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Sie wurde nicht schlau aus ihm, nicht mal ein bisschen. Das Einzige, was sie wusste, war, dass er sie laufend wütend machte, ganz gleich, was er auch tat. Erst nutzte er sie aus, dann spielte er sich auf und ließ sie stehen. Dennoch sollte sie schon wieder etwas für ihn tun. Bleib du bei ihr. Und: Pass du darauf auf. Dabei tat sie nie etwas für andere. Nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Sogar mit ihrem Eintreten für Iole hatte sie sich selbst überrumpelt.

»Lauf ihm ruhig nach«, sagte das Mädchen und nun sah sie noch kleiner und verletzlicher aus, als umklammere sie der scheußliche Schalensessel wie eine Plastikfaust.»Mach dir keine Sorgen um mich.«

Ihm nachlaufen? Rosa verschluckte sich fast beim Atemholen. Aber dann nickte sie knapp.»Warte ab, wir kommen dich bald holen, okay?«

»Werdet ihr das denn? Mich holen?«

Rosa wollte gerade loslaufen, die verdammte Mappe in der Hand, blieb aber noch kurz stehen, zögerte – dann trat sie vor Iole, streichelte ihr über den Kopf und sagte:»Ich versprech’s dir. Wir holen dich so schnell wie möglich hier raus.«

Iole blickte sie mit ihren großen Augen an, wie eine Zeichentrickfigur aus einer der Serien, die sie so gern mochte.»Dann passt auf die Tiere auf … Sie kommen nachts. Immer nachts.«

Rosa zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, dann eilte sie los. Sie presste die Dokumente an sich und verließ die Villa, überquerte den Vorplatz und folgte Alessandro die Stufen im Lavahang hinab zum Ufer. Er war entweder besonders schnell, ungeheuer zornig oder beides – jedenfalls war sein Vorsprung erheblich, sie sah ihn kurz unten an der Grotte, dann verschwand er aus ihrem Blickfeld.

Als sie den Strand erreichte, bot sich ihr ein Bild, das sie vorausgesehen hatte.

Alessandro hatte sich auf Tano gestürzt. Die beiden schlugen mit einer solchen Gewalt aufeinander ein, dass selbst die jungen Männer mit den Spiegelbrillen zurückgewichen waren und keinen Versuch unternahmen, den Kampf zu schlichten.

Rosa wurde langsamer und blieb in zwanzig Metern Entfernung stehen. Zu Hause in Brooklyn hatte sie viele Schlägereien mit angesehen. Was sie aber irritierte, war, dass keiner der Gegner ein Wort sprach. Als gäbe es nichts mehr zwischen ihnen zu reden, als wäre der Feind nicht einmal mehr Beschimpfungen wert. Langsam ging sie näher heran. Setzte einen Fuß vor den anderen, ganz weich im aufgeheizten Sand.

Tano trug keine Brille mehr, sie war einem von Alessandros Schlägen zum Opfer gefallen. Aber das allein war es nicht, was ihn ungewohnt aussehen ließ. Es waren seine Augen. Sie waren mit Dunkelheit gefüllt, mit zwei riesigen, das Weiß verschlingenden Pupillen. Genau wie Alessandros Augen vorhin im Atelier. Und als sie nun wieder ihn ansah, erkannte sie, dass auch sein Blick abermals tiefdunkel war. Sein Haar erschien ihr noch schwärzer als zuvor.

Die beiden Mädchen aus dem Wasser standen jetzt auf dem Strand ein Stück abseits, neben den Kisten mit Proviant. Die Dritte hatte sich in ihrem Liegestuhl aufgesetzt und hing mit starrem Blick an Tanos geschmeidigen Bewegungen. Die jungen Männer verfolgten das Geschehen noch immer regungslos. Nur der Kellner rief etwas, das den Streit schlichten sollte. Ein animalisches Fauchen aus Tanos Kehle ließ ihn verstummen.

Die beiden Kämpfenden umkreisten einander lauernd. Warteten ab, für welche Art von Angriff sich der andere entscheiden würde.

Rosas Blick fiel auf Tanos nackten Rücken. Er war behaart. Sie hatte es für Reflexe des Sonnenlichts gehalten, aber nun sah sie, dass eine dichte Spur aus weißgelbem Haar von seinem Nacken aus über die Wirbelsäule abwärtslief.

