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Und damit drehte sie sich um und ging an der Reihe der Autos entlang. Gott, wie sie diesen Satz verabscheute. Es ist deine Entscheidung. Vor einem Jahr hatte sie ihn viel zu oft gehört.

Ihre Entscheidung. Sie wünschte, das wäre es jemals gewesen. Ganz allein ihre Entscheidung.

Beinahe erwartete sie, dass Alessandro ihr etwas nachrufen würde. Dass er versuchte sie aufzuhalten. Aber das tat er nicht. Auch sie blickte sich nicht um.

Einige Augenblicke später fuhr die Limousine im Schritttempo an ihr vorüber. Rosa konnte nicht anders, als hinzuschauen. Doch sie sah nur sich selbst in den verspiegelten Scheiben, mit ihrem schwarzen kurzen Kleid und den zerzausten langen Haaren.

Dann war der Wagen vorbei, fuhr zügig die Straße entlang und bog ab Richtung Autobahn.

Ihr wurde schwindelig.

Die Soldaten lachten wieder.

Der Clan

Sie ließ die Reisetasche fallen und musste sich abstützen.

Im selben Moment entdeckte sie Zoe. Ihre Schwester eilte mit großen Schritten auf sie zu, strahlte sie an und sagte etwas, das zeitverzögert und mit einem seltsamen Hall an Rosas Ohren drang, wie eine leiernde Vinylplatte.

Sie lehnte sich auf den glühend heißen Kotflügel eines Taxis, keuchte vor Schmerz – und auf einen Schlag war die Welt wieder die alte. Die Fahrzeuge bewegten sich schneller, der Lärm kehrte zurück, ihr Schwindel verschwand.

Zoe zog sie an sich und umarmte sie.»Gut, dass du endlich da bist.«

Rosa roch Zoes Parfum, ein anderes als damals. Sie sagte ein paar Dinge, von denen sie annahm, dass sie von ihr erwartet wurden – dass sie sich freute hier zu sein und dass sie es gar nicht hatte erwarten können. Das war nicht gelogen, nur ein bisschen übertrieben.

Sie lösten sich voneinander, und nun hatte Rosa Gelegenheit, ihre Schwester genauer zu betrachten. Während der vergangenen zwei Jahre hatte sie Zoe nur auf einer Handvoll Fotos gesehen, die sie ihr geschickt hatte. Sie war einen halben Kopf größer als Rosa, daran würde sich auch nichts mehr ändern. Zoe hatte das gleiche blonde Haar, lang bis auf den Rücken, aber stufig geschnitten; obwohl es natürlich aussah, erkannte Rosa, dass es sorgfältig frisiert war. Auch Zoes Make-up war mit einiger Raffinesse aufgetragen, sehr dezent, aber wirkungsvoll. Nicht mal ein Hauch von Schweiß war auf ihrer Stirn und ihren Wangen zu sehen, trotz der Hitze.

Rosa selbst hatte das Gefühl, in einer Pfütze zu stehen, so sehr schwitzte sie.»Du bist dünn geworden«, stellte sie fest. Mager wäre das richtige Wort gewesen.

»Das sagst ausgerechnet du?«Zoe lächelte und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Rosa hatte den Eindruck, dass sie das nur tat, um ihre hohlen Wangen zu füllen. Aber es gab anderes zu bereden. Den Flug, den Jetlag, den kaputten Koffer.

Zoe hatte ihrer Mutter schon immer sehr ähnlich gesehen und nun als Zwanzigjährige bestätigte sich die Vermutung, dass Gemma Alcantara – oder Gemma Farnham, wie sie sich heute wieder nannte – eine Doppelgängerin zur Welt gebracht hatte. Bei Rosa war die Ähnlichkeit längst nicht so ausgeprägt wie bei ihrer Schwester. Keine der beiden war besonders stolz darauf und als Kinder hatten sie sich oft gewünscht, dass der väterliche Anteil, das Italienische, stärker durchgeschlagen wäre. Wie sie überhaupt ihre Wurzeln im fernen Sizilien gern und immer wieder heraufbeschworen hatten, in Träumereien von eigenen Pferden und Ausritten zwischen Palmen und Kakteen, prachtvollen Festen in marmornen Ballsälen und Ausflügen auf Segeljachten.

