Die alte Wunde im Bauch brennt wie Feuer.
Hier bin ich nicht sicher, bin es niemals gewesen. Meine Knie schlottern, hektisch schaue ich mich um nach einem Versteck. Draußen knirschen Schritte durch den Sand. Der Schlüssel klappert leise und fällt klirrend auf den Boden. Wie ein Embryo kauere ich mich zusammen, die Arme um die Schultern geschlungen, den Kopf auf dem Boden. Ob er ein Messer hat? Die Haut zwischen meinen Schulterblättern spannt sich und vibriert. Wie lange wird es dauern, bis ich den Einstich spüre, bis es dunkel um mich wird? Die Kälte des Steinfußbodens kriecht in mein Hirn, macht es eisig klar, lässt die Bilder ungefiltert auf mich einstürzen. Meine Gedanken jagen sich, die Eisenbahn fährt im Kreis herum, immer schneller, in einem rasenden Wirbel; gleich wird sie aus den Schienen springen. Es wird dunkel.

Langsam komme ich zu mir. Die Sonne scheint durch die Ritzen der Fensterläden. Mühsam erhebe ich mich und trete vor die Tür. Der Sturm hat sich gelegt, kleine Wellen kräuseln das Meer. Natürlich ist niemand da gewesen, das Unwetter hat mir die nächtlichen Geschehnisse suggeriert. Meine Phantasie war schon immer etwas lebhaft, und schwache Nerven hatte ich von Kindheit an.
Das Knurren meines Magens schreckt mich auf, aber es ist nichts mehr im Haus. Warum musste ich mir auch dieses gottverlassene Nest aussuchen? Ich werde von diesem Ort verschwinden müssen, lieber heute als morgen. Oben im Kafenion ist ein Busfahrplan.

Mit dem kleinen Rucksack auf dem Rücken breche ich auf ins Dorf. Es ist gut, in Bewegung zu sein. Die Sonne steht schon hoch, und es ist brüllend heiß. Der Weg führt durch einen Olivenhain. Jeder meiner Schritte wirbelt Staub auf. Steil geht es den Berg hinauf, der Pfad führt schwindelerregend an einem Abgrund entlang, dessen Rand mit Ginster und Krüppelkiefern bewachsen ist. Weit unten glitzert das Meer. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Schließlich erreiche ich das Dorf, betrete den einzigen Laden. Es klingelt, ich zucke zusammen. Es ist nur der Vorhang aus Perlenschnüren. Ich kaufe Brot, Schafskäse und Milch, dann gehe ich hinüber zum Kafenion. Der Bus nach Athen fährt erst Morgen.
Wieder zurück zum Strand. Vielleicht haben meine Nerven mir einen Streich gespielt, und ich habe das Feuerzeug damals selber eingesteckt und hier verloren. Aber ich bin zu unruhig, um länger bleiben zu können. Noch eine Nacht in diesem Haus überlebe ich nicht.
Gehetzt setze ich Fuß vor Fuß, schaue mich immer wieder um. Der Mittag lastet schwer über der Landschaft, der Himmel wabert. Die Grillen haben ihr grelles Zirpen beendet. Da sehe ich eine Gestalt stehen, mitten auf dem Weg. Mein Herz macht einen Satz und rast doppelt so schnell weiter; die Füße sind wie gelähmt, und ich spüre den Schweiß auf der Haut, wie er eiskalt die Schenkel hinunterrinnt.