Tano stieß ein zorniges Brüllen aus. Dann prallten die Gegner erneut aufeinander.

Niemand achtete auf Rosa. Sie huschte zu ihrer Tasche und schob die Mappe mit Gaias Dokumenten hinein. Als sie sich wieder aufrichtete, dröhnte vom Meer Lärm herüber zum Strand.

Rotorengeräusche.

Blinzelnd entdeckte sie einen Helikopter, der über dem Wasser heranraste, über die ankernde Jacht hinweg- und in gerader Bahn auf den Strand zujagte. Die Konturen der Maschine verschwammen vor lauter Funkeln und Blitzen der Sonne auf ihrem Rumpf.



Alessandro warf Tano zu Boden. Mit beiden Knien ließ er sich brutal auf den Brustkorb seines Kontrahenten fallen.

Die beiden Mädchen rissen eine der Kisten auf und hielten im nächsten Augenblick Maschinenpistolen in den Händen. Maschinen! Pistolen! Ihr Anblick war so unwirklich, dass Rosa abermals blinzelte.

Einer der Jungen nahm seine Sonnenbrille ab. Der Kellner wirkte wie versteinert.

Alessandro hockte über Tano am Boden, warf den Kopf in den Nacken und stieß ein triumphierendes Raubtierbrüllen aus. Schatten rasten wie ein Flächenbrand über seinen Körper, färbten ihn schwarz wie Teer.

Tano jaulte auf.

Alessandro riss den Mund weiter auf, noch weiter. Er sah aus, als wollte er die Zähne in die Kehle seines Gegners schlagen. Oder rief er etwas, das Rosa im Lärm der Rotorblätter nicht verstand?

Sand wurde aufgewirbelt und verschleierte die Sicht.

Ich versprech’s dir, hatte sie gesagt. Wir holen dich hier raus.

Die Kufen des Helikopters berührten den Boden.

Familienfehde

Der Pilot ließ den Rotor laufen, als er gebückt aus der Kanzel sprang und die seitliche Schiebetür aufzog. Sandwirbel wehten über den Strand, das Haar der Mädchen tanzte auf ihren nackten Schultern.

Rosa wusste längst, wen sie gleich zu sehen bekäme.

Florinda Alcantara glitt ins Freie, huschte geduckt unter der tosenden Sense der Rotorblätter hervor und richtete sich auf. Hinter ihr sprangen zwei bewaffnete Männer aus dem Hubschrauber.

Die beiden Handlanger trugen leichte Maschinenpistolen wie die Mädchen in Tanos Gefolge. Auch der Pilot zog eine automatische Pistole aus seiner Jacke. Das Ganze glich einer Szene aus einem drittklassigen Actionfilm – einem, dem das Geld für Komparsen fehlte.

Bikinimädchen mit Maschinenpistolen. Mafiosi mit verspiegelten Sonnenbrillen. Ein Pilot in Kunstlederjacke. Sie wollte»Cut!«rufen, damit das Ganze ein Ende hatte. Damit sie alle nach Hause gehen und die Leute vom Kino das Popcorn auffegen konnten.

Stattdessen rief ihre Tante:»Komm, Rosa, die Party ist vorbei.«Sogar ihre Sprüche waren die einer B-Movie-Schurkin.

Florinda stand auf halber Strecke zwischen dem Helikopter und Rosa. Das blond gefärbte Haar peitschte um ihr Gesicht, während die beiden Männer mit den Waffen im Anschlag rechts und links von ihr Position bezogen.

Eines musste Rosa Florinda lassen: So albern dieser Auftritt war, so elegant blieb sie dabei. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit kurzem Rock und eng geschnittenem Oberteil. Der deutlichste Hinweis darauf, dass sie nicht ernsthaft mit einer Auseinandersetzung rechnete, waren ihre hochhackigen Stiefel, mit denen sie bei einem Kampf keine drei Meter weit über den Strand kommen würde.