Im Parkhaus führte Zoe sie zu einem gelben Nissan, den ein Aufkleber an der Heckscheibe als Mietwagen kennzeichnete. Rosa war zu geschafft, um sich darüber zu wundern. Sie warf ihre Reisetasche auf die Rückbank, ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und streckte ihre Beine aus, so gut es eben ging.

Ein Mann in einer scheußlichen Schlangenlederjacke zog einen Koffer an ihnen vorbei und verschwand zwischen den geparkten Fahrzeugen. Als Rosa ihm amüsiert nachblickte, schüttelte Zoe den Kopf und sagte leise:»Wahre Schlangen tragen ihre Schuppenhaut nach innen.«



Ein paar Minuten später rasten sie auf der Autobahn nach Süden. Links von ihnen erhoben sich schroffe Felsen und Weinberge, rechts schimmerte hinter dem flachen Ufer das Tyrrhenische Meer. Zwischen den Leitplanken auf dem Mittelstreifen wucherte Oleander. Es war früher Nachmittag, die Sonne brannte steil vom klaren Himmel herab und die fehlenden Schatten raubten dem Land alle Konturen. Palmen und haushohes Schilf rauschten hinter den Scheiben vorüber, flossen verschwommen ineinander.

Zoe redete unablässig davon, wie gut es ihr hier gefiel, aber schon bald nickte Rosa ein. Sie träumte, dass sie verfolgt wurden und Zoe mit waghalsigen Überholmanövern versuchte den anderen Wagen abzuhängen. Als sie erwachte, vielleicht nur ein paar Minuten später, fuhr der Nissan auf der linken Spur. Zoe wirkte noch immer gelöst und glücklich über ihr Wiedersehen.

»Hier«, sagte sie, als sie bemerkte, dass Rosa aufgewacht war,»das ist für dich.«Sie reichte ihr eine kleine Schachtel mit einer Schleife. Darin lag ein vergoldetes Handy. In die Tasten waren winzige Edelsteine eingelassen.

»Dein altes kannst du hier nicht benutzen«, erklärte Zoe.»Andere Frequenzen als in den Staaten. Und dass du nur ja angemessen beeindruckt bist – ich hab es selbst für dich ausgesucht.«

»Und so stilsicher.«Erst als Rosa das sagte, wurde ihr klar, dass Zoe es ernst meinte: Sie fand dieses Ding tatsächlich schön. Mit einem Anflug von Reue beugte sie sich zu ihrer Schwester hinüber und küsste sie auf die Wange.»Danke. Lieb von dir.«

Sie nahm das Handy aus der Schachtel, schaltete es ein und entdeckte, dass Zoe ein Foto ihres toten Vaters als Hintergrundbild gespeichert hatte. Er war ein attraktiver Mann gewesen, schwarzhaarig, sehr südländisch.

»Danke«, wiederholte sie.

»Da ist noch was drin«, sagte Zoe.

Rosa schob das Handy in ihre Jackentasche und fand am Boden der Schachtel einen Personalausweis und einen Führerschein. Beide waren auf ihren Namen ausgestellt. Als sie Zoe mit erhobener Braue einen Seitenblick zuwarf, lächelte ihre Schwester.»Das Geburtsdatum«, sagte sie.

Einunddreißigster Januar, das stimmte. Nur das Jahr war falsch. Beide Dokumente machten sie ein Jahr älter. Damit war sie volljährig.

»Das haben hier alle«, sagte Zoe lachend.»Ist nichts Besonderes. Auto fahren kannst du doch, oder?«

Rosa hatte ihren Führerschein kurz nach Zoes Abreise gemacht, mit sechzehn, wie es üblich war in Amerika.»Ich kann auch Autos klauen.«

»Das überlassen wir hier anderen«, erklärte Zoe ganz ernsthaft.»Das und noch ein paar Dinge. Die Familie kommt kaum damit in Berührung.«