Eingabe 30 September 2004 | 8:23 in Prosa


ANTON UND MARGOT von Steffi Beckmann (Copyright)

Eisig schneidet der Frost seine Kerben in die müden Gesichter. Erschöpft und ausgezehrt kauern vor Kälte zitternd Gestalten in dem Kellerloch nebeneinander. Schmutzig, zerlumpte Elendshaufen, am Ende ihrer Kräfte. Anton versucht auf einem Fetzen Papier den Rest seiner Gedanken zu ordnen so gut es geht. Mit steif gefrorenen Fingern umklammert er einen Bleistiftstummel als ob sein Leben allein davon abhängt. Kaum leserlich kritzelt er mühevoll Buchstabe für Buchstabe. Um ihn herum tobt ein heftiger Schneesturm. Der Atem gefriert bereits kurz nachdem er verbraucht den Körper verlässt. Seine Beine spürt er schon längst nicht mehr. Den nagenden Hunger, der ihm durch die Gedärme rast umso mehr. In seinem Kopf versammeln sich die Gedanken um das Liebste in seinem Leben.

Margot, süße 19 Jahre. Lachend hatte sie ihm zugewinkt, jeden Tag wenn er auf dem Weg zur Arbeit an ihr vorbei radelte. Mehr als drei Sommer ist es inzwischen her, als er sie zum ersten Mal sah. Für ihn die ganz große Liebe. Zweifellos, sie sind füreinander bestimmt. Er hat es ihr zugeflüstert, beim Abschied auf dem Bahnsteig. Anton hatte ihr im Abfahrtsgetümmel liebevoll den kleinen goldenen Ring angesteckt. Aus strahlend blauen Augen sah sie zu ihm auf und versprach zu warten, auf seine Rückkehr. Ganz bestimmt. Der Dampf, welchen die Lokomotive bei der Ausfahrt entlud, hüllte sie zurückbleibend in eine zarte Wolke ein. Winkend entschwand sie langsam seinen Blicken. Das Bild eines Engels, so behält er sie in Erinnerung. Sein Engel.

Dicht neben ihm zerreißt das Kreischen der einschlagenden Granate ohrenbetäubend die Winternacht. Fast zeitgleich hört er den röchelnden Aufschrei seines Kameraden. Erdklumpen vermischt mit Eis und Steinbrocken prasseln auf ihn nieder. Blut rieselt durch die Reste der ehemals so stolzen Uniform. Einen kurzen Moment hebt Anton seinen Kopf. Stumpfsinnig starrt er ins Leere, während seine Finger sich um den Papierfetzen krampfen. Aus einiger Entfernung dringen unverständliche Schreie an sein Ohr. „Behrends, es hat ihn erwischt. Verdammt noch mal. Wo bleiben die Sanitäter!“. Stimmengewirr, das vom schneidenden Ton des Befehlsführenden zerbrüllt wird. „Deckung!“ Erneut reißt Kugelhagel die Realität in Fetzen. So geht es seit vielen Tagen und Nächten, ohne Pause.
„Mein Liebstes“, kritzelt Anton eilig weiter, „ gewiss wird es nicht mehr lang dauern und ich werde heimkehren, zu Dir. Wir alle werden heimkehren, schon bald. Es geht mir gut. Bitte pass auf Dich auf und verliere niemals Deine Hoffnung und Zuversicht.“ Das Flackern der Notbeleuchtung treibt Anton zur Eile. Zu viel gibt es zu sagen, nur weniges darf er schreiben. Längst hat ihn der eigene Glaube verlassen, wie viele seiner Kameraden. Jedoch kann er das den Daheimgebliebenen nicht erklären. Zumindest nicht jetzt. Sie würden sich sorgen, mehr noch als sie es ohnehin schon tun.
Zu Hause, wie das klingt. Zu Hause, fast schon hat er vergessen wie es sich anfühlt. Sein Platz ist hier. In dieser eisigen Kälte. Ohne Aussicht auf ein absehbares Ende. Oft hat er sich gefragt, nach dem Sinn des Ganzen. Anfangs war er überzeugt das Richtige zu tun. Doch schon längst plagen ihn Zweifel. „Wir werden niemals wieder getrennt sein.“ schreibt er weiter. „Wenn das hier alles vorbei ist werden wir heiraten.“ Ein stummes Lächeln lässt seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde aufleuchten.
Maschinengewehrfeuer erhellt die Nacht. Gespenstisch erheben sich die qualmenden Ruinen des umkämpften Straßenzuges. Sturzkampfbomber haben die Stadt in Schutt und Asche gelegt. Das Gemäuer trotzt hünenhaft den immer ohnmächtigeren Angriffsversuchen der 6. Armee und dem Größenwahn ihres Oberbefehlshabers. Alles Menschliche war ihm fremd.