Und da begriff Rosa: Dies alles war nichts als Theater. Jede Geste, jedes Wort, jeder Blick war Teil einer geheimen Sprache, die nur Mitglieder der Familien verstanden. Das Konkordat schützte sie voreinander und das ganze Machogehabe war nichts als Zuckerguss auf einer Torte, deren Geschmack sie alle nur zu gut kannten. Sie hielten sich an eine Tradition, die auf dem basierte, was die Mafiosi in Filmen über sich selbst gesehen hatten. Der Pate und Scarface konnten sie alle wahrscheinlich mitsprechen.

Alessandro hockte noch immer auf Tanos Brust und hatte beide Hände um dessen Kehle gelegt. Die sonderbare Dunkelheit, die seinen Körper vorhin überzogen hatte, war verschwunden. Rosa konnte seine Augen nicht genau sehen; sie wirkten noch immer sehr finster, aber das mochte am Schatten liegen. Als er zu ihr herüberschaute, meinte sie, Traurigkeit in seinem Blick zu erkennen.

Seit Florindas Ankunft waren nur Sekunden vergangen. Tano nutzte den Augenblick der Überraschung, bäumte sich auf – und diesmal gelang es ihm, seinen Gegner ins Taumeln zu bringen. Alessandro war einen Moment lang unaufmerksam gewesen und nun zahlte er den Preis dafür: Tano schleuderte ihn von sich, sprang auf, versuchte aber nicht, Alessandro zu packen. Stattdessen starrte er ihn hasserfüllt an, wandte ihm dann demonstrativ den Rücken zu und ging langsam auf Florinda und ihre Männer zu. Er klopfte sich den Sand vom nackten Oberkörper, vollkommen ungerührt vom Sturm des Rotors, und baute sich drei Meter vor Florinda auf.

»Diese Insel ist Privatbesitz. Das wissen Sie. Trotzdem kommen Sie her, bringen Ihre Lakaien mit, hantieren mit Waffen – was ganz schnell zu einem Bruch des Konkordats führen könnte – und scheren sich einen Dreck darum, dass Sie meinen Gästen eine Heidenangst einjagen!«Er musste laut sprechen, um das Heulen des Helikopters zu übertönen.

Alessandro erhob sich. Rosa presste die Lippen aufeinander und hielt seinem Blick stand. Sie verstand noch immer nicht, was gerade vorgefallen war, aber mit dieser neuen Situation kam sie klar.

Sie hob die Tasche mit ihren Sachen auf und machte sich auf den Weg zum Helikopter. Es war besser so. Für alle hier, und wahrscheinlich sogar für das einsame Mädchen oben in der Villa. Rosa trat neben Florinda, die sie keines Blickes würdigte.

Alessandro stellte sich an Tanos Seite.

So standen sich die vier schweigend gegenüber, inmitten der wirbelnden Sandwolken.

Florinda schien Alessandro mit ihren Blicken umbringen zu wollen, aber ihre Worte richtete sie an Rosa:»Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich eingelassen hast. Sie hätten dich als Geisel nehmen können. Wahrscheinlich würde das nicht einmal einen Bruch des Konkordats bedeuten.«

Tano grinste.»Das müssten wir irgendwo nachschlagen, nicht wahr?«

»Kein Blutvergießen und kein Menschenraub«, sagte Alessandro.»So will es das Abkommen.«

»Gut, wenn man einen angehenden Juristen in der Familie hat«, bemerkte Tano spöttisch.

Zu Rosas Empörung schien sich Florindas Zorn allein auf Alessandro zu richten, nicht auf seinen überheblichen Großcousin. Was würde geschehen, wenn sie ihn mit den anderen allein ließ? Würde Tano ihn tatsächlich umbringen? Nicht nach all diesem Wirbel, hoffte sie. Zumal es nun kein Geheimnis mehr war, dass sich die beiden Mädchen ein wenig zu gut mit automatischen Waffen auskannten.

Aber sie konnte nicht sicher sein.

Komm mit uns, sagte sie ihm mit einem Blick.

Ein unmerkliches Kopfschütteln. Wenn er seiner Familie jetzt den Rücken kehrte und dem feindlichen Clan folgte, dann würde er niemanden mehr auf seiner Seite haben und sein Erbe verlieren. Vielleicht war es das, worauf Tano spekulierte. Dass sich sein Problem von ganz allein löste, wenn Alessandro Schwäche zeigte.