Die Familie. Natürlich. Ihre Mutter hatte in den Alcantara-Clan eingeheiratet, wohl wissend, auf was sie sich einließ. Erst später war es zum großen Bruch zwischen Gemma Alcantara und dem Clan gekommen. Nach Davides Tod hatte sie in Amerika mit ihren Töchtern ein neues Leben begonnen. Skrupel, vielleicht Angst vor Abhängigkeit hatten sie davon abgehalten, von ihrer Schwägerin Florinda Unterstützung für die beiden Mädchen anzunehmen. Rosa und Zoe hatten sich damit abfinden müssen, dass Geld immer knapp war. Erst vor kurzem hatte Rosa erfahren, dass Florinda Zoe dann und wann heimlich Schecks geschickt hatte; und dass ein Teil davon für sie bestimmt gewesen, aber nie bei ihr angekommen war. Sie nahm es ihrer Schwester nicht übel. Als Kinder mochten sie gemeinsam vom märchenhaften Reichtum der Alcantaras geträumt haben, aber mittlerweile hatte Rosa jedes Interesse an Geld und Prestige verloren. Es genügte ihr, einige von Zoes besseren Kleidern aufzutragen; mit vierzehn oder fünfzehn hatte sie sich darin reif und erwachsen gefühlt. Erst vor einem Jahr hatte das Schicksal die Sache mit dem Erwachsensein eine Spur zu wörtlich genommen.

Zoe war auf der Suche nach einem anderen, bequemeren Leben mit achtzehn zurück nach Sizilien gegangen. Rosa hingegen lockten das viele Geld und die Aussicht auf Luxus nicht. Sie wollte hier zu sich selbst finden, sagte sie sich an guten Tagen. Davonlaufen, an den schlechten.

Ein Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Zoe überholte einen Viehtransporter. Strauße mit gesträubtem Gefieder blickten durch das Lattengitter.»Wir wär’s, wenn du Mom eine SMS schickst, dass du gut angekommen bist?«

»Später. Vielleicht.«

s

Sie waren keine halbe Stunde gefahren, als Zoe die Autobahn verließ, einer gewundenen Landstraße durch Weinberge folgte und schließlich auf eine Schotterpiste abbog. Sie führte hinauf zu einer kahlen Erhebung.

Dort oben wartete ein Helikopter.

»Haben das auch alle hier?«, fragte Rosa.

Zoe ließ den Schlüssel stecken und holte Rosas Reisetasche vom Rücksitz. Gemeinsam gingen sie zum Hubschrauber. Der Pilot begrüßte sie einsilbig und half ihnen beim Einsteigen. Zoe schenkte ihm dafür ein hinreißendes Lächeln, aber Rosa war zu müde für solche Höflichkeiten. Beide bekamen Ohrenschützer, die wie dick gepolsterte Kopfhörer aussahen, und mussten sich anschnallen, bevor der Hubschrauber vom Boden abhob.

Als Rosa zurück nach unten blickte, sah sie eine lang gestreckte Staubwolke, die sich von der Landstraße den Hügel heraufzog. Ein zweiter Wagen hielt neben dem abgestellten Nissan. Ein Mann und eine Frau stiegen aus, beide mit Lederjacken und Sonnenbrillen. Der Mann telefonierte, während er zum Himmel hinauf gestikulierte.

»Sie geben sich keine große Mühe«, brüllte Rosa über den Lärm des Helikopters hinweg.

Zoe schüttelte den Kopf.»Wir sollen wissen, dass sie uns beobachten. Irgendeine neue Strategie der Staatsanwaltschaft. Rund um Palermo und Catania ist es besonders schlimm. In den Bergen und anderswo sind sie nicht ganz so dreist. Es ist wie ein Spiel – eigentlich wissen sie genau, wohin wir unterwegs sind.«

Rosa stellte fest, dass ihr Puls nur mäßig beschleunigt war. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ. Der Flug im Helikopter war aufregender als die Tatsache, dass Polizei und Staatsanwaltschaft die Alcantaras observierten.

Mit zwölf war sie zum ersten Mal verhört worden, obwohl sie damals schon seit acht Jahren keinen Kontakt mehr zum Clan ihres Vaters gehabt hatte. Ein zweites Mal mit vierzehn, und seither jährlich. Hätte ihre Mutter sich einen vernünftigen Anwalt leisten können, hätte er das womöglich unterbunden. So aber ließen sie es einfach über sich ergehen, von Mal zu Mal gelangweilter.