Als der Morgen anbrach fand man Anton am Boden kauernd und vornüber gebeugt. In seinen blau gefrorenen Fingern einen Papierfetzen überzogen von einem vereisten Rinnsal aus Blut.

Margot sitzt in eine Decke gehüllt in ihrem Wohnzimmer. Gerade hat sie die letzten Kerzen des Weihnachtsbaumes entzündet. Der Tee muss noch etwas ziehen. Im Stövchen flackert ein kleines Licht. Zärtlich und gedankenverloren streichelt sie einen mehr als 60 Jahre alten Papierfetzen. Der Feldpoststempel lässt das Datum nur schwer erahnen. Stalingrad, 24. Dezember 1942. An ihrer rechten Hand blitzt ein kleiner goldener Ring. Verheiratet war sie nie.

Eingabe 22 September 2004 | 8:23 in Prosa

NEUGIER von Steffi Beckmann (Copyright)

„Entschuldigen Sie bitte. Verzeihung, Sie da, ja Sie. Darf ich fragen, was Sie da gerade lesen?“. Aufdringlich vor Neugier beugte sich die rundliche Dame mit den silberfarbenen Pudellöckchen zu ihrem Gegenüber. „Ein Buch“, nuschelte der ihr gegenüber sitzende, bereits etwas ergraute Gentleman unfreundlich. Diese knappe Antwort ließ die alte Lady unbefriedigt in ihrer Wissbegier. War doch für sie die alltägliche Fahrt mit der DB-Bahn eine willkommene Abwechslung. Abermals beugte sie sich vornüber, um den Schutzumschlag des Buches in Augenschein zu nehmen. Doch dieser wurde seiner Bestimmung vollends gerecht. Auch nicht einen winzigen Einblick gab er frei. „Ist es ein spannendes Buch?“ fragte sie. Missmutig blickte der Gentleman kurz auf und erwiderte sein knappes „ja“. Auf ein Gespräch ließ er sich jedoch nicht ein.
„Schade“, dachte die Dame. Dabei liebte sie doch banale Bahnkommunikation sehr. Etwas enttäuscht wandte sie sich der im Abteil mitreisenden jungen Frau zu. Sprudelnd wie ein Wasserfall floss nun ihre ganze Lebensgeschichte ungefragt von den Lippen. Sie lästerte über den ungehobelten Klotz, ihren Ehemann Gott hab ihn selig. Der es vorgezogen hatte, lieber allabendlich in seiner Stammkneipe zu hocken, als ihr Gezeter länger zu ertragen. Jammernd sprach sie von ihren undankbaren Kindern, die sich vor Jahren schon von ihr abgewandt hatten, weil sie diesen ständigen Zank und Streit ihrer Mutter mit Gott und der Welt nicht mehr ertragen konnten. Dabei hatte doch gerade sie sich nie etwas vorzuwerfen gehabt. Im Gegenteil, man verurteilte sie zu unrecht als Klatschbase. Nein, so Eine war sie ja nun wirklich nicht. Die junge Frau war ob so viel Vertrauensseligkeit sichtlich unangenehm berührt. Daher zog sie es vor, sich mit einem bedauernden Schulter zucken, nach kürzester Zeit aus dem Abteil zu verabschieden.