Florinda packte sie hart am Oberarm, um sie zum Helikopter zu ziehen. Rosa schüttelte ihre Hand so energisch ab, dass der Vorwurf im Blick ihrer Tante für einen Atemzug einem Strudel aus Zorn und Abneigung wich, von dem Rosa fast übel wurde. Das machte sie nur noch wütender.

»Tu das nicht noch mal«, fuhr sie ihre Tante an.»Nie wieder.«

Und damit drehte sie sich um und stapfte mit ihrer Tasche und Gaias Papieren darin zur Schiebetür des Helikopters.

Noch einmal sah sie hinüber zu Alessandro. Sie suchte nach der Finsternis in seinen Augen, den Schatten von vorhin. Nichts mehr. Der Sand prasselte auf seine bronzefarbene Haut ein, aber er verzog keine Miene.

Florinda rückte ihr gegenüber auf einen Sitz, zuletzt folgten die beiden Bewaffneten. Rosa schob die Tasche zwischen ihre Knie und hielt sie mit beiden Händen fest.

Der Helikopter hob ab. Sein Sog fräste eine gischtige Spur durch die Brandung. Dann stieg er weiter an und schwenkte in einem Bogen um die Jacht.

Rosa blickte ein letztes Mal durchs Fenster zur Isola Luna. Sie meinte das verschachtelte Weiß der Villa zwischen den Lavablöcken aufblitzen zu sehen und dachte an Iole, die vielleicht noch immer in dem Plastiksessel kauerte und auf ihre Rückkehr wartete.

Den Rest des Fluges vermied sie es, Florinda anzusehen. Zu sagen hatte sie ihr ohnehin nichts und so schwiegen sie, bis unter ihnen die Olivenhaine vorüberglitten und der Palazzo aus dem goldenen Licht des Nachmittags aufstieg.

s

Am nächsten Tag nahm Zoe sie mit auf eine Cabriofahrt nach Norden. Sie fuhren ein Stück auf der Autobahn Richtung Catania, verließen sie aber bald wieder und stießen tiefer in das bergige Ödland im Zentrum Siziliens vor. Anfangs wellte sich das Land in ockerfarbenen Hügeln, wurde dann immer schroffer. Die wenigen Äcker waren unbestellt, viele schwarz verkohlt, wo die Bauern die Reste ihrer abgeernteten Felder in Brand gesteckt hatten. Überall roch es nach Rauch, auch wenn keiner zu sehen war. Manchmal öffneten sich am Rand der kurvenreichen Straße breite Buchten, in denen überfüllte Müllcontainer standen; meist hatten die Menschen aus der Umgebung ihre Tüten voller Abfall einfach daneben geworfen. Auch entlang der Straßengräben und Böschungen sammelten sich Plastikflaschen und leere Verpackungen.

»Ich hab noch nie so viel Müll auf einem Haufen gesehen«, sagte Rosa, als sie einmal mehr an einem rußgeschwärzten Feld vorbeikamen, übersät mit verbrannten Kunststoffresten.

»Angeblich ist es besser geworden«, erwiderte Zoe.»Aber es stimmt schon – schwer vorstellbar, dass es irgendwann mal noch schlimmer war.«

»Ich dachte, die Cosa Nostra verdient daran, dass sie den Müll illegal entsorgt.«

»Aber nicht vor der eigenen Haustür. Ein paar der Familien sind wirklich groß im Müllgeschäft, aber sie verschiffen ihn nach Kalabrien oder sonst wohin.«

»Das macht es nicht besser, oder?«

Zoe warf ihr einen ernsten Blick zu, bevor sie sich auf die nächste Kurve konzentrieren musste.»Fang gar nicht erst damit an, dir ein schlechtes Gewissen zu leisten. Sonst bist du hier fehl am Platz.«

»Was tust du dagegen?«

Die Frage schien Zoe zu überraschen.»Einkaufen«, sagte sie nach einem Moment.»Das hilft gegen vieles.«