Hätten sie etwas zu verheimlichen gehabt, hätte das die Sache zumindest spannend gemacht. So aber antworteten sie auf alle Fragen mit»Nein«und»Keine Ahnung«, jemand machte Haken auf einem Bogen Papier, ein anderer übersetzte für den italienischen Richter und danach gingen sie alle ihrer Wege.

Wirklich, es gab Weltbewegenderes als eine Familie, die seit Generationen zur Mafia gehörte.

s

Sie flogen über eine atemberaubende Landschaft aus steilen Hängen, schroffen Felsformationen und ockerfarbenen Flecken, die sich im Näherkommen als Gewimmel winziger Häuserklötzchen entpuppten. Bergdörfer klammerten sich an steile Felswände, hingen wie Adlernester über bodenlosen Klüften. In den Tälern sah man endlose Reihen aus Weinreben, dann und wann Zitronenplantagen und verdorrte Weiden. Enge Straßen verliefen in verschlungenen Serpentinen von Ort zu Ort, manche endeten im Nirgendwo.

Je tiefer sie ins Innere der Insel kamen, desto sonnenverbrannter und leerer wurde das Land. Am auffälligsten waren die zahllosen Ruinen verlassener Gehöfte, Überbleibsel einer Zeit, als darin die Bauern und Tagelöhner der Großgrundbesitzer gelebt hatten. Heute waren die einen wie die anderen verschwunden und niemand machte sich die Mühe, die letzten Erinnerungen an diese Zeit zu beseitigen. Wind und Wetter erledigten das irgendwann von allein.

Rosa war überwältigt von der rauen Anmut dieses Landes. Hin und wieder sahen sie auf Bergkuppen am Rand der Dörfer heruntergekommene Villen, manche befestigt wie Burgen, mit zinnenbewehrten Mauern und Wehrtürmen, mit Kapellen und eigenen Friedhöfen. Zoe erklärte ihr über den Lärm hinweg, dass man vielen dieser uralten Gemäuer noch den Einfluss der Araber ansah, die Sizilien vor langer Zeit besetzt hatten.

Einmal flogen sie über geborstene Säulen und Tempeltrümmer, die wie eine Miniatur der Akropolis aussahen, schließlich über den Steintrichter eines antiken Amphitheaters. Nirgends rund ums Mittelmeer gebe es derart viele griechische Ruinen auf so engem Raum, sagte Zoe. Die Insel war einst eine Kolonie der Griechen und nicht ohne Grund hieß es, dass viele Abenteuer des Odysseus an den Küsten Siziliens stattgefunden hatten.»Ungeheuer gab es hier schon immer«, rief Zoe, während sie einmal mehr Rosas Ohrenschützer anhob,»nicht erst seit der Cosa Nostra.«

Irgendwann wurde das Land wieder grüner. Ginsterbüsche, Oleander und Kakteenfelder gingen in lichte Wälder über. Der Pilot gab ihnen ein Zeichen und gleich darauf senkte er die Flughöhe. Der Helikopter drehte eine weite Runde über einem Hang voller Olivenbäume.

Das ist es, formte Zoe stumm mit den Lippen.

Rosa presste die Nase ans Glas und sah unter sich das Ziel ihrer Reise. Genau das, was sie gesucht hatte. Jede Menge Einsamkeit.

Palazzo Alcantara.

 

Fleischfresser

Willkommen«, sagte die hochgewachsene Frau, als die Schwestern den Rand der Wiese erreichten und das Rotorengeräusch des Helikopters in ihrem Rücken erstarb.

Vor dem Hintergrund des barocken Anwesens wirkte Florinda Alcantara wie eine Erscheinung aus vergangenen Tagen. Sie stand im Schatten einer mächtigen Kastanie, wie es sie hier zu Dutzenden gab; sie bildeten einen dunklen Wall vor den knorrig verdrehten Olivenbäumen.

Florinda war Mitte vierzig und besaß die süditalienischen Züge ihrer Vorfahren. Ihre hohen dunklen Brauen verliehen ihr einen strengen Zug, während die vollen Lippen etwas sehr Sinnliches hatten. Das hochgesteckte Haar, eigentlich schwarz, hatte sie hellblond gefärbt. Der Ansatz war nachgedunkelt.