Zurück blieben nur die alte Lady und der Furcht einflößende Graumelierte. Sich um einen gelangweilten Gesichtsaudruck mühend, blickte die Dame nun angestrengt aus dem Fenster. In rasender Geschwindigkeit sausten Häuser an ihr vorüber. Abwechselnde Landschaftsbilder flimmerten vor ihren wachsamen Augen. Sie versuchte jetzt im Spiegel der Scheibe, dem Inhalt der offensichtlich hochinteressanten Lektüre auf die Spur zu kommen. Nun zückte der Herr auch noch seinen goldenen Kugelschreiber und einen winzigen Schreibblock. Hastig kritzelte er darauf herum. Ungeduldig rutschte die Dame auf ihrem Sitz hin und her. Ihr Herz begann zu rasen. Sie barst schier vor Neugier. Das war gar nicht gut. Ob der Körperfülle und des fortgeschrittenen Alters hatte ihr Hausarzt sie schon mehrfach und eindringlich gewarnt. Jegliche Aufregung müsse vermieden werden. Ihr Kreislauf schien bereits außer Kontrolle zu geraten, während das Blut in ihren Ohren rauschte. Sie erstarrte. Der „Goldkugelschreiber“ musterte sie nun. Wenn auch kurz, so doch sehr aufmerksam. Sie konnte seinen abschätzenden Blick genau sehen, im Scheibenspiegel.
Eiskalt, das linke Auge etwas verkniffen, so starrte er sie an, bevor er wieder etwas auf dem winzigen Schreibblock notierte. Ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen. Düstere Gedanken. Was mochte er da kritzeln? Was ist das für ein Buch? Alles um sie herum begann sich zu drehen. Sie rang verzweifelt nach Atem, wie ein alternder Goldfisch nach dem Liebesakt. Kurz vor der Einfahrt in den kilometerlangen Tunnel geschah das Unerwartete. Die alte Dame fasste an ihr Herz, bevor sie in sich zusammensackte.
Am Zielbahnhof angekommen konnte man nur noch ihren Tod feststellen. Es war zu spät. Der graumelierte Gentleman steckte Kugelschreiber und Notizblock seelenruhig in seine Manteltasche. Schlug das mysteriöse Buch zu und begab sich zum Ausstieg. Der Strom von Transportwilligen flutete auf den Bahnsteig. Der Herr im Anzug langte mit stoischer Gelassenheit nach seinem Handy. “Bestattungsinstitut Trauerweide, was können wir für sie tun?“, meldete sich eine sonore Bassstimme am anderen Ende der Leitung. „Ich bin es Chef, die Arbeit ruft. Eben ist wieder Eine ihrer grenzenlosen Neugier zum Opfer gefallen. Die Personalien habe ich bereits aufnotiert, die Jungs können sie jetzt holen kommen“.
Er sah dem gerade auf dem gegenüberliegenden Gleis einfahrenden Zug entgegen. Ließ sich mit all den anderen Reisenden hineinsaugen und nahm Platz. Ihm gegenüber eine üppig, rundliche, kleine alte Dame mit einer feinen Kurzhaarfrisur. Eine potenziell Neugierige, gewissermaßen.
Während der Chef des Bestattungsinstitutes „Trauerweide“ die Angehörigen der soeben Verblichenen mit allseits bekannter Grabrednerstimme informierte und seine Dienste geflissentlich, jedoch mit einer nicht zu verleugnenden Aufdringlichkeit, anbot.

Eingabe 22 September 2004 | 8:23 in Prosa

 

 

Stargirl - Am Flughafen Richtung Lyon von Stella Eva Henrich (Copyright)

Natürlich konnte ich es mir wieder mal nicht verkneifen. Es war gerade eine Woche her, dass die Verfassungsrichter in Karlsruhe über den Kopftuchstreit entschieden hatten. Fereshta Ludin darf also ihr Kopftuch beim Unterrichten tragen, es sei denn, sie bekommt es in Hessen oder Bayern ausdrücklich per Gesetz untersagt. Davon ist auszugehen.


Дата добавления: 2015-12-08; просмотров: 90 | Нарушение авторских прав



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