»Aber das hast du jetzt nicht vor, oder? Einkaufen, meine ich.«

»Nein.«

»Wo fahren wir also hin?«

»Ich will dir was zeigen. Wir sind bald da.«

»War das Florindas Idee?«Rosa verzog das Gesicht.»Damit ich zurück auf den rechten Pfad der Familie finde?«

»Sie war viel zu sauer, um überhaupt was zu sagen.«

»Sie wird drüber wegkommen.«

»Sie hat es nicht leicht. Es gibt kaum weibliche Familienoberhäupter. Dad hätte damals der nächste capo werden sollen, aber dann ist er gestorben. Mom hat uns mit nach Amerika genommen, und Florinda saß plötzlich allein in ihrem Palazzo und musste sehen, wie sie mit allem zurechtkommt.«

»Aber sie führt die Geschäfte doch nicht im Alleingang?«

»Sie hat ihre consiglieri, ihre Berater«, sagte Zoe,»aber die sind in Palermo und Catania, ein paar auch in Rom und Mailand. Einige von ihnen sind unsere Großcousins und -cousinen. Sie leiten die Firmen und geben Florinda Ratschläge, aber die endgültige Entscheidung liegt immer bei ihr. Sie kommen regelmäßig her und erstatten Bericht, und Florinda fährt auch oft zu ihnen. Internet und Telefon sind zu unsicher. Das meiste wird noch immer unter vier Augen besprochen und daran wird auch keine noch so ausgeklügelte Technik irgendwas ändern können.«

Rosa musterte das schöne, aber hagere Profil ihrer Schwester. Zoe hatte zwei Facetten, das wurde ihr allmählich klar. Es gab die sprunghafte, modebesessene und vergnügungssüchtige Zoe, die sie von früher kannte. Aber da war auch noch eine andere, die sich offenbar gründlich mit den Geschäften ihrer Familie auseinandergesetzt hatte. Das war eine neue, unerwartete Facette, bis Rosa sich erinnerte, dass sie dieser Zoe schon zu Beginn ihres Aufenthalts begegnet war – auf dem Weg zur Beerdigung, als Florinda und sie ihr wie zwei Insektenköniginnen gegenübergesessen hatten.

Das Bild verblasste, als sie gegen ihren Willen erneut an Alessandro denken musste. Dass Tano seinen Plan einfach aufgegeben haben sollte, erschien ihr unwahrscheinlich. War auf der Insel noch etwas geschehen, nachdem Florinda sie dort abgeholt hatte? Sie kam sich vor wie ein Kind, das man an der Hand vom Spielplatz gezerrt hatte, und das machte sie rasend.

»Du magst ihn«, stellte Zoe unvermittelt fest.

»Alessandro?«

»Du weißt genau, wen ich meine.«

»Ich kenne ihn gar nicht.«

»Genau das ist das Problem. Die Carnevares sind nicht wie wir. Ihre Familie und unsere –«

»Jetzt komm mir nicht mit diesem Romeo-und-Julia-Scheiß.«

»Also magst du ihn wirklich.«Das war keine Frage mehr.

»Er hat mich eingeladen. Ich bin mitgefahren. Das ist alles. Wir haben nicht darüber gesprochen, fünf Kinder zu zeugen und den Umsturz der Cosa Nostra voranzutreiben.«

»Nimm das nicht so leicht.«

Rosas Hand krallte sich fester um ihr knochiges Knie.»Wir wollten baden gehen, mehr nicht.«

»Sicher.«

Das Cabrio überquerte den abgeflachten Gipfel eines Berges. Einmal mehr öffnete sich ein kilometerweites Panorama aus senffarbenen Erhebungen und Senken. Unter ihnen lag eine weite Wasserfläche. Rosa hielt sie erst für einen breiten Fluss, aber dann erkannte sie, dass es sich um einen lang gestreckten See handelte, der sich durch mehrere Täler wand. Rechts von ihnen, im Osten, war eine gigantische Staumauer zu sehen. Sie wirkte wie ein Fremdkörper in dieser menschenleeren Landschaft aus Gelb und Ocker.

»Wir sind gleich da.«Zoe steuerte den Wagen einige Serpentinen hinab, bis die zweispurige Straße schnurgerade über die Staumauer führte. Zur Rechten gähnte ein zerklüftetes Tal, links funkelte die Oberfläche des Stausees.