Die Herzlichkeit ihrer Umarmung war eine Überraschung. Ebenso der Kuss, den sie Rosa auf die Stirn gab.»Wir haben uns sehr auf dich gefreut«, sagte sie und ihr Strahlen warf Rosas ersten Eindruck gründlich über den Haufen. Wenn Florinda lächelte, wirkte sie liebenswürdig und warmherzig. Nur wenn sie ernst dreinschaute, lag eine bedrückende Düsternis in ihrem Blick. Dann sah sie aus, als plagten sie Sorgen, und das nicht erst seit gestern.

Auf dem Weg zum Haus warf Rosa einen Blick zurück zum Helikopter. Jetzt fiel ihr auf, dass an vielen Stellen Lack abgeplatzt war. Eine dünne Rauchfahne, die sich aus dem Getriebe des Heckmotors kräuselte, beschäftigte den Piloten. Er stand breitbeinig davor im Gras, hatte die Hände in die Seiten gestemmt und begutachtete den Schaden. Wenig später hörte sie ihn mit einem Hammer auf Blech schlagen.

Das Landgut der Alcantaras umwehte die welke Pracht früherer Jahrhunderte. Die breite Fassade beschattete einen Kiesplatz, in dessen Mitte sich ein gewaltiger Brunnen erhob. Kein Wasser floss aus den Mündern der steinernen Faune. Beim Näherkommen entdeckte Rosa in dem ausgetrockneten Becken Dutzende leere Vogelnester; jemand musste sie aus den Bäumen gepflückt und hier gesammelt haben.

Schmiedeeiserne Balkone dominierten die Front des Anwesens. Die Wand war mit kunstvollen Stuckarbeiten besetzt. Figuren aus hellbraunem Tuffstein bewachten den Vorplatz von ihren Nischen aus. Die meisten Bildhauereien waren beschädigt, fast alle mit Moos und Flechten bewachsen.

Florinda führte sie durch einen hohen Rundbogen unter dem vorderen Teil des Gebäudes hindurch. Nach dem Tortunnel – zehn Meter, auf denen es erstaunlich kühl wurde und nach schimmeligem Verputz roch – öffnete sich ein sonnenbeschienener Innenhof. In der Mitte befand sich ein großes Beet, ungepflegt und voller Unkraut. Das Haupthaus des Palazzo dahinter war höher als die drei anderen Flügel. Die gleichen Stuckverzierungen, Eisenbalkone und Bildhauereien wie an der Außenfassade. Zwei breite Steintreppen mit wuchtigen Geländern führten von rechts und links hinauf zum Haupteingang im ersten Stock. Ein Teil des halbrunden Portals stand offen.

Florinda erkundigte sich nach dem Flug und dem Umsteigen in Rom; sie selbst halte die ganze Prozedur für eine Zumutung, sagte sie. Rosa konnte nur zustimmen.

»Deine Schwester hat mir erzählt, dass du Vegetarierin bist«, sagte Florinda, während sie mit den beiden die Treppe zum Eingang hinaufstieg. Die Farbe der Türflügel war abgeblättert. Eine Eidechse huschte vor ihnen über das aufgeheizte Gestein und verschwand im Gebäude.

»Schon seit Jahren.«

»Ich kann mich nicht erinnern, schon mal von einem Alcantara gehört zu haben, der kein Fleisch mochte.«

»Immerhin mag irgendwer hier keine Vögel.«

Florinda schwieg, während sie die letzte Stufe nahm.

Zoe warf Rosa einen Seitenblick zu.»Florinda stört das Gezwitscher. Die Gärtner sind angewiesen alle Nester aus den Bäumen zu holen. Alle paar Wochen werden sie verbrannt, im Brunnenbecken, damit die Flammen nicht außer Kontrolle geraten können. Waldbrände sind hier ein ziemliches Risiko. Lass dich nicht von dem Grün in dieser Gegend täuschen. Im Sommer ist die ganze Insel ungeheuer trocken, erst recht wenn der Scirocco aus Afrika übers Meer bläst.«

»Scirocco?«

»Heiße Winde aus den Wüsten. Oft bringen sie Sand aus der Sahara mit sich.«Sie hob die Schultern.»Schlecht für die Haut.«

»Und die Nester –«

» Nur die Nester«, kam ihre Tante ihr zuvor.»Nicht die Vögel.«Jetzt setzte sie wieder ihr gewinnendes Lächeln auf.»Ich bin kein Unmensch.«

Sie betraten die Eingangshalle, die hoch und dunkel war und voller verblichenem Prunk. Florinda entschuldigte sich; sie müsse sich um die Vorbereitungen für das Abendessen kümmern. Offenbar kochte sie selbst. Vor acht Uhr, erklärte Zoe, nehme man auf Sizilien keine warme Mahlzeit zu sich.

Sie führte Rosa eine Steintreppe mit ausgetretenen Teppichstufen hinauf, dann durch lange Korridore in den rückwärtigen Teil des Haupthauses. Unterwegs begegneten sie keiner Menschenseele.

»Ich dachte, hier gibt es Angestellte.«

»Nicht viele«, sagte Zoe.»Florinda mag keine Fremden im Haus. Das war bei den Alcantaras offenbar schon immer so, auch bei unseren Großeltern und Urgroßeltern. Vormittags kommen ein paar Frauen aus dem Dorf hinter dem Berg zum Saubermachen, aber keine von denen lebt hier im Haus. Die beiden Gärtner sind für ein paar Stunden am Nachmittag da, aber das reicht kaum, um das Nötigste zu erledigen.«

»Vogelnester einsammeln?«

Zoe zuckte die Achseln.

Rosas Zimmer entpuppte sich zu ihrer Überraschung als heller, sonniger Raum, groß genug, um anderswo als Saal durchzugehen. Bis auf ein Himmelbett mit aufwendig geschnitzten Pfosten und eine antike Kommode mit marmornem Schminktisch war es leer. Eine Nebenkammer diente als begehbarer Kleiderschrank. Die Wände des Schlafzimmers waren mit alten Stofftapeten bedeckt. Neben der Tür hatte sich ein Stück gelöst, darunter kamen verblichene Malereien zum Vorschein.

»Dann will ich mal einräumen.«Mit großer Geste warf Rosa ihre Reisetasche in das Nebenzimmer, wo sie zwischen den leeren Regalwänden und Schränken liegen blieb.

Zoe redete ununterbrochen weiter. Von der Köchin, die manchmal allein kochte, oft aber auch nur Handreichungen erledigte, wenn Florinda sich persönlich der Zubereitung der Speisen widmete. Von dem Piloten des Helikopters, der in Piazza Armerina wohnte und eigentlich Automechaniker war. Und von den Wächtern, die in Florindas Auftrag durch die umliegenden Olivenhaine und Pinienwälder streiften.

»Das heißt, dass neunzig Prozent der Zimmer leer stehen, oder?«

»Eher fünfundneunzig. Nur nachts klingt es, als wären sie alle bewohnt. Es knackt und knirscht überall.«

Rosa flüsterte: »Das trostlose Erwachen des Opiumessers aus seinem Rausch … Vielleicht sollte ich mir die Fassade genauer ansehen und sichergehen, dass keine Risse darin sind.«

»Wie bitte?«

»Edgar Allan Poe. Der Untergang des Hauses Usher. Mit dem Erwachen des Opiumessers vergleicht der Erzähler das Gefühl, als er das Haus der Ushers zum ersten Mal vor sich sieht. Am Ende bricht der ganze Kasten auseinander … Schullektüre, Zoe. Kennst du nicht.«

Ihre Schwester kräuselte die Stirn.»Hier gibt’s jedenfalls keine Gespenster.«

»Madeleine Usher war kein Gespenst. Sie war scheintot und ihr Bruder hat sie lebendig begraben, bevor sie wieder aus ihrem Sarg gekrochen ist. Apropos: Wo ist die Familiengruft?«

Zoe betrachtete kritisch Rosas schwarz lackierte Fingernägel.»Du stehst noch immer auf diesen Horrormist.«

Rosa berührte sanft ihre Hand.»Zeigst du mir Dads Grab?«

s

Eine Granitplatte, zwischen vielen anderen eingelassen in einer Wand der Toten. Keine Bilder, keine Blumen, nur ein steinernes Schachbrettmuster aus gemeißelten Namen.