Zoe parkte den Wagen am Straßenrand, genau in der Mitte des Staudamms. Nirgends war ein anderes Fahrzeug zu sehen, nur ein Vogelschwarm zog über ihnen durch den wolkenlosen Himmel.

»Lago Carnevare«, sagte sie spöttisch.»Er heißt nicht wirklich so, aber er gehört ihnen.«

Rosa zuckte die Schultern.»Sie haben einen See. Und?«

»Mit so was verdienen sie eine Menge Geld. Staatliche Bauprojekte, die keinen erkennbaren Zweck erfüllen. Niemand hier braucht einen Stausee. In dieser Gegend wohnt kaum einer und bewässert werden muss hier auch nichts. Sieh dich um – nur Einöde, menschenleere Berge und verlassene Bauernhäuser.«

»Wir bauen Windräder, die keinen Strom erzeugen. Sie eben Staumauern. Wo ist der Unterschied?«

»Darum geht es mir gar nicht«, entgegnete Zoe kopfschüttelnd.»Was du wissen solltest … warum du hier bist …«Sie zögerte, setzte neu an:»Es geht um das, was in dem See ist.«

Sie stieß die Fahrertür auf und glitt ins Freie. Rosa trat neben Zoe an die hüfthohe Brüstung. Ein, zwei Minuten lang schauten sie schweigend über die glatte Wasseroberfläche. Das glitzernde Sonnenlicht auf dem See blendete sie.

»Was ist da unten?«, fragte Rosa nach einer Weile.

»Ruinen«, sagte Zoe.

Rosa hob die Schultern.»Ganz Sizilien ist voll davon.«Das war ebenso wenig zu übersehen wie die Müllberge am Straßenrand. Ganz gleich, in welche Richtung man auf dieser Insel blickte – immer entdeckte man mindestens ein verlassenes Gehöft, wenigstens einen verfallenen Schuppen. Niemand kümmerte sich darum. Warum also hier damit anfangen?

»Da drinnen liegt ein ganzes Dorf«, sagte Zoe.»Giuliana. An ein paar Straßen in der Nähe stehen noch Schilder. Wer ihnen im Dunkeln folgt und nicht aufpasst, landet im See. Nicht mal Sperren haben sie aufgebaut.«

Rosa blinzelte, um unter der Oberfläche etwas zu erkennen, aber das war nutzlos. Das Wasser war viel zu tief, das Licht zu grell.

»Die Carnevares haben alle Hebel in Gang gesetzt, um dieses Bauprojekt an Land zu ziehen«, fuhr Zoe fort.»Berge von gefälschten Gutachten, Expertisen und Vermessungsplänen. Eine Menge Schmiergeld bis in die höchsten politischen Ebenen in Rom und Brüssel. Aber was sie hineingesteckt haben, haben sie hundertfach wieder herausgeholt: europäische Fördergelder, staatliche Finanzierungen und natürlich die Arbeitslöhne für eine Armee von Ingenieuren, Bauarbeitern und so weiter.«

»Klingt für mich trotzdem nicht anders als das, was Florinda mit ihren Windrädern macht. Nur dass die Carnevares clever genug sind, es in größerem Stil zu betreiben.«

»Wind bringt niemanden um. Wasser schon.«

Rosa sah Zoe von der Seite an. Eine frische Bö wehte über den See heran und verwirbelte ihr blondes Haar. Zoe erwiderte ihren Blick nicht und starrte weiterhin hinaus auf das Wasser.

»Was ist passiert?«

»Die Bewohner von Giuliana haben sich gewehrt. Was die Menschen eines Dorfes eben so machen, das einfach von den Landkarten verschwinden soll. Erst gab es Versammlungen, dann öffentliche Kundgebungen, sogar eine Demonstration vor dem Parlament in Rom, für die sich niemand interessiert hat. Dann nichts mehr. Vier Jahre ist das jetzt her.«

»Nichts mehr?«

»Keine Proteste, kein Widerstand.«

Rosa ahnte, auf was das hinauslief, aber sie fragte dennoch:»Sind sie ausbezahlt worden?«