Davide Alcantara. Nicht mal Geburts- oder Todestag.

Die Gruft befand sich in einer Kapelle, die an den Ostflügel des Anwesens grenzte. Es gab eine Verbindungstür zum Haupthaus, aber Rosa bat ihre Schwester, außen herum zurückzugehen.

Im Freien roch es nach Ginster und Lavendel. Der Palazzo lag an einem Hang, der nach Osten hin sanft anstieg. Jenseits der Kastanien erstreckte sich der Pinienwald bis zum Bergkamm hinauf. Die weiten Olivenhaine begannen hangabwärts auf der Westseite, unterhalb der Panoramaterrasse, und waren von hier aus nicht zu sehen.

Etwas zog Rosas Blick an der Kapelle nach oben. Eine gusseiserne Glocke war über dem Portal in einer Nische der Fassade angebracht, alt und krustig schwarz, als hätte sie im Feuer gehangen.

»Hat da drin mal ein Vogel genistet?«

»Florinda mag eben kein Zwitschern. Du magst keine Menschen. Was soll’s?«

»Jeder mag singende Vögel.«

»Sie nicht.«Zoe winkte ab.»Und das mit dem Singen sieht sie anders, glaub’s mir.«

Rosa blickte noch einmal zu der schweren Glocke hinauf, dann zum offenen Eingang der Grabkapelle.»Ich hab ihn gar nicht gekannt. Nicht so wie du.«

»Er war in Ordnung, glaube ich.«

»Warum hat er dann Mom geheiratet?«

»Sie ist nicht so schlimm, wie du denkst.«

»Du warst nicht dabei.«

Zoe senkte den Blick.»Nein, war ich nicht. Tut mir leid.«Sie schwieg einen Moment.»Ich hätte dir helfen müssen.«Aber es klang, als wäre sie noch immer froh darüber, dass sie damals weit weg gewesen war.

Rosa nahm Zoe bei der Hand.»Komm, zeig mir die Umgebung.«

Gemeinsam umrundeten sie den Palazzo unterhalb der Kastanien. Zwischen den Bäumen sahen sie die schimmernden Scheiben eines Palmenhauses, das als lang gestreckter Glasfinger aus der Rückwand des Anwesens ragte. Rosa hatte es schon vorher bemerkt, von ihrem Zimmer aus; es lag genau unter ihrem Fenster.

An der Westseite, in den Ausläufern der Olivenhaine weiter unten am Hang, begegneten sie weder den Gärtnern noch den Wächtern des Anwesens. Rosa lief benommen, wie auf Watte, aber sie wusste, wenn sie sich jetzt ins Bett legte, würde sie nicht schlafen können.

»Florinda will, dass wir sie morgen begleiten«, sagte Zoe.

»Wohin?«

»So eine offizielle Sache. Familienpolitisch gesehen.«

»Eine Bank ausrauben?«

Eine steile Falte erschien zwischen Zoes Brauen.»Ich hab doch gesagt, damit haben wir nichts zu tun.«

»Wir kassieren nur Abgaben von denjenigen, die in unserem Gebiet die Verbrechen begehen, richtig?«

»Viele Geschäfte sind mittlerweile, na ja, sagen wir: halb legal. Weißt du, womit Florinda Jahr für Jahr ein kleines Vermögen verdient? Mit Windrädern. Überall in den Bergen, auf ganz Sizilien, lässt sie durch eine ihrer Firmen Windräder bauen, streicht Millionen an Fördergeldern aus Rom ein – und produziert nicht ein einziges Watt Strom. Die meisten drehen sich nicht mal im größten Sturm.«Als sie bemerkte, dass Rosa kaum noch zuhörte, seufzte sie.»Also, morgen, das ist eine Beerdigung. Alle müssen hin, jede Familie schickt ihre Vertreter. Einer der großen capi ist gestorben. Der Respekt verlangt, dass ihm alle die letzte Ehre erweisen, auch seine Feinde … Ehrenkodex, blablabla.«

»Seine Feinde?«, fragte Rosa.»Sind wir das?«

»Alcantaras und Carnevares sind sich seit jeher so was von spinnefeind. Aber es gibt eine Art Waffenstillstand, den niemand zu brechen wagt.«

Rosa blieb wie angewurzelt stehen.»Dieser Name.«

»Carnevare? Sie beerdigen morgen ihr Oberhaupt. Baron Massimo Carnevare.«

Die Watte unter Rosas Füßen gab ein Stück nach.