»Angeblich wurden sie umgesiedelt.«Zoe verzog die Mundwinkel zu einem bitteren Lächeln.»Man hat ihnen eine neue Ortschaft in Kalabrien zugewiesen, auf der anderen Seite der Straße von Messina. Als ob man achthundert Sizilianer einfach auf ein Boot verfrachten, übers Wassers bringen und für den Rest ihres Lebens woanders einquartieren könnte.«Sie lachte nicht mehr, als sie sagte:»Das haben sie ja nicht mal mit uns beiden geschafft.«

»Und die Wahrheit?«

»Offiziell wohnen sie alle dort drüben und züchten Rinder oder Schafe. In Wahrheit aber waren wohl eher sie selbst die Schafe. Die Wölfe sind gekommen und haben sie gerissen. Tiger und Löwen, um genau zu sein.«

Rosa verdrängte ihre Erinnerung an die Erscheinung im Olivenhain.»Die Carnevares haben sie umgebracht? Du weißt, wie das klingt, oder?«Dann dachte sie an die Mädchen auf der Insel mit ihren Maschinenpistolen.»Sie haben sie im See ertränkt?«

Zoe pickte ein winziges Steinchen von der Brüstung und warf es in die Tiefe. Sein Aufschlag auf dem Wasser war nicht zu erkennen.»Ertrunken sind sie nicht. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Offenbar sind sie einfach verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Die Staumauer war zu diesem Zeitpunkt bereits so gut wie fertig. Giuliana lag unten im Tal in ihrem Schatten.«Zoe deutete hinab in die Tiefen des Sees.»Und da liegt es heute noch. Wahrscheinlich gilt das auch für seine Bewohner. Wenn du mich fragst: Ich wette, dass ihre Leichen nicht die einzigen da unten sind. Hast du gewusst, dass die Carnevares so was wie die Totengräber der Cosa Nostra sind? Wenn eine der anderen Familien jemanden verschwinden lassen möchte, dann sind sie diejenigen, die man um Hilfe bittet. Straßen, Rollbahnen der Flughäfen, sogar Verwaltungsgebäude in Catania und Palermo. Cesare Carnevares Leute füllen ihre Fundamente nicht nur mit Beton.«

Das also war das Erbe, das Alessandro so wichtig war. Um das er bis aufs Blut mit Tano und dessen Vater kämpfte. Leichenentsorgung unter Häusern und Autobahnen. Entvölkerte Dörfer am Grund stiller Seen.

Rosa kletterte auf die Brüstung, machte einen Schritt nach vorn und stand jetzt unmittelbar an der Steinkante. Die Oberfläche des Stausees lag etwa zwanzig Meter unter ihr.

»Komm da runter«, sagte Zoe.

Rosa schüttelte die Hand an ihrer Wade ab.»Nein. Komm du rauf zu mir.«

Zoe sah einen Moment lang wütend aus, dann atmete sie durch und brachte ein Lächeln zu Stande. Sie ergriff die Hand, die Rosa ihr entgegenstreckte, und kletterte auf die Mauer. Seite an Seite blieben sie stehen, nur einen Fingerbreit vor dem Abgrund, während der Wind in ihre Kleidung fuhr und ihr Haar zerzauste.

»Warum hast du mir das erzählt?«, fragte Rosa leise.»Ich meine, wirklich.«

»Weil Alessandro Carnevare nicht –«

»Weil Florinda es dir gesagt hat? Hat sie sich diese Geschichte einfallen lassen?«

»Sie ist wahr, Rosa.«

»Vielleicht ist sie das sogar. Aber soll mich das jetzt erschrecken? Soll ich ihn deshalb hassen? Ich hab genau gewusst, wohin ich gehe, als ich ins Flugzeug nach Italien gestiegen bin. Glaubst du, ich bin so naiv? Glaubt Florinda das? Ich weiß, wer und was unsere Familie ist. Und ich weiß, dass sie kein Stück besser ist als die Carnevares und die Riinas und wie sie alle heißen. Du und ich, wir sind ein Teil davon.«

»Du weißt ja gar nicht, wovon «, flüsterte Zoe in den Wind.

»Ich glaube schon.«Rosa tastete nach der Hand ihrer Schwester, etwas, das sie zuletzt getan hatte, als sie ein Kind gewesen war.»Aber anderswo sind andere Verbrechen geschehen, die wir zu verantworten haben. Unsere Familie. Unser Vater wahrscheinlich. Was erwartet Florinda? Dass wir uns in anständige Jungs aus gesetzestreuen, angesehenen Familien aus Turin oder Mailand verlieben? Oder dass wir ein Leben lang allein bleiben, wie sie?«

Zoes Hand war eiskalt.»Du kannst das nicht verstehen. Noch nicht.«

»Weißt du«, sagte Rosa bedrückt,»ich hab kein schlechtes Gewissen, keine Skrupel wegen dem, was den Leuten von Giuliana vielleicht zugestoßen ist. Weil ich eine Alcantara bin und das nicht ändern kann. So wie Alessandro nicht ändern kann, was er ist.«

Zoe öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber dann kam kein Laut heraus, sie befeuchtete nur die Lippen mit der Zungenspitze und schwieg.

»Da war nichts auf der Insel«, sagte Rosa und blinzelte wieder in den Glitzerteppich auf dem Wasser.»Nicht, was ihr denkt.«

Sie schwieg eine Weile und sah in die Ferne zum anderen Ufer des Stausees.

»Nichts«, flüsterte sie noch einmal, und diesmal war es nicht Zoe, die sie damit überzeugen wollte.

 

 

Tiger und Schlange

Es wurde bereits dunkel, als sie zum Palazzo zurückkehrten. Allein in ihrem Zimmer, wählte Rosa Alessandros Nummer. Eine Stimme vom Band erklärte ihr, dass der Anschluss nicht mehr existierte. Irritiert versuchte sie es erneut, mit dem gleichen Ergebnis. Sie warf das goldene Handy aufs Kopfkissen, wo es sanft landete wie in einer Schneewehe.

Auf dem Bett lag auch die Plastikmappe mit Gaia Carnevares Dokumenten, daneben Die Fabeln des Äsop. Beides Vertrauensbeweise von Alessandro. Warum stimmte dann die Nummer nicht mehr? War ihm auf der Insel etwas zugestoßen? Aber hätte Cesare dann als Erstes sein Handy sperren lassen? Eher unwahrscheinlich.

Sie musste sich eingestehen, dass sie beunruhigt war. Dabei hatte sie allen Grund, von ihm enttäuscht zu sein, weil er sie nur zu seinem eigenen Schutz mit auf die Isola Luna genommen hatte. Mit so etwas aber kam sie zurecht. Es war nicht ihre Art, zu schmollen, nur weil jemand nicht nett zu ihr war. Tatsächlich gab es wenige Dinge, die sie so leicht entschuldigen konnte, wie nicht nett zu sein. Schließlich bat auch sie selbst andere dafür nie um Verzeihung. Aber wieso machte sie sich um jemanden Gedanken, auf den sie eigentlich wütend sein sollte?

Er habe sie gern, hatte er gesagt. Aber man hatte auch Hundewelpen und Meerschweinchen gern. Kein Anlass, wegen einer geänderten Telefonnummer Trübsal zu blasen. Sie war nicht mal sicher, ob sie ihn überhaupt mochte.

Sie wählte seine Nummer ein drittes Mal. Nicht aus dem Menü, sondern jede Ziffer einzeln. Sie hatte lange genug daraufgestarrt, um sie auswendig zu kennen. Jetzt fehlte ihr eine Delete -Taste im Hirn.

Sie hörte wieder dieselbe Ansage.

Das Handy landete erneut im Kissen. Ungeduldig sprang sie auf, öffnete das Fenster und atmete tief ein. Der Abend roch angenehm nach Pinien.

Unter ihr schimmerte das gläserne Palmenhaus. Die Scheiben waren von innen beschlagen. Einmal mehr fragte sie sich, welchen Zweck es erfüllte auf einer Insel, auf der Palmen im Freien wuchsen; sogar hier am Palazzo gab es einige, an der Westseite, entlang der riesigen Panoramaterrasse, wo sie bei Sonnenuntergang ihr Schattenraster über den Pool legten.


Дата добавления: 2015-11-04; просмотров: 26 | Нарушение авторских прав







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