Familienangelegenheiten, hatte er gesagt.

 

 

Feindschaft

Sie schlief bis weit in den Vormittag hinein. Nach dem Frühstück im Speisesaal erkundete sie das Gebäude. Im ersten Stock, dem primo nobile mit seinen Salons voller ausgebleichter Wandfresken und einem staubigen Ballsaal, begegnete sie einer der Haushälterinnen, die stundenweise versuchten, des Staubs der Jahrhunderte Herr zu werden. Die Frau grüßte einsilbig und huschte in einen der anderen Räume.

Im zweiten Stock entdeckte sie am Ende eines langen Korridors Florindas Arbeitszimmer, einen weiten Saal mit dunklen Holztäfelungen. Es gab keine Tür, nur einen offenen Rundbogen, durch den sie geradewegs auf den Schreibtisch blickte. Ein schmiedeeiserner Balkon überschaute den Innenhof des Palazzo. Die Glastür stand offen. Draußen war es still, nur ein paar Zikaden zirpten in dem verwilderten Beet unten im Hof.

Auf einem Seitentisch stand ein Computer. Rosa schaute sich um, und weil niemand da war, den sie hätte um Erlaubnis bitten müssen, setzte sie sich vor den Monitor. Als sie die Maus bewegte, erwachte er zum Leben.

Von einer Torrentseite lud sie My Death auf Florindas Desktop und legte das Lied als Hintergrund auf ihre MySpace-Seite. Ihre Angaben hatte sie seit über einem Jahr nicht aktualisiert und ihre Freundesliste war so tot wie die Namen auf den Grabkammern der Familiengruft. Bei Facebook das Gleiche. Sie checkte Twitter und ihre Mails, fand ein paar von den Leuten, mit denen sie sporadisch übers Netz kommunizierte – und nur übers Netz –, hatte aber keine Lust zu antworten und schloss das Programm gleich wieder. Anschließend zog sie die Musikdatei in den Papierkorb und leerte ihn.

Sie wollte gerade aufstehen und sich weiter im Palazzo umsehen, als ihr etwas einfiel. Sie öffnete abermals ihre MySpace-Seite, suchte in ihrem Profil und stieß auf den Satz»Wäre gern so selbstbewusst wie meine Schwester«. Es fühlte sich an, als hätte sie ihn vor hundert Jahren geschrieben, und sie erwog ihn zu löschen, zusammen mit all dem anderen Unsinn, der nichts mehr mit ihr zu tun hatte. Aber dann kam es ihr vor, als würde sie damit einen ganzen Menschen ausradieren, ihr altes Ich, die frühere Rosa von vor einem Jahr und davor.

Es war albern und kindisch, aber sie brachte es nicht über sich, ihr Profil einfach auszukehren wie ein Zimmer, das zu lange nicht mehr betreten worden war. Die Tür dorthin würde sie nie wieder öffnen. Zugleich faszinierte sie etwas daran: Rosa, wie sie früher einmal war, würde im Internet weiterexistieren, als hätte sich nichts geändert. Als wäre die Welt nicht für einen Moment stehengeblieben, um sich dann in eine ganz neue Richtung zu drehen.

Während Scott Walker vom Tod sang, starrte sie die Angaben einer Fremden an und ein Foto, auf dem sie sich alle Mühe gab, melancholisch und tiefgründig auszusehen. Mit einem Kopfschütteln ließ sie alles, wie es war, schloss den Browser ein zweites Mal und hatte das Gefühl, sich selbst gerade tief im Netz zu begraben, unter einer Granitplatte ohne Todestag.


Дата добавления: 2015-11-04; просмотров: 25 | Нарушение авторских прав